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Teil 7: Von 1715 bis 1805
Wir Franzosen | Geist der Aufklärung
In Preußen,
zu dem unsere Heimat seit drei Jahren gehört, wird 1717 die allgemeine
Schulpflicht eingeführt. Das ist der Anfang durchgreifender
Verwaltungsreformen, die König Friedrich Wilhelm I. (1713 - 1740)
durchsetzt.
Die Zeiten sind voller Gegensätze. Neben Geldern, der alten
Garnisonsstadt mit Tausenden von - meist nicht willkommenen -
soldatischen Besuchern Tag für Tag, entwickelt sich das bis dahin
unbedeutende Landdörfchen Kevelaer zu einem Zentrum für - meist
willkommene - pilgernde Gäste. Geldern wird in den nächsten Jahren
wieder aufgebaut, Kevelaer dagegen, wo bisher „nichts gewesen ist“,
entsteht quasi erst - mit Aufblühen der Wallfahrt, die das Handwerk und
Kunsthandwerk, den Devotionalienhandel und vor allem das Gastgewerbe
beflügelt. Etwa ein Dutzend Verkaufsbuden und Krämerläden umgeben den
Kapellenplatz. Fünf Wein-, 21 Bier- und 15 Schnaps-Schenken gehören zur
Infrastruktur (1764).
Am 26. Juli 1738 kommt König Friedrich Wilhelm I. erneut nach Kevelaer,
diesmal in Begleitung zweier Söhne. Der Wallfahrtsort wird in diesem
Jahr von 150 Prozessionen besucht; einige davon sind bis zu 2000
Teilnehmer stark. 1742, als das 100-jährige Bestehen der Wallfahrt
gefeiert wird, sind an einigen Tagen 30.000 bis 40.000 Pilger im Ort. Am
2. Juli, Mariä Heimsuchung, strömen so viele Menschen zur Gnadenstätte,
dass ihre Karren und Kutschen weit vor Kevelaer geparkt werden müssen.
Im selben Jahr wird am Klever Springenberg eine Quelle mit
mineralhaltigem Wasser entdeckt. Kleve, das nun Kurort wird und sich
voller Hoffnung ausbaut, begrüßt seine ersten 85 Kurgäste. 1914 wird die
Quelle versiegen, und es wird vorbei sein mit der Kurstadt Kleve. Am 22.
April 1747 entsteht in Kevelaer eine lateinische Privatschule.
Nach der ersten Preußen-Epoche, die 1740 mit dem Tod des Königs endet
und den Menschen am Niederrhein immerhin eine Generation lang Frieden
beschert hat, provoziert sein Nachfolger Friedrich II. (1740 - 1786),
der den Zusatz „der Große“ erhalten wird, den Ausbruch des
Siebenjährigen Krieges (1756 - 1763). Der Preußen-König überfällt und
annektiert Schlesien, worauf sich die anderen europäischen Großmächte,
darunter Frankreich, zur Rückeroberung verbünden.
König Friedrich II.
1757 marschiert eine französische Armee in Richtung Niederrhein und
schließt die Festungsstadt Geldern ein, die im August kapituliert. Am
10./11. November brennt - womöglich durch ein Unglück - die Burg
Kervenheim ab, deren vorderer Teil nicht mehr aufgebaut werden wird. Der
halbe Ort geht in den Flammen auf, von der Hagschen Pforte bis zur
Mühle. Im selben Jahr wird in Kevelaer die Bruderschaft der Consolatrix
afflictorum gegründet.
Die Französischen Besatzer pressen die Einheimischen durch Steuern und
Abgaben vollkommen aus. Die Bürger müssen Tausende von Soldaten
beherbergen und beköstigen - allein Kevelaer einige hundert Mann. Nicht
einmal ein Drittel der geforderten Kriegsschuldzahlungen können die
Gemeinden aufbringen. Sie stehen vor dem Ruin.
Nach Friedensverhandlungen wird die Festung Geldern am 12. März 1763 an
Preußen zurückgegeben - ebenso wie Kleve und Moers. Das Gelderland, nun
wieder preußisch, ist wirtschaftlich völlig ausgelaugt. Weil Geldern für
Preußen keine strategische Bedeutung mehr hat, lässt Friedrich der Große
1764 die Festung schleifen. Von Januar bis April brechen täglich 300
Mann die Garnisonseinrichtungen ab - ein Segen für die Region, denn
damit endet der Fluch, dass Geldern Begehrlichkeiten anderer Mächte
weckt. Am 15. Oktober 1770 erhält Nicolaus Schaffrath vom Preußenkönig
das Privileg, eine „Lettern-Gießerey und Buchdruckerey in der Stadt
Geldern“ einrichten zu dürfen.
In Frankreich bricht sich der Geist der Aufklärung Bahn. Der Ruf von
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ leitet das Ende des Barock
ein. Das Staatsgefängnis, die Bastille, wird am 14. Juli 1779 gestürmt,
und mit der Proklamation der Menschenrechte am 20. August beginnt das
neue Zeitalter, das sich zunächst in den blutigen Niederungen der
Französischen Revolution verliert.
Nach der Niederlage der Österreicher bei Jülich gegen die Franzosen
(1794) ziehen sich die österreichischen und preußischen Verbündeten vom
linken Rheinufer zurück. Der Niederrhein fällt schutz- und kampflos an
die Franzosen. Geldern wird 1794 eingenommen.
Die radikalen Verbote gegen die katholische Kirche und ihren Kult
beschweren die Menschen. Christliche Begräbnisse sind in der sogenannten
Franzosenzeit (1794 - 1814) ebenso untersagt wie Glockengeläut. Die
Wallfahrt wird vorüber gehend verboten. Zu keiner Zeit hat Kevelaer so
wenige Pilger gesehen wie von 1795 bis 1799. Aus Angst vor den Franzosen
verbergen die
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Oratorianer das Gnadenbild im Turm der
St.-Antonius-Pfarrkirche. Die Sorge ist nicht unbegründet: 1801 wird das
besetzte Rheinland mit dem französischen Staat vereinigt. Kevelaer ist
französisch.
Die Landkarte Europas verändert sich radikal. Die kirchlichen
Fürstentümer im einstigen Heiligen Römischen Reich verschwinden, und
eine durch und durch säkularisierte Verwaltungsstruktur ersetzt das
überkommene feudale System. Auch wenn der Pragmatiker Napoleon den
schärfsten Neuerungen später die Spitze nimmt, wird durch die
Säkularisierung (1802) die Kirche regelrecht entleibt: Sie verliert
ihren weltlichen Besitz, ihre absolutistischen Beherrschungsinstrumente
und ihre politische Macht. Aber sie gewinnt - was erst die Nachschau
erkennen lässt und ein ungewolltes Ergebnis der Französischen Revolution
ist - ihre Spiritualität zurück.
Kevelaer und Geldern, seit Jahrhunderten zum Bistum Roermond gehörend,
werden 1802 dem neu gegründeten Bistum Aachen zugeschlagen. Im selben
Jahr wird das Oratorium, das Kloster, das wir heute als Priesterhaus
kennen, aufgelöst; die Patres werden vertrieben. Die Gnadenkapelle wird
- freilich nur für einen Tag - amtlich geschlossen; ab 1806 wird sie
zusammen mit der Kerzenkapelle für den öffentlichen Gottesdienst wieder
freigegeben.
Mit Abschaffung des Monopols der Oratorianer, die die Produktion und den
Handel mit Devotionalien kontrolliert haben, und mit Einführung der
allgemeinen Gewerbefreiheit legt Napoleon den Grundstock für das in
Kevelaer aufblühende Andenkengewerbe, auf das sich ein Teil der
heimischen Wirtschaft bis heute stützt. Eine der ersten Kevelaerer
Neugründungen in der Franzosenzeit ist der Laden des Haus- und
Taschenuhrenanbieters
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W. M. Pauli in der Amsterdamer Straße (1804).
Am 13. September 1804 reist Kaiser Napoleon durch Geldern nach Rheinberg
und besichtigt den unvollendeten Kanal Fossa Eugeniana.
Was die Franzosen nicht geschafft haben, erreicht 1805 ein verheerendes
Brandunglück auf der Nordseeinsel Nordstrand: Kevelaers kirchliche
Kunstschätze, die 1794 dorthin in Sicherheit gebracht worden sind,
werden ein Raub der Flammen.
Aus: Martin Willing, 2000 Jahre Kevelaerer Heimat, KB-Beilage 1999/2000
Teil 1:
> Von 0 bis 1300 |
Wir
Gallier | Wie alles anfing
Teil 2:
> Von 1300 bis 1350 |
Grundstück verkauft | Erste Zeugnisse für Kevelaer
Teil 3:
> Von 1300 bis 1500
|
Hauen und Stechen | Die Grafen und Herzöge des Gelderlands
Teil 4:
> Von 1550 bis 1635
|
Freiheitskampf | Die Zeit bis zum Kroaten-Massaker
Teil 5:
> Von 1635 bis 1642
|
Mord und Totschlag | Das Chaos vor Entstehung der Wallfahrt
Teil 6:
> Von 1643 bis 1714
|
Wir Preußen | Als König Wilhelm kam
Teil 7:
> Von 1715 bis 1805
|
Wir Franzosen | Geist der Aufklärung
Teil 8:
> Von 1800 bis 1830
|
Napoleons Ende | Die Rückkehr der Preußen
Teil 9:
> Von 1830 bis 1850
|
Deutsche Revolution | Neues Selbstbewußtsein der Katholiken
Teil 10:
> Von 1850 bis 1875
| Abschied vom Mittelalter | Auflösung des Kirchenstaats
Teil 11:
> Von 1875 bis 1878
|
Kulturkampf | ... und sein Ende
Teil 12:
> 1879 |
Zeitung | Gründung des Kävels Bläche
Teil 13:
> 1880 bis 1881
| Vom Brand bis Wochenmarkt | Zwei Jahre mit großen Veränderungen
Teil 14:
> 1880 bis 1890
| Kaiser Wilhelm | Aufbruchzeiten
Teil 15:
> 1890 bis 1900
|
Aufschwung | Kevelaers Wirtschaft boomt
Teil 16:
> 1900 bis 1919
|
Das Ende von Preussens Gloria | Kevelaer und der Erste Weltkrieg
Teil 17:
> 1920 bis 1930
|
Hilfe aus der Not | Kevelaer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs