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Teil 10: Von 1850 bis 1875
Abschied vom Mittelalter | Auflösung des Kirchenstaats | Deutscher
Kulturkampf
Die
Kevelaerer beginnen sich unter preußischer Verwaltung einzurichten. Der
Staat bricht in Privilegien der Kirche ein und übernimmt beispielsweise
die Schulerziehung in seine Verantwortung. Die in katholischer Tradition
verwurzelten Eltern schicken ihre Kinder nun in eine „Staatsschule“ - in
die Marktschule, die 1848 gebaut worden ist - etwa dort, wo heute das
neue Rathaus steht.
Katholisches Selbstbewußtsein in Kevelaer drückt sich anders aus. Der
1858 von dem Kölner Diözesanbaumeister Vincenz Statz begonnene Bau der
neugotischen Wallfahrtskirche und heutigen
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Basilika ist ein starkes
Symbol für die Entschlossenheit der Katholiken, sich im Europa der
radikalen Brüche und tiefen Einbrüche zu behaupten.
Das katholische Milieu wehrt sich kraftvoll gegen den Staat, als
beispielsweise der preußische Kultusminister gegen die Jesuiten vorgeht
(1852), unterschätzt aber das Ausmaß der bevorstehenden politischen und
kirchlichen Veränderungen, die im Verlust des Kirchenstaates (1870)
gipfeln.
Nach Verkündigung des Mariendogmas von der Unbefleckten Empfängnis am 8.
Dezember 1854 durch Pius IX. bilden sich allerorten Marienvereine, so
auch in Kevelaer. Hier wird 1855 die Marianische Jünglings-Sodalität
gegründet, ein frommer Verein für engagierte Vorkämpfer der
Marienverehrung, die nunmehr der Herz-Jesu-Bewegung folgt, die das Leben
vieler Katholiken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt hat.
Kevelaer entwickelt sich zu einem der Vorposten überaus konservativer,
katholischer Kräfte, die als „Ultramontane“ im Rheinland und in Preußen
neue Geistesströmungen bekämpfen, unter denen der politische
Liberalismus besonders populär ist. Die „Truppe“ steht, das katholische
Lager ist, wie Ergebnisse politischer Wahlen für unseren Raum beweisen,
geschlossen. Und es fühlt sich machtvoll gestärkt: Aus Frankreich werden
Marienerscheinungen berichtet, 18 an der Zahl vom 11. Februar bis 16.
Juli 1858, erlebt von einem Mädchen namens Bernadette Soubirous. Einen
Monat später, am Fest Mariä Himmelfahrt, ist feierliche Grundsteinlegung
für die Marienkirche in Kevelaer durch Bischof Johann Georg Müller. Erst
im Jahr darauf, und auch das kennzeichnet den quälend langen Übergang
vom Mittelalter „im Kopf“ zur Neuzeit, wird in Italien die Inquisition
abgeschafft.
Die katholische Bevölkerung wird über die tatsächlichen Zustände in
Italien nicht korrekt aufgeklärt. Der italienische Befreiungskampf hat
die Fremdherrschaft im Visier, die Österreich-Ungarn über Norditalien
ausübt. Erst der Pakt des Kirchenstaates mit der Donaumonarchie, die
ohne Rückhalt bei der italienischen Bevölkerung seit 1815 als
Schutzmacht für den ausgedehnten Kirchenstaat fungiert, bringt die
weltliche Herrschaft des Papstes über fast ganz Italien in Gefahr, mit
der Befreiungsbewegung weggeschwemmt zu werden.
Und nicht nur Italien steht die moderne Erfahrung bevor, dass Länder und
Menschen nicht Eigentum von Dynastien sind. Reihenweise werden in
Norditalien Regionalfürsten vertrieben. Ein föderatives Italien,
propagiert vom Franzosenkaiser Louis Napoleon, wird in Ansätzen
erkennbar, aber Papst Pius IX. schlägt die Möglichkeit aus,
Ehrenpräsident einer solchen Konförderation zu werden, nicht ahnend,
dass er mit diesem „Wenigen“ viel mehr erhalten hätte, als ihm
schließlich bleiben wird.
Papst Pius IX.
General Garibaldi, der an der Spitze der italienischen
Befreiungsbewegung steht, die eine italienische Republik für eine
vereinte Nation anstrebt, landet am am 11. Mai 1860 mit tausend Mann in
Sizilien und rollt Italien von Süden auf. Mehrere Länder Italiens
vereinigen sich und lassen im März 1861 in Turin das erste Parlament
Italiens zusammentreten. England und Frankreich erkennen den neuen Staat
Italien, verfasst als konstitutionelle Monarchie, umgehend an. Aber in
dem neuen Königreich Italien fehlt noch Rom.
Unter dem römischen Klerus sind nicht wenige, die den Papst zum Verzicht
auf seinen weltlichen Herrschaftsanspruch drängen. Doch als Antwort
kommt (Dezember 1864) sein „Syllabus der hauptsächlichen Irrtümer
unserer Zeiten“, der Bannstrahl gegen so ziemlich alle Errungenschaften
modernen Denkens, die Pressefreiheit eingeschlossen. Der achtzigste,
letzte und höchste Irrtum der Menschheit sei die Annahme, wonach „der
Papst mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen
Zivilisation sich versöhnen und mit ihnen übereinstimmen könnte und
sollte“.
In der Weltöffentlichkeit wird das Vatikanische Konzil, zu dem die
Bischöfe nach Rom gerufen werden, in Verbindung mit dem drohenden Ende
des Kirchenstaates gebracht. Kontrovers und zum Teil unter chaotischen
Bedingungen diskutieren die Bischöfe monatelang den Anspruch
„Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen“. Nicht wenige Bischöfe
reisen im stillen Protest vor der Schlussabstimmung über das Dogma von
der päpstlichen Unfehlbarkeit ab, das am 18. Juli 1870 verkündet wird
und schwere Krisen in die aufgewühlten Länder Europas trägt, wo sich die
Ortskirchen der Machtansprüche des jeweiligen Staates erwehren müssen.
Eine der ersten Folgen des Dogmas ist eine Abspaltung von Rom, deren
Betreiber sich unter dem Namen „Altkatholiken“ zusammenfinden.
Kaum zwei Monate nach Verkündung des Dogmas und Abzug der französischen
Besatzung wird Rom von italienischen Truppen besetzt und am 20.
September 1870 zur Hauptstadt Italiens ausgerufen. Der Kirchenstaat ist,
bis auf das unmittelbare vatikanische Zentrum, aufgelöst. In Deutschland
gibt sich der politische Katholizismus eine übergreifende Parteistruktur
und gründet, um die innere Freiheit der Kirche zu verteidigen, 1870 das
Zentrum.
Kurz zuvor wird am Niederrhein eine
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Eisenbahnlinie fertig gestellt
(1868). Kevelaer, der Wallfahrtsort, hat seitdem einen Bahnhof.
Bahnhof Kevelaer 1890.
Bismarck (55), der für den Preußen-König Wilhelm (73) die
Staatsgeschäfte führt und - im Gegensatz zu seinem Monarchen, der ein
„reines Preußen“ erhalten möchte - ein großdeutsches Reich anstrebt,
sucht nach einem Vorwand, den Rivalen Frankreich militärisch in die Knie
zu zwingen. Konsequent und illegal, nämlich ohne parlamentarische
Absegnung durch den 1867 gebildeten Norddeutschen Bund, hat Bismarck
Preußens Kriegsmaschinerie hochgerüstet.
Ein lächerlicher Streit liefert den Vorwand. Um den verwaisten
spanischen Thron bewirbt sich ein Hohenzollern-Fürst; Frankreich
protestiert und verlangt von Preußen eine Dauergarantie, dass sich nie
wieder ein Vertreter des Hauses Hohenzollern um Spaniens Krone bemühe.
Die Garantie wird abgelehnt, was Bismarck in so scharfer Form öffentlich
verkündet, dass Frankreich am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärt.
Bismarcks Rechnung geht auf: Seine Truppen, die Kaiser Napoleon III.
gefangen nehmen können, marschieren bis Paris durch, und in Abwesenheit
des 63-jährigen Kaisers erklären die Franzosen ihr Land zur Republik.
Ausgerechnet im Feindesland, in Versailles, wird am 18. Januar 1871 aus
25 Bundesstaaten das Deutsche Reich gegründet mit König Wilhelm von
Preußen als deutschem Kaiser an der Spitze und Otto von Bismarck als
Reichskanzler. Frankreich und Deutschland schließen am 10. Mai 1871
Frieden, in dem Frankreich Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich
abtritt und sich verpflichtet, eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden
Francs zu zahlen.
Unmittelbar nach Friedensschluss, als das Ruhrgebiet in seinem rasanten
industriellen Aufstieg Arbeiter wie ein Magnet anzieht, geben sich in
Kevelaer die Warenaufkäufer aus dem Revier die Klinke in die Hand:
Massenhaft werden Schuhe gebraucht. Die Schuhfabrikation Kevelaers
erlebt ihr goldenes Zeitalter.
Obschon auch die Katholiken die Gründung des Deutschen Reichs (dem sich
bald die süddeutschen Länder anschließen werden) als den Beginn der
Neuzeit bejubeln, sind sie Bismarck so suspekt, dass er sie als die
wahren Reichsfeinde empfindet und gegen sie einen „innenpolitischer
Präventivkrieg“ anzettelt. Seine rüden Maßnahmen gegen Katholiken, ihre
Kirche und deren Einrichtungen ab 1871 haben allerdings auch den
einkalkulierten Nebeneffekt, dass die liberalen Mehrheitsgruppen im
deutschen Reichstag und im preußischen Landtag vollauf mit dem Kampf
gegen die katholische Kirche beschäftigt sind und Bismarck auf den
Hauptfeldern der Politik weniger hineinregieren.
Schon am Vorabend des Kulturkampfes bricht in Kevelaer, ausgelöst durch
den Deutsch-Französischen Krieg, der Pilgerstrom ein. Aber mit der
Reichsgründung, so hofft die Wallfahrtsleitung in Unkenntnis der
bevorstehenden Kulturkampf-Beschränkungen, soll sich die Lage
normalisieren. Im selben Jahr beginnt der Geistliche
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Stanislaus
Aenstoots seine Arbeit als Chordirektor des Musikvereins Kevelaer, den
er in den nächsten 23 Jahren zu einer unersetzlichen Stütze im
kirchlichen und kulturellen Leben der Marienstadt ausbauen wird.
Ebenfalls in 1871 werden die ersten
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Vorsehungsschwestern nach Kevelaer
entsandt, wo sie die Haushaltsführung des
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Priesterhauses übernehmen und
mit der Ausbildung von Lehrköchinnen beginnen.
Im Deutschen Reich herrscht Aufbruchstimmung. Gewaltig dehnen sich die
Industrien aus, und im Aufwärtstaumel dieser Gründerzeit setzt ein
„Jahrhundert-Aufschwung“ ein. Ungezählte Unternehmen in Deutschland
werden in dieser Zeit auf die Beine gestellt, in Kevelaer unter anderen
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graphische Betrieb Bercker (1870) und die Devotionalienfabrik
Wehling (1871).
Im Wirtschaftsboom der Gründerjahre wachsen krasse Gegensätze zwischen
Arm und Reich, im Morgenwind des Politikaufbruchs prallen Liberalismus
und tradierter Katholizismus unversöhnlich aufeinander, im Chaos der
Zerrissenheit verlieren viele Menschen den geistigen Haltepunkt für ihr
Leben. Die Auflösung des Kirchenstaates wird im katholischen Volk
verwechselt mit einem Generalangriff auf ihre heilige Kirche. Unkritisch
wird absolutistische Macht, die aus der vergangenen Welt des
Mittelalters noch erhalten geblieben ist, wie ein von Gott gewährtes
Privileg des Papstes überhöht.
Was selbst aufgeklärte Menschen in Deutschland für ihre eigene
monarchische Reichsstruktur längst nicht mehr akzeptieren, gilt in ihren
Augen für die Ausnahme des römischen Herrschers unverändert fort. Der
Papst wird von ihnen nicht in seiner faktischen Doppelrolle als
geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche einerseits und
absolutistischer Herrscher über einen profanen Staat andererseits
wahrgenommen, sondern als ganzheitliche Leitfigur, die nicht irren kann.
Dass der Verlust seiner weltlichen Macht ein Segen für Papsttum und
Kirche ist, wird erst in unserem Jahrhundert weitgehend verstanden.
Im Kraftfeld der marianischen Bewegungen in Europa häufen sich, nach
Lourdes (1858) und vor dem Kirchenstaat-Ende (1870),
Marienerscheinungen: Aus Österreich, Frankreich, Italien, Kroatien,
Belgien und aus der Schweiz und den USA werden etwa 20 Einzelfälle von
Marienerscheinungen berichtet. Kirchliche Anerkennung findet aber nur
jene, die wenige Monate nach der weltlichen Entmachtung des Papstes am
17. Januar 1871 in Pontmain in Frankreich eintritt: Einem zwölfjährigen
Bauernjungen und seinem kleinen Bruder (10) erscheint die Gottesmutter
in einem königlichen Gewand mit einer hohen Krone; die Kinder sehen dann
vor Maria ein großes blutiges Kreuz mit dem Gekreuzigten und den
traurigen Blick der Gottesmutter.
Kevelaer, das mit seiner Stiftung der marianischen Jünglingssodalität
(1855) bereits zu Beginn einer Gründungswelle marianischer Vereine im
Rheinland Kampfbereitschaft gezeigt hat, steht unerschütterlich zu
seiner Kirche, die es durch die Vorgänge in Italien bedroht sieht. Der
überzeugte Katholik
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Gerhard Cremeren, der bereits seit 1821 als von der
Regierung eingesetzter Bürgermeister der Gemeinde Kevelaer vorsteht,
gründet 1868 - zwei Jahre vor dem Verlust des Kirchenstaates - zusammen
mit Gräfin Mathilde von Hoensbroech einen Unterstützungsverein für den
bedrängten Papst. Nach dem Fall Roms fördert er mit der Autorität seiner
Person den auch in Kevelaer formierten Protest der Katholiken gegen die,
wie sie allerorten empfinden, „Unterdrückung Roms“.
Als im Oktober 1871 eine große Bittwallfahrt zugunsten von Pius IX. in
Kevelaer organisiert wird, steht Bürgermeister Cremeren in der vorderen
Reihe der Veranstalter.
Bürgermeister Gerhard Cremeren.
Dem von der Regierung abhängigen Bürgermeister ist die Gratwanderung
bewusst. Sein öffentliches Auftreten gestaltet er so, dass er dem Staat
keine Angriffsflächen bietet. Seine Lage wird immer schwieriger, als
sogar den Geistlichen im „Kanzelparagraphen“ vom 10. Dezember 1871
verboten wird, sich zu Angelegenheiten des Staates zu äußern, wenn dies
„in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ geschieht, was
aus Sicht der Regierenden immer droht, sobald ein Katholik nur den Mund
aufmacht.
Mit Empörung nehmen die Katholiken im Juli 1872 das Verbot des
Jesuitenordens auf. 560 Unterschriften werden allein in Kevelaer gegen
diese neuerliche staatliche Zwangsmaßnahme gegen den Katholizismus
gesammelt. Jesuiten finden Unterschlupf in den niederländischen
Besitztümern der geldrischen Adelshäuser von Loe, Hoensbroech und
Schaesberg. Die Pfarrgemeinden lassen sich nicht unterkriegen. In St.
Antonius Kevelaer wird 1873 ein Kirchenchor gegründet, im selben Jahr
auch einer in der gleichnamigen Kervenheimer Pfarrei.
Höhepunkt und Ende des Kulturkampfes, den der preußische Staat bald
ergebnislos ausklingen lässt, fallen im Sommer 1873 mit dem plötzlichen
Niedergang der europäischen Wirtschaft zusammen, die in überzogen
euphorischer Gewinnerwartung der Gründerjahre weit über den
tatsächlichen Bedarf hinaus investiert hat.
Firmenzusammenbrüche und Entlassungen großen Ausmaßes sind die ersten
Folgen. Hoffnung machen den arbeitslosen Industriearbeitern die neuen
Bergwerke Rheinpreußen bei Homberg, die 1872 die ersten 85 Tonnen
Steinkohle zutage fördern.
Kaum ein anderes Kulturkampf-Gesetz trifft die katholische Welt so hart
wie das vom 11. Mai 1873, das dem Staat ein Vetorecht bei der Besetzung
von geistlichen Ämtern einräumt. Mit breitester Unterstützung der
Katholiken lehnen die deutschen Bischöfe dieses Gesetz rundweg ab und
boykottieren es. Geistliche, die ohne Zustimmung des Staates ihr Amt
ausüben, werden verhaftet oder mit Geldstrafen belegt. Fünf Geistliche
aus dem Kreis Geldern werden verbannt.
In diesem aufgeheizten politischen Klima wird Kevelaer zu einem
zentralen Ort der Festigung der Katholiken im Glauben. Vor mindestens
25.000 Pilgern predigt am 6. Oktober 1873 der Mainzer Bischof
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Wilhelm
Emmanuel von Ketteler in der Marienstadt, analysiert den Kulturkampf als
eine Hass-Attacke des Staates gegen Christus, beschwört die Einheit der
Kirche und legt, indem er die Kevelaerer unter den Pilgern direkt
anspricht, den Katholiken die Marienverehrung besonders ans Herz.
Die Predigt liefert bei aller Deutlichkeit keinen Ansatz für staatliche
Repressionen. Kevelaers Bürgermeister Cremeren, der der Regierung
berichten muss, stuft das Großereignis in Kevelaer als eine
Veranstaltung mit „streng kirchlichen Charakter“ ein; auch die
katholischen Vereine seien hier frei von politischer Agitation. Cremeren
fühlt sich zunehmend eingeengt. Als er im Sommer 1874 kommunale
Begrüßungsveranstaltungen für Weihbischof Bossmann erlaubt - der Besuch
eines Bischofs löst traditionell umfangreiche Aktivitäten auch im
vorkirchlichen Raum aus - , pfeift ihn die Regierung Düsseldorf zurück
und widerruft die Erlaubnis im Nachhinein.
In der Gnadenkapelle wird 1874 ein neuer Altar aus Marmor aufgestellt,
der ein Jahr später mit einem Gemälde des Düsseldorfer Malers Franz
Müller geschmückt wird, das Maria als Immaculata zeigt. Für seinen
ausgeweiteten Export nach Übersee sucht Buchbinder
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Franz Bercker eine
neue Lösung, weil die Ledereinbände zu empfindlich sind. Er schließt
sich unternehmerisch mit Hermann Butzon zusammen, einem
Zelluloidhersteller, der haltbare Einbände entwickelt hat. Josef Diebels
braut 1874 im gepachteten Keller unter der Kapelle des Hoogenhofs in
Saalhoff sein erstes Dünnbier. Vier Jahre später gründet er in Issum
eine Brauerei.
Gerhard Cremeren, der betagte Bürgermeister von Kevelaer, wird der
ständigen Auseinandersetzungen mit der Regierung müde und kämpft nun mit
offenem Visier. Als die Düsseldorfer ihren Behinderungen des
Wallfahrtslebens die Spitze aufsetzen und heuchlerisch vorgeben, Pilger
müssten vor den „sittlichen Gefahren“ solcher Reisen bewahrt werden,
platzt dem 78-jährigen (!) Bürgermeister der Kragen. Die Sittlichkeit
sei das Letzte, das während einer Wallfahrt gefährdet werde. Und er gab
der Regierung den dringenden Rat, sich endlich sachkundig zu machen,
wenn sie schon nicht auf seine über 50-jährige Erfahrung hören wolle.
Am 1. Juni 1875, einen Tag nach Cremerens Protestbrief nach Düsseldorf,
bittet er um seine Entlassung in den Ruhestand, die unverzüglich
vollzogen wird. Als Pensionär wirkt Cremeren noch einige Jahre im
Kirchenvorstand und in der Partei des Zentrums mit, für das er auch in
den Gemeinderat und den Kreistag Geldern gewählt wird. Eine wesentliche
Beraterrolle für die Kirche spielt er bis 1881 bei den Prozessen gegen
die Beschlagnahme kirchlicher Besitztümer in der Marienstadt.
Gerhard Cremeren, 1797 geboren, stirbt 1881 in Kevelaer. „Obwohl noch
rüstig an Geist und Körper“, schreibt das Kävels Bläche in einem Nachruf
am 26. Februar 1881, „trat er doch im Jahre 1875 in den wohlverdienten
Ruhestand, weil er glaubte, daß sein katholisches Gewissen mit den
Anforderungen des Culturkampfs in Conflict gerathen könnte. Er ruhe in
Frieden!“
Aus: Martin Willing, 2000 Jahre Kevelaerer Heimat, KB-Beilage 1999/2000
Teil 1:
> Von 0 bis 1300 |
Wir
Gallier | Wie alles anfing
Teil 2:
> Von 1300 bis 1350 |
Grundstück verkauft | Erste Zeugnisse für Kevelaer
Teil 3:
> Von 1300 bis 1500
|
Hauen und Stechen | Die Grafen und Herzöge des Gelderlands
Teil 4:
> Von 1550 bis 1635
|
Freiheitskampf | Die Zeit bis zum Kroaten-Massaker
Teil 5:
> Von 1635 bis 1642
|
Mord und Totschlag | Das Chaos vor Entstehung der Wallfahrt
Teil 6:
> Von 1643 bis 1714
|
Wir Preußen | Als König Wilhelm kam
Teil 7:
> Von 1715 bis 1805
|
Wir Franzosen | Geist der Aufklärung
Teil 8:
> Von 1800 bis 1830
|
Napoleons Ende | Die Rückkehr der Preußen
Teil 9:
> Von 1830 bis 1850
|
Deutsche Revolution | Neues Selbstbewußtsein der Katholiken
Teil 10:
> Von 1850 bis 1875
| Abschied vom Mittelalter | Auflösung des Kirchenstaats
Teil 11:
> Von 1875 bis 1878
|
Kulturkampf | ... und sein Ende
Teil 12:
> 1879 |
Zeitung | Gründung des Kävels Bläche
Teil 13:
> 1880 bis 1881
| Vom Brand bis Wochenmarkt | Zwei Jahre mit großen Veränderungen
Teil 14:
> 1880 bis 1890
| Kaiser Wilhelm | Aufbruchzeiten
Teil 15:
> 1890 bis 1900
|
Aufschwung | Kevelaers Wirtschaft boomt
Teil 16:
> 1900 bis 1919
|
Das Ende von Preussens Gloria | Kevelaer und der Erste Weltkrieg
Teil 17:
> 1920 bis 1930
|
Hilfe aus der Not | Kevelaer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs