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Teil 13: 1880 bis 1881
Vom Brand bis Wochenmarkt | Zwei Jahre mit großen Veränderungen in
Kevelaer
Auch zu
Beginn des Jahres 1880 steht vor dem beschlagnahmten
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Priesterhaus
ständig ein Polizeiposten, argwöhnisch beobachtet von Kevelaerer
Bürgern, die ein Auge darauf halten, ob sich jemand an Einrichtungen des
Priesterhauses vergreift. Zur Jahreswende 1879/80 erregt eine
aufgefundene Bettdecke Verdacht und Gemüter der Bevölkerung: Die Decke
stammt aus dem Bettzeug, das im großen Klostersaal aufgehäuft ist.
Sofort wird Anzeige erstattet. Tatsächlich, so wird ermittelt, ist das
im Saal gehortete Bettzeug nicht mehr vollständig.
Aber man findet Wäschestücke in dem verwaisten Kloster wieder: Bettlaken
liegen auf verschiedenen Treppen, auf dem Söller, sogar auf den
Toiletten herum. Einbrecher sind hier gewesen - nicht bemerkt von dem
wachhabenden Polizisten. Zwei besonders wachsame Bürger trauen der
Behörde nicht und stellen auf eigene Faust Nachforschungen über den
vermeintlichen Diebstahl an. Sie steigen nachts in das Kloster ein,
lehnen sich aber unvorsichtigerweise so weit aus dem Söllerfenster über
der Beichtkapelle hinaus, dass sie von einem gerade unten stehenden
Polizeibeamten entdeckt und erkannt werden.
Der Vorfall heizt die Gerüchteküche an - da trifft die wichtigste
Nachricht des Jahres ein: In Leipzig hat gerade das Reichsgericht in
einem Musterprozess die Ansprüche des Staates auf Kirchenbesitz
abgewiesen - ein Grundsatzurteil von weit reichender Bedeutung: Der
preußische Staat darf nicht länger die Kirchengüter, die Anfang des 19.
Jahrhunderts unter französischer Regierung konfisziert worden sind und
die er den Kirchen lediglich zur Nutzung überlässt, als seinen Besitz
betrachten. Die Kirchen sind in Wirklichkeit die rechtmäßigen
Eigentümer. Sämtliche Beschlagnahmungen, die auf Grund des Gesetzes vom
22. April 1875 auch im Rheinland verfügt und durchgesetzt worden sind,
werden vom Reichsgericht als nicht gerechtfertigt erklärt. Das
höchstrichterliche Urteil ist endgültig.
Für Kevelaer bedeutet es: Das Priesterhaus, dessen erste Beschlagnahme
im Kulturkampf durch Besitzübertragung vom Bistum Münster auf die
Kevelaerer Pfarrgemeinde verhindert worden ist, gehört nun auf der
Grundlage dieses höchstrichterlichen Urteils zum Besitz der
St.-Antonius-Pfarrgemeinde. (Mit der Pfarrteilung zum 1. Januar 1956
wird es an die St.-Marien-Pfarrgemeinde übergehen.) Aber das ist nur die
Theorie. In der Praxis bedeutet das Urteil noch lange nicht, dass das
alte Oratorianer-Kloster wieder der Wallfahrtsleitung zur Verfügung
steht.
Die beiden angesehenen Bürger, die beim Einstieg ins Priesterhaus
erwischt worden sind, werden verhört und bleiben unbehelligt:
„Unschuldiger Eifer“ habe bei ihnen vorgelegen. Damit sei der Fall
erledigt.
Im Bereich des Kevelaerer Friedhofs steht ein altes, verwittertes Kreuz.
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Wilhelm Brügelmann, der protestantische Bürgermeister in der
Marienstadt, lässt es im Jahr 1880 als Verwalter des Armenvermögens, zu
dem das Grundstück gehört, durch eine Kreuzigungsgruppe ersetzen, die in
der Werkstatt des Kölner Bildhauers E. Renard geschaffen worden ist. Zu
diesem Zeitpunkt ist die dort wachsende Linde bereits rund 200 Jahre
alt.
Eine Reihe von neuen Geschäften belebt die Innenstadt Kevelaers.
Ferdinand Hammans zeigt am 31. Januar 1880 der Bevölkerung im Kävels
Bläche an, dass er sich im Hause des Uhrmachers Hermann Gruyters
niedergelassen habe: „Empfehle ein reichhaltiges Lager in gold. und
silb. Anker- und Cylinder-Uhren, Remonteur-Regulateuren, und
Schwarzwälder-Uhren zu billigen Preisen. Reparaturen werden schnell und
solide ausgeführt.“
Kevelaers Bäcker bilden Anfang Februar ein Preiskartell und legen fest,
dass sie künftig für das Backen von Wecken statt 10 nun 15 Pfennig
verlangen. Ferner sollen in Zukunft acht Brötchen 25 Pfennig und 60
Stück Zwieback 50 Pfennig kosten.
Derweil schicken Glasmaler aus dem ganzen Reich Modelle für Fenster der
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Marienkirche nach Kevelaer. Sie werden in der Beichtkapelle ausgestellt,
und interessiert nehmen die Bürger Anteil an dem Auswahlverfahren. Die
große Ausgestaltung der heutigen Basilika steht bevor.
Am 24. Juni schlägt abends um halb zehn der Blitz in den Turm der
St.-Antonius-Kirche ein. Die Turmspitze gerät in Brand, den
niederprasselnder Regen dämpft. Zwei der acht eichenen Balken, die sich
in der Spitze vereinigen, werden vom Blitz gespalten und
fortgeschleudert, so daß sie den Schornstein über der Sakristei
zertrümmern und die Kirchhofsmauer teilweise beschädigen. Teile der
Bleibekleidung des Turmhelms findet man in der Gegend verstreut; einige
Bleistücke haben die Ziegeldächer benachbarter Häuser durchschlagen. Das
Turmkreuz steht noch, der abgesprengte Hahn aber liegt demoliert auf der
Erde. Zu zwei Dritteln ist die Schiefereindeckung des Turms verloren.
Glocken und Uhrwerk sind unbeschädigt. Der Turm soll im Laufe des Jahres
zum größten Teil abgetragen und erhöht wieder aufgebaut werden.
Was auf der internationalen Bühne als wertvolles Signal zur Versöhnung
zwischen Kirche und Staat interpretiert wird, stößt in Deutschland
vielen Katholiken vor den Kopf: Bismarck, der Herr des Kulturkampfes
gegen die Kirche, wird von Papst Leo VIII. mit dem höchsten Orden, den
der Papst an Laien zu vergeben hat, ausgezeichnet - mit dem
Christusorden. Der Papst denkt dabei politisch und revanchiert sich mit
dieser Ehrung dafür, dass der deutsche Kanzler ihn während einer
außenpolitischen Krise zum Schiedsrichter berufen hat, was für den
„Gefangenen im Vatikan“ bedeutet: Der Papst ist als anerkannter Souverän
in die Weltpolitik zurückgekehrt.
In den Niederungen des alltäglichen Umgangs der protestantisch geprägten
Regierung mit der durchweg katholischen Bevölkerung im Rheinland geht
der kulturkämpferische Kleinkrieg, für den ein Fall aus Kervenheim
bezeichnend ist, weiter. Die Wohnung des evangelischen Pfarrers von
Kervenheim, vor elf Jahren „ganz nach den Wünschen des Predigers und
unter Berücksichtigung der Familien-Verhältnisse desselben eingerichtet
und restaurirt“, soll erneut verändert und vergrößert werden. Die
Zivilgemeinde ist gesetzlich dazu verpflichtet, solche Pfarrwohnungen zu
bauen und zu unterhalten. Der Gemeinderat lehnt den Antrag der
evangelischen Kirchengemeinde im Sommer 1880 einstimmig ab; die
Ausbauwünsche seien völlig überzogen. Sogar ein Badezimmer wolle der
Pfarrer haben. Regierung und Oberpräsidium sehen das anders und bestehen
darauf, dass das Pfarrhaus auf Kosten der Zivilgemeinde wie beantragt
ausgebaut wird - gegebenenfalls zwangsweise und gegen den Willen der
Ratsmitglieder.
Der Wiederaufbauplan des blitzgeschädigten Kirchturms von St. Antonius
Kevelaer entwickelt sich komplizierter als vermutet. Im September dieses
Jahres beginnen zwar die Restaurierungsarbeiten, aber der Plan, den
gemauerten Teil des Turms zu erhöhen und darauf den alten Turmhelm zu
heben, muss fallen gelassen werden.
Ins Stocken gerät das ältere und größere Turmprojekt von Kevelaer: Die
neue Marienkirche, die heutige Basilika, steht immer noch ohne Turm da.
Der Kirchenvorstand will zur Finanzierung den Holzbestand einer
Waldparzelle verkaufen, aber die Regierung interveniert: Das zu
verkaufende Holz dürfe frühestens zehn Jahre nach der Inspizierung durch
die Behörde geschlagen werden. Damit ist die Verwertung des kirchlichen
Holzbesitzes auf lange Zeit torpediert.
Nach wie vor hängt, trotz des Grundsatzurteils von Leipzig, die
Priesterhaus-Frage in der Luft. Seit Jahresanfang verhandeln Regierung
und Kirchenvorstand. Im September wird die Eigentumsfrage von der
Regierung - ein krasser Rechtsverstoß - als nach wie vor offen
bezeichnet. Die Kirche könne ja die Immobilie mit Garten vom Staat
pachten, allerdings nicht zur Nutzung durch Priester. Der Geistlichkeit
bleibe das Kloster verschlossen.
Derweil freut sich die katholische Bevölkerung in Wetten über
Restaurierung und Verschönerung ihrer St.-Petrus-Pfarrkirche, die im
Oktober 1880 abgeschlossen wird. Kirchenmaler Lang aus Aachen, bereits
in Straelen und Sonsbeck bewährt, hat die Wand über dem Triumphbogen am
Chorabschluß mit der Darstellung des jüngsten Gerichts ausgemalt. Am
vorletzten Tag des Jahres erfreut noch eine Nachricht die Wettener:
Polizei-Sergeant Winkels hat in einer Höhle den „Waldmenschen“
aufgespürt, der nachts die Gegend unsicher gemacht haben soll. Der
gebürtige Niederländer wird ins Klever Gefängnis gebracht.
Und eine weitere Räuberpistole beschäftigt die Öffentlichkeit um diese
Zeit: Ende Januar 1881 hat Kevelaer zum St.-Antonius-Pfarrpatrozinium
gerade seine
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Kirmes gefeiert - nicht ganz so fröhlich wie sonst, weil
gerade die Löhne der Arbeiter in den Schuhfabrikationen erheblich
gekürzt worden sind. Nach zehn Uhr abends verlassen sechs Männer ein
Lokal in der Maasstraße und gehen in Richtung Kapellenplatz, als
plötzlich ein Schuss fällt. Die Kugel zertrümmert, kaum drei Schritte
von ihnen entfernt, eine große Schaufensterscheibe der Fa. W. und H. van
den Wyenbergh. In Todesangst fliehen die sechs Männer in alle
Himmelsrichtungen. Wer der Schütze gewesen ist und wem der Schuss
gegolten hat, wird nie herausgefunden.
Schützen ganz anderer Art treffen sich am 5. Februar 1881 in der
Gaststätte „Ossekopp“. Sie gründen einen neuen Schützenverein und nennen
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„Bürgerschützengesellschaft“. Bereits einen Monat später hat die
BSG 40 Mitglieder.
Es naht die Karwoche und mit ihr der
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große Brand von Kevelaer. Am 14.
April 1881 bricht gegen 1.30 Uhr auf der Dorfstraße Feuer aus, das in
kurzer Zeit zwei Scheunen zerstört und dann auf ein mit Reet gedecktes
Gartenhäuschen springt. Bei heftigem Südostwind erfassen die Flammen
Häuser an der Nordseite des Kapellenplatzes, wo vier Geschäftshäuser mit
sämtlichen Hintergebäuden eingeäschert werden, zwei weitere brennen im
Oberstock aus. Der Wind treibt das Feuer weiter: Fast die Hälfte der
Häuser an der heutigen Busmannstraße gehen zu Grunde, ein zweistöckiges
Haus in der Maasstraße brennt aus. Im Ganzen sind elf Gebäude und
mindestens so viele Scheunen und Stallungen zerstört, 14 weitere Gebäude
mehr oder weniger stark beschädigt. Ein Mann, Vater von vier Kindern,
kommt in den Flammen ums Leben.
Ungezählte Bürger der Gemeinde helfen und eilen mit Ledereimern, gefüllt
mit Löschwasser, herbei. Auf Handkarren werden Wasserfässer und andere
Gefäße herbeigerollt. Das Wasser wird aus den Nachbarpumpen geschöpft.
Der unzureichende Feuerschutz wird jedem Einwohner klar. Die
Verwüstungen sind zwar schon wenige Wochen nach dem Großfeuer weitgehend
aus dem Blickfeld, aber jetzt wird systematisch die Gründung einer
Feuerwehr vorbereitet, zu der es im Frühherbst 1885 auch kommen wird.
Der Brand eröffnet neue Möglichkeiten in ganz anderer Hinsicht. In
Kevelaer freut man sich schon auf die schöneren Gebäude, die nunmehr auf
den Ruinengrundstücken am Kapellenplatz gebaut werden können. Die
Küstereistraße [Busmannstraße] kann nach Abriss der ausgebrannten Häuser
verbreitert werden. Zwischen Kapellenplatz und Küstereistraße, wo die
Geschwister Meyvorts Besitz haben, soll ein Platz unbebaut bleiben -
Voraussetzung für den späteren Luxemburger Platz.
Dieser nun freie Bereich wird als großer Fortschritt empfunden, weil der
Kapellenplatz stark umbaut ist und, wie es in einem zeitgenössischen
Bericht des KB heißt, „allmälig fast unheimlich werden und ein düsteres
Gepräge bekommen [könnte], wenn von keiner Seite ein Blick in's Freie
möglich wäre. Wir bezeichnen es daher als einen sehr glücklichen Griff,
daß der Herr Pastor van Ackeren die Meyvort'sche Besitzung käuflich an
sich gebracht, und so dafür gesorgt hat, daß sie nicht in Privatbesitz
gelangt ist. Wir zweifeln nämlich nicht daran, daß der Ankauf dieser
Besitzung nicht für Privatzwecke erfolgt ist, und daß dieselbe früher
oder später in das Eigentum einer Corporation gebracht werden soll. Man
faselt zwar Allerlei über diesen Ankauf. Die Leute, welche solche
Faseleien in die Welt bringen, und an solche Schwätzereien glauben,
beurtheilen Andere und sich selbst, und können es nicht begreifen, daß
es auch Menschen auf Gottes Erdboden gibt, welche nicht bloß an das
eigene Interesse denken und nicht immer nur für den eigenen Geldsack
sorgen.“
Am Dienstag, 9. August 1881, erlebt Kevelaer eine Premiere: Um 8 Uhr
wird, genehmigt von der Königlichen Regierung, der Wochenmarkt eröffnet.
Am Tag darauf folgt um 13 Uhr der Fruchtmarkt.
„Wochenmärkte werden dann für die Folge regelmäßig an jedem Dienstag und
Freitag morgens 8 Uhr; Fruchtmärkte an jedem Mittwoch Mittags 1 Uhr
abgehalten werden“, verkündet die Gemeindeverwaltung in einer
ganzseitigen Anzeige als Amtliche Bekanntmachung im Kävels Bläche.
Aus: Martin Willing, 2000 Jahre Kevelaerer Heimat, KB-Beilage 1999/2000
Teil 1:
> Von 0 bis 1300 |
Wir
Gallier | Wie alles anfing
Teil 2:
> Von 1300 bis 1350 |
Grundstück verkauft | Erste Zeugnisse für Kevelaer
Teil 3:
> Von 1300 bis 1500
|
Hauen und Stechen | Die Grafen und Herzöge des Gelderlands
Teil 4:
> Von 1550 bis 1635
|
Freiheitskampf | Die Zeit bis zum Kroaten-Massaker
Teil 5:
> Von 1635 bis 1642
|
Mord und Totschlag | Das Chaos vor Entstehung der Wallfahrt
Teil 6:
> Von 1643 bis 1714
|
Wir Preußen | Als König Wilhelm kam
Teil 7:
> Von 1715 bis 1805
|
Wir Franzosen | Geist der Aufklärung
Teil 8:
> Von 1800 bis 1830
|
Napoleons Ende | Die Rückkehr der Preußen
Teil 9:
> Von 1830 bis 1850
|
Deutsche Revolution | Neues Selbstbewußtsein der Katholiken
Teil 10:
> Von 1850 bis 1875
| Abschied vom Mittelalter | Auflösung des Kirchenstaats
Teil 11:
> Von 1875 bis 1878
|
Kulturkampf | ... und sein Ende
Teil 12:
> 1879 |
Zeitung | Gründung des Kävels Bläche
Teil 13:
> 1880 bis 1881
| Vom Brand bis Wochenmarkt | Zwei Jahre mit großen Veränderungen
Teil 14:
> 1880 bis 1890
| Kaiser Wilhelm | Aufbruchzeiten
Teil 15:
> 1890 bis 1900
|
Aufschwung | Kevelaers Wirtschaft boomt
Teil 16:
> 1900 bis 1919
|
Das Ende von Preussens Gloria | Kevelaer und der Erste Weltkrieg
Teil 17:
> 1920 bis 1930
|
Hilfe aus der Not | Kevelaer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs