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    SACHBEGRIFFE |
Cremeren, Gerhard

Bürgermeister von Kevelaer im Kulturkampf | * 1797 | † 1881

Foto zeigt Bürgermeister Gerhard CremerenEine unglaublich lange Zeit, von keinem seiner Vorgänger oder Nachfolger erreicht, wirkt Gerhard Cremeren als Chef des > Rathauses in Kevelaer. Er ist von 1822 bis 1875 hauptamtlicher Bürgermeister der Marienstadt und zugleich ihr Standesbeamter - 53 Jahre lang. Vom preußischen Staat wird er zwangspensioniert, nicht etwa, weil er zu diesem Zeitpunkt schon 78 Jahre alt ist, sondern weil der engagierte Katholik die staatlichen Repressalien gegen die Kirchen nicht mittragen kann. Das ist zu Anfang des Kulturkampfes noch anders...

Die Kevelaerer beginnen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter preußischer Verwaltung einzurichten. Der Staat bricht in Privilegien der Kirche ein und übernimmt beispielsweise die Schulerziehung in seine Verantwortung. Die in katholischer Tradition verwurzelten Eltern schicken ihre Kinder nun in eine „Staatsschule“ - in die Marktschule, die während der Amtszeit von Gerhard Cremeren 1848 gebaut wird - etwa dort, wo heute das neue Rathaus steht. 

Katholisches Selbstbewusstsein in Kevelaer drückt sich anders aus. Der 1858 von dem Kölner Diözesanbaumeister Vincenz Statz begonnene Bau der neugotischen Wallfahrtskirche und heutigen Basilika ist ein starkes Symbol für die Entschlossenheit der Katholiken, sich im Europa der radikalen Brüche und tiefen Einbrüche zu behaupten. Das katholische Milieu wehrt sich kraftvoll gegen den Staat, als beispielsweise der preußische Kultusminister gegen die Jesuiten vorgeht (1852), unterschätzt aber das Ausmaß der bevorstehenden politischen und kirchlichen Veränderungen, die im Verlust des Kirchenstaates (1870) gipfeln.

Nach Verkündigung des Mariendogmas von der Unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1854 durch Pius IX. bilden sich allerorten Marienvereine, so auch in Kevelaer. Hier wird 1855 die Marianische Jünglings-Sodalität gegründet, ein frommer Verein für engagierte Vorkämpfer der Marienverehrung, die nunmehr der Herz-Jesu-Bewegung folgt, die das Leben vieler Katholiken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt hat.

Kevelaer entwickelt sich zu einem der Vorposten überaus konservativer, katholischer Kräfte, die als „Ultramontane“ im Rheinland und in Preußen neue Geistesströmungen bekämpfen, unter denen der politische Liberalismus besonders populär ist. Die „Truppe“ steht, das katholische Lager ist, wie Ergebnisse politischer Wahlen für unseren Raum beweisen, geschlossen. Und es fühlt sich machtvoll gestärkt: Aus Frankreich werden Marienerscheinungen berichtet, 18 an der Zahl vom 11. Februar bis 16. Juli 1858, erlebt von einem Mädchen namens Bernadette Soubirous. Einen Monat später, am Fest Mariä Himmelfahrt, ist feierliche Grundsteinlegung für die Marienkirche in Kevelaer durch Bischof Johann Georg Müller. Erst im Jahr darauf, und auch das kennzeichnet den quälend langen Übergang vom Mittelalter „im Kopf“ zur Neuzeit, wird in Italien die Inquisition abgeschafft. Rom wird von italienischen Truppen besetzt und am 20. September 1870 zur Hauptstadt Italiens ausgerufen. Der Kirchenstaat ist, bis auf das unmittelbare vatikanische Zentrum, aufgelöst. In Deutschland gibt sich der politische Katholizismus eine übergreifende Parteistruktur und gründet, um die innere Freiheit der Kirche zu verteidigen, 1870 das Zentrum.

Kurz zuvor wird am Niederrhein eine Eisenbahnlinie fertiggestellt (1868). Kevelaer, der Wallfahrtsort, hat seitdem einen Bahnhof. Bürgermeister Gerhard Cremeren und die Wallfahrtsleitung begrüßen diese entscheidende Verbesserung der Infrastruktur sehr. Mit ihr beginnt der zweite große Aufschwung der Kevelaer-Wallfahrt seit Einsetzung des Gnadenbildes.

Aber schon bald ist die Welt in Aufruhr. Das von Bismarck gezielt provozierte Frankreich erklärt 1870 Preußen den Krieg. Bismarcks Rechnung geht auf: Seine Truppen marschieren bis Paris durch, und in Abwesenheit des 63-jährigen Kaisers Napoleon III. erklären die Franzosen ihr Land zur Republik. Ausgerechnet im Feindesland, in Versailles, wird am 18. Januar 1871 aus 25 Bundesstaaten das Deutsche Reich gegründet mit König Wilhelm von Preußen als deutschem Kaiser an der Spitze und Otto von Bismarck als Reichskanzler. 

Unmittelbar nach Friedensschluss, als das Ruhrgebiet in seinem rasanten industriellen Aufstieg Arbeiter wie ein Magnet anzieht, geben sich in Kevelaer die Warenaufkäufer aus dem Revier die Klinke in die Hand: Massenhaft werden Schuhe gebraucht. Die Schuhfabrikation Kevelaers erlebt ihr goldenes Zeitalter.

Obschon auch die Katholiken die Gründung des Deutschen Reichs (dem sich bald die süddeutschen Länder anschließen werden) als den Beginn der Neuzeit bejubeln, sind sie Bismarck so suspekt, dass er sie als die wahren Reichsfeinde empfindet und gegen sie einen „innenpolitischen Präventivkrieg“ anzettelt. Seine rüden Maßnahmen gegen Katholiken, ihre Kirche und deren Einrichtungen ab 1871 haben allerdings auch den einkalkulierten Nebeneffekt, dass die liberalen Mehrheitsgruppen im deutschen Reichstag und im preußischen Landtag vollauf mit dem Kampf gegen die katholische Kirche beschäftigt sind und Bismarck auf den Hauptfeldern der Politik weniger hineinregieren. 

Schon am Vorabend des Kulturkampfes bricht in Kevelaer, ausgelöst durch den Deutsch-Französischen Krieg, der Pilgerstrom ein. Aber mit der Reichsgründung, so hofft die Wallfahrtsleitung in Unkenntnis der bevorstehenden Kulturkampf-Beschränkungen, soll sich die Lage normalisieren. Im selben Jahr beginnt der Geistliche Stanislaus Aenstoots seine Arbeit als Chordirektor des Musikvereins Kevelaer, den er in den nächsten 23 Jahren zu einer unersetzlichen Stütze im kirchlichen und kulturellen Leben der Marienstadt ausbaut. Ebenfalls 1871 werden die ersten > Vorsehungsschwestern nach Kevelaer entsandt, wo sie die Haushaltsführung des Priesterhauses übernehmen und mit der Ausbildung von Lehrköchinnen beginnen.
Im Deutschen Reich herrscht Aufbruchstimmung. Gewaltig dehnen sich die Industrien aus, und im Aufwärtstaumel dieser Gründerzeit setzt ein „Jahrhundert-Aufschwung“ ein. Ungezählte Unternehmen in Deutschland werden in dieser Zeit auf die Beine gestellt, in Kevelaer unter anderen der > graphische Betrieb Bercker (1870) und die Devotionalienfabrik Wehling (1871).

Im Wirtschaftsboom der Gründerjahre wachsen krasse Gegensätze zwischen Arm und Reich, im Morgenwind des Politikaufbruchs prallen Liberalismus und tradierter Katholizismus unversöhnlich aufeinander, im Chaos der Zerrissenheit verlieren viele Menschen den geistigen Haltepunkt für ihr Leben. Die Auflösung des Kirchenstaates wird im katholischen Volk verwechselt mit einem Generalangriff auf ihre heilige Kirche. Unkritisch wird absolutistische Macht, die aus der vergangenen Welt des Mittelalters stammt, wie ein von Gott gewährtes Privileg des Papstes überhöht. Was selbst aufgeklärte Menschen in Deutschland für ihre eigene monarchische Reichsstruktur längst nicht mehr akzeptieren, gilt in ihren Augen für die Ausnahme des römischen Herrschers unverändert fort. Der Papst wird von ihnen nicht in seiner faktischen Doppelrolle als geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche einerseits und absolutistischer Herrscher über einen profanen Staat andererseits wahrgenommen, sondern als ganzheitliche Leitfigur, die nicht irren kann. Dass der Verlust seiner weltlichen Macht ein Segen für Papsttum und Kirche ist, wird erst im 20. Jahrhundert weitgehend verstanden.

Im Kraftfeld der marianischen Bewegungen in Europa häufen sich, nach Lourdes (1858) und vor dem Kirchenstaat-Ende (1870), Marienerscheinungen: Aus Österreich, Frankreich, Italien, Kroatien, Belgien, aus der Schweiz und den USA werden etwa 20 Fälle von Marienerscheinungen berichtet. Kirchliche Anerkennung findet aber nur jene, die wenige Monate nach der weltlichen Entmachtung des Papstes am 17. Januar 1871 in Pontmain in Frankreich geschieht: Einem zwölfjährigen Bauernjungen und seinem kleinen Bruder (10) erscheint die Gottesmutter in einem königlichen Gewand mit einer hohen Krone; die Kinder sehen dann vor Maria ein großes blutiges Kreuz mit dem Gekreuzigten und den traurigen Blick der Gottesmutter. 

Kevelaer, das mit seiner Stiftung der marianischen Jünglingssodalität (1855) bereits zu Beginn einer Gründungswelle marianischer Vereine im Rheinland Kampfbereitschaft gezeigt hat, steht unerschütterlich zu seiner Kirche, die es durch die Vorgänge in Italien bedroht sieht. Der überzeugte Katholik Gerhard Cremeren gründet 1868 - zwei Jahre vor dem Verlust des Kirchenstaates - zusammen mit Gräfin Mathilde von Hoensbroech einen Unterstützungsverein für den bedrängten Papst. Nach dem Fall Roms fördert er mit der Autorität seiner Person den auch in Kevelaer formierten Protest der Katholiken gegen die, wie sie empfinden, „Unterdrückung Roms“. Als im Oktober 1871 eine große Bittwallfahrt zugunsten von Pius IX. in Kevelaer organisiert wird, steht Bürgermeister Cremeren in der vorderen Reihe der Veranstalter. 

Dem von der Regierung abhängigen Bürgermeister ist die Gratwanderung bewusst. Sein öffentliches Auftreten gestaltet er so, dass er dem Staat keine Angriffsflächen bietet. Seine Lage wird immer schwieriger, als sogar den Geistlichen im „Kanzelparagraphen“ vom 10. Dezember 1871 verboten wird, sich zu Angelegenheiten des Staates zu äußern, wenn dies „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ geschieht, was aus Sicht der Regierenden immer droht, sobald ein Katholik nur den Mund aufmacht. Mit Empörung nehmen die Katholiken im Juli 1872 das Verbot des Jesuitenordens auf. 560 Unterschriften werden allein in Kevelaer gegen diese neuerliche staatliche Zwangsmaßnahme gegen den Katholizismus gesammelt. 

Jesuiten finden Unterschlupf in den niederländischen Besitztümern der geldrischen Adelshäuser von Loe, Hoensbroech und Schaesberg. Die Pfarrgemeinden lassen sich nicht unterkriegen. In St. Antonius Kevelaer wird 1873 ein Kirchenchor gegründet, im selben Jahr auch einer in der gleichnamigen Kervenheimer Pfarrei. 

Höhepunkt und Ende des Kulturkampfes, den der preußische Staat bald ergebnislos ausklingen lässt, fallen im Sommer 1873 mit dem plötzlichen Niedergang der europäischen Wirtschaft zusammen, die in überzogen euphorischer Gewinnerwartung der Gründerjahre weit über den tatsächlichen Bedarf hinaus investiert hat.

Firmenzusammenbrüche und Entlassungen großen Ausmaßes sind die ersten Folgen. Hoffnung machen den arbeitslosen Industriearbeitern die neuen Bergwerke Rheinpreußen bei Homberg, die 1872 die ersten 85 Tonnen Steinkohle zutage fördern.
Kaum ein anderes Kulturkampf-Gesetz trifft die katholische Welt so hart wie das vom 11. Mai 1873, das dem Staat ein Vetorecht bei der Besetzung von geistlichen Ämtern einräumt. Mit breitester Unterstützung der Katholiken lehnen die deutschen Bischöfe dieses Gesetz rundweg ab und boykottieren es. Geistliche, die ohne Zustimmung des Staates ihr Amt ausüben, werden verhaftet oder mit Geldstrafen belegt. Fünf Geistliche aus dem Kreis Geldern werden verbannt.

In diesem aufgeheizten politischen Klima wird Kevelaer zu einem zentralen Ort der Festigung der Katholiken im Glauben. Vor mindestens 25.000 Pilgern predigt am 6. Oktober 1873 der Mainzer Bischof > Wilhelm Emmanuel von Ketteler in der Marienstadt, analysiert den Kulturkampf als eine Hass-Attacke des Staates gegen Christus, beschwört die Einheit der Kirche und legt, indem er die Kevelaerer unter den Pilgern direkt anspricht, den Katholiken die Marienverehrung besonders ans Herz. 

Die Predigt liefert bei aller Deutlichkeit keinen Ansatz für staatliche Repressionen. 
Kevelaers Bürgermeister Cremeren, der der Regierung berichten muss, stuft das Großereignis in Kevelaer als eine Veranstaltung mit „streng kirchlichem Charakter“ ein; auch die katholischen Vereine seien hier frei von politischer Agitation. Cremeren fühlt sich zunehmend eingeengt. Als er im Sommer 1874 kommunale Begrüßungsveranstaltungen für Weihbischof Bossmann erlaubt - der Besuch eines Bischofs löst traditionell umfangreiche Aktivitäten auch im vorkirchlichen Raum aus -, pfeift ihn die Regierung Düsseldorf zurück und widerruft die Erlaubnis im Nachhinein.
Gerhard Cremeren, der betagte Bürgermeister von Kevelaer, wird der ständigen Auseinandersetzungen mit der Regierung müde und kämpft nun mit offenem Visier. Als die Düsseldorfer ihren Behinderungen des Wallfahrtslebens die Spitze aufsetzen und heuchlerisch vorgeben, Pilger müssten vor den „sittlichen Gefahren“ solcher Reisen bewahrt werden, platzt dem 78-jährigen Bürgermeister der Kragen. Die Sittlichkeit sei das Letzte, das während einer Wallfahrt gefährdet werde. Und er gibt der Regierung den dringenden Rat, sich endlich sachkundig zu machen, wenn sie schon nicht auf seine über 50-jährige Erfahrung hören wolle. 

Am 1. Juni 1875, einen Tag nach Cremerens Protestbrief nach Düsseldorf, bittet er um seine Entlassung in den Ruhestand, die unverzüglich vollzogen wird. Cremeren wird für einige Wochen durch den Beigeordneten Risbroeck vertreten, dann im August durch den Protestanten > Brügelmann ersetzt. Als Pensionär wirkt Cremeren noch einige Jahre im Kirchenvorstand und in der Partei des Zentrums mit, für das er auch in den Gemeinderat und den Kreistag Geldern gewählt wird. Eine wesentliche Beraterrolle für die Kirche spielt er bis 1881 bei den Prozessen gegen die Beschlagnahme kirchlicher Besitztümer in der Marienstadt.

Gerhard Cremeren, 1797 geboren, stirbt im Februar 1881 in Kevelaer. „Obwohl noch rüstig an Geist und Körper“, schreibt das Kävels Bläche in einem Nachruf am 26. Februar 1881, „trat er doch im Jahre 1875 in den wohlverdienten Ruhestand, weil er glaubte, daß sein katholisches Gewissen mit den Anforderungen des Culturkampfs in Conflict gerathen könnte. Er ruhe in Frieden!“

Quellenhinweis: Kevelaerer Persönlichkeiten 3

© Martin Willing 2012, 2013