|
|
|
Teil 9: Von 1830 bis 1850
Deutsche Revolution | Neues Selbstbewußtsein der Katholiken
Aufatmen in
Kevelaer: 1833 veranlasst der preußische Kronprinz und spätere König
Friedrich Wilhelm IV., dass sich die Kevelaer-Wallfahrer nicht mehr
ausweisen und prüfen lassen müssen. Bei einem Besuch in der Marienstadt
verspricht er, Reisebeschränkungen aufzuheben, denn die Pilger seien
„nicht gefährlich“. Der Prinz hält Wort, als er nach Berlin
zurückgekehrt ist.
Als gefährlich stuft der preußische Staat die Schriften von Heinrich
Heine ein. Sie werden 1835 in Deutschland verboten. Einzelne Werke des
Dichters der „Wallfahrt nach Kevlaar“ werden 1836 auch auf den „Index
librorum prohibitorum“ gesetzt, die Liste verbotener Schriften der
Katholischen Kirche.
Das kirchliche Verbot wird weit über Heines Tod - 1856 - Bestand haben: Erst 1967 wird es aufgehoben werden - durch generelle Abschaffung der päpstlichen Bücher-Ächtung.
Heinrich Heine.
1837 wird der Münsteraner Weihbischof Clemens August Droste zum Bischof
von Köln berufen. Er hebt Anfang November das Verbot größerer
Wallfahrten seines Vorgängers auf. Längere Pilgerreisen seien ein „sehr
zweckmäßiges Mittel, die religiöse Gesinnung zu beleben“. Ein Jahr
später erneuert der Düsseldorfer Regierungspräsident sein Verbot von
übernachtenden Prozessionen.
Im Jahr 1835 feiern Christen im Bereich des Bistums Roermond das
400-jährige Jubiläum ihrer Marienverehrung, und Kevelaer, Jahrhunderte
lang einer der wichtigsten marianischen Mittelpunkte dieses Bistums,
feiert mit. Allein an den beiden Tagen 15. August und 8. September
halten sich in Roermond rund 200.000 Pilger auf.
Es ist die Zeit der
Erneuerung des Katholizismus nach der Franzosenzeit. Formen „intensiver
Gefühlsfrömmigkeit“, die beispielsweise bei Wallfahrten zum Tragen
kommen, leben auf und finden breiten Zuspruch. Beginnend in Frankreich
und Italien, sind sie seit etwa 1840 in ganz Europa verbreitet. Die
Gottesmutter steht als Immaculata im Zentrum der „neuen“
Marienfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts.
Die Neubesinnung auf „letzte Fragen“ wirkt sich auch auf das diesseitige
Leben aus. In Deutschland schließen sich ab 1840 Frauen in Pfarreien zu
Elisabethkonferenzen zusammen, die sich der Familienfürsorge,
Altershilfe und Armenpflege widmen. Ihr Vorbild ist die hl. Elisabeth
(1207 - 1231), Tochter des Ungarn-Königs Andreas II., die sich dem
selbstlosen Krankendienst hingegeben hat.
Die Erneuerung katholischen Lebens in Deutschland wird 1840 durch die
Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. begünstigt, der um Ausgleich mit
der katholischen Kirche bemüht ist und ihr wieder mehr Eigenständigkeit
einräumt.
Es ist das Jahr, in dem das aufstrebende Kevelaer 2.400 Einwohner zählt.
Am 10. November wird
>
Franz Hermann Bercker in Kevelaer als jüngstes Kind
seiner Eltern geboren, der Gründer der späteren
>
Buchbinderei und
Druckerei und des Verlages Bercker.
Am Niederrhein findet der erstarkte, marianisch geprägte Katholizismus
seine Entsprechung im Jubelfest zum 200-jährigen Bestehen der Wallfahrt,
das vom 1. Juni bis 18. September 1842 in Kevelaer gefeiert wird. Im
Mittelpunkt steht die Marientracht, bei der das Gnadenbild durch die
Stadt getragen wird, so wie es alle 50 Jahre geschieht. Mehr als 200.000
Gläubige und 248 Prozessionen ziehen in diesem Jubeljahr zum
Kapellenplatz.
Der preußische Staat hält sich zurück. Nur „in Fällen dringender
Notwendigkeit und unter Beobachtung der äußersten Behutsamkeit und
Schonung religiöser Gefühle“ dürfen „polizeiliche Maßnahmen“ ergriffen
werden, ordnet Anfang Juli der rheinische Oberpräsident an.
In Kevelaers erster Wallfahrtskirche, der Kerzenkapelle, baut der
Kevelaerer Wilhelm Rütter eine Orgel ein, die ein Jahr später vollendet
wird. In Kleve wird 1845 das Kurzentrum um das Friedrich-Wilhelm-Bad
erweitert. J. W. van den Wyenbergh gründet im selben Jahr das erste
>
Paramentenatelier in der Wallfahrtsstadt.
1846 wird die Schuhfabrik Bergmann gegründet, die später von
>
Theodor
Bergmann, dem Dichter des
>
Kevelaerer Heimatliedes, geführt werden wird.
Am 16. November 1842 wird Max August Graf von Loe Bürgermeister der
Gemeinde Weeze. Dann geht eine Nachricht um die Welt: Am 19. September
ist in La Salette, einem Bergdorf nahe Grenoble, die Gottesmutter zwei
Kindern erschienen.
Das deutsche „Schicksalsjahr“ 1848 bricht an, in dem die Deutschen eine
Revolution versuchen.
In Goch auf Gut Lempt stirbt am 23. Januar Anna Maria op gen Hoff,
gebürtig aus Winnekendonk, die Taufpatin von
>
Arnold Janssen, des
späteren Gründers der Steyler Missionare.
Im Februar publizieren die beiden deutsche Journalisten Karl Marx und
Friedrich Engels im belgischen Exil ein Pamphlet: „Ein Gespenst geht um
in Europa - das Gespenst des Kommunismus“. Aber nicht von Kommunisten,
sondern vom aufbegehrenden Bürgertum droht dem Staat Gefahr, denn die
Idee von einem demokratischen und geeinten Deutschland verbreitet sich
wie ein Lauffeuer durch die Länder. In der Frankfurter Paulskirche wird
eine Reichsverfassung beschlossen, die ihrer Zeit weit voraus ist und
erst 1919 - als Vorbild für die Weimarer Reichsverfassung - und 1949 -
als Vorbild für das Grundgesetz - zum Tragen kommt.
Friedrich Wilhelm IV. öffnet ein Ventil und hebt am 17. März 1848 die
Pressezensur auf, was auch in Städten des Niederrheins Freudentaumel
auslöst.
Der Pegel der Meinungen in Deutschland schlägt aber nicht zur Demokratie
aus, sondern zur parlamentarischen Monarchie mit dem Preußen-König
Friedrich Wilhelm IV. als Erbkaiser an der Spitze. Und selbst das
misslingt, denn der König weist am 28. April 1849 eine demokratisch
legitimierte Kaiserkrone als „Hundehalsband“ zurück und antwortet mit
militärischer Gewalt gegen die „Aufrührer“. Mit der Einführung des
Dreiklassenwahlrechts am 30. Mai 1849 wird der demokratischen Bewegung
das Lebenslicht ausgeblasen. Die „unteren Volksschichten“ und damit
besonders viele Katholiken in Preußen werden durch das neue Wahl system
erheblich benachteiligt. Am 23. Juli 1849 bricht mit der Kapitulation
der Aufständischen in Rastatt die deutsche Revolution von 1848 restlos
zusammen.
Fromme Menschen aus dem Essener Stadtteil Byfang erleben diese Zeit
buchstäblich mit anderen Augen. Seit 1837 ziehen sie jährlich zu Fuß
nach Kevelaer. Während dieser Wallfahrt, es ist das Jahr 1850, kommt an
einer Stelle zwischen Wetten und Kevelaer Unruhe in die Pilgergruppe.
Der blinde Pilger Johannes Weidenbach kann auf einmal, so sagt er,
wieder sehen. An dieser Stelle wird später ein Kreuz aufgestellt.
1851 beantragt der Kommerzienrat Haniel die Konzession zur Gewinnung von
Steinkohle und Eisenstein für ein linksrheinisch gelegenes Grubenfeld,
das er „Rheinpreußen“ nennt, und lässt im selben Jahr die Bohrung
beginnen. In Wachtendonk konstituiert sich am 22. Oktober eine Gruppe,
die sich als
>
„Historischer Verein für Geldern und Umgegend“ bezeichnet.
>
Joseph van Ackeren, der spätere Wallfahrtsrektor, wird 1853 zum Priester
geweiht. Es ist das Jahr, in dem
>
Mathias Marx, der Vater der
>
Geselligen
Vereine Kevelaer, das Licht der Welt erblickt. Ein Jahr danach gründet
der Bischof von Münster, Johann Georg Müller, in Kevelaer als Nachfolger
der Oratorianer eine Kongregation von Weltpriestern (>
Canisianer), die er
mit der Seelsorge und Verwaltung der Wallfahrt betraut. Er regt 1854 den
Bau der
>
Beichtkapelle und wenig später den der
>
Marienkirche, der
heutigen Basilika, an. Am 16. Mai 1854 wird
>
Johann Bernard Brinkmann,
der spätere Bischof, zum Hüter des Heiligtums nach Kevelaer berufen.
Dann kommt der 8. Dezember 1854. In der katholischen Welt sind alle
Antennen nach Rom ausgerichtet. Für die Marienverehrung, die in Europa
und weltweit aufgeblüht ist wie kaum jemals zuvor, steht ein Ereignis
von größter Bedeutung bevor: Papst Pius IX. verkündet das Dogma von der
Unbefleckten Empfängnis Mariens. Es bedeutet, dass Maria als einziger
Mensch schon zum Zeitpunkt ihrer Zeugung im Leib ihrer Mutter (Anna)
ohne Erbsündenlast gewesen ist.
Das Dogma steht nicht am Ende, sondern am Beginn eines marianischen
Jahrhunderts, das von Erscheinungserlebnissen in den Dimensionen von
>
Lourdes oder
>
Fatima geprägt werden wird.
Aus: Martin Willing, 2000 Jahre Kevelaerer Heimat, KB-Beilage 1999/2000
Teil 1:
>
Von 0 bis 1300 |
Wir
Gallier | Wie alles anfing
Teil 2:
> Von 1300 bis 1350 |
Grundstück verkauft | Erste Zeugnisse für Kevelaer
Teil 3:
> Von 1300 bis 1500
|
Hauen und Stechen | Die Grafen und Herzöge des Gelderlands
Teil 4:
> Von 1550 bis 1635
|
Freiheitskampf | Die Zeit bis zum Kroaten-Massaker
Teil 5:
> Von 1635 bis 1642
|
Mord und Totschlag | Das Chaos vor Entstehung der Wallfahrt
Teil 6:
> Von 1643 bis 1714
|
Wir Preußen | Als König Wilhelm kam
Teil 7:
> Von 1715 bis 1805
|
Wir Franzosen | Geist der Aufklärung
Teil 8:
> Von 1800 bis 1830
|
Napoleons Ende | Die Rückkehr der Preußen
Teil 9:
> Von 1830 bis 1850
|
Deutsche Revolution | Neues Selbstbewußtsein der Katholiken
Teil 10:
> Von 1850 bis 1875
| Abschied vom Mittelalter | Auflösung des Kirchenstaats
Teil 11:
> Von 1875 bis 1878
|
Kulturkampf | ... und sein Ende
Teil 12:
> 1879 |
Zeitung | Gründung des Kävels Bläche
Teil 13:
> 1880 bis 1881
| Vom Brand bis Wochenmarkt | Zwei Jahre mit großen Veränderungen
Teil 14:
> 1880 bis 1890
| Kaiser Wilhelm | Aufbruchzeiten
Teil 15:
> 1890 bis 1900
|
Aufschwung | Kevelaers Wirtschaft boomt
Teil 16:
> 1900 bis 1919
|
Das Ende von Preussens Gloria | Kevelaer und der Erste Weltkrieg
Teil 17:
> 1920 bis 1930
|
Hilfe aus der Not | Kevelaer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs