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Von den Anfängen bis heute | 1820 das erste Kirmestreiben im Wallfahrtsort
Alles hat ein erstes Mal, auch die Kirmes in der Marienstadt. Den ältesten Hinweis, der Kirmestreiben in Kevelaer belegt, finden wir im Tagebuch von Pastor > Johann Heinrich Krickelberg (1.5.1820):
Die sogenannte Kevelaersche Kirmes den nächsten Sonntag vor Pfingsten ist so ziemlich in Ordnung abgelaufen. Es war zwar Tanzmusik, nämlich bei Hunnekens im Weißen Schwan 3 Tag, wie auch bei Lackers im Holländer Hof, doch hat es nicht spät in die Nacht gedauert.
Auch im
Jahr darauf - so hält es Krickelberg für den September 1821 fest -
sorgte die Herbstkirmes im Wallfahrtsort für Verärgerung. Obwohl der
Bürgermeister versprochen habe, dass "wenigstens auf der Herbstkirmes
keine Tanzmusik sollte sein und daß die Wirte nach 10 Abends nicht mehr
sollten schenken", sei bei Hunnekens sogar nach elf Uhr ausgeschenkt
worden.
Man habe den Boten Claeßen ins Gasthaus geschickt, der auf das
"Tanz- und Ausschenkverbot nach 10 Uhr" habe pochen sollen. "Doch daher
entstand Streit", schreibt Krickelberg in seinem Tagebuch, "und Anton
Martens gab dem Boten Ohrfeigen."
Ein so harmloses Vergnügen wie in diesem Kinder-Karussell von 1989 auf dem Kevelaerer Marktplatz sahen ältere Generationen im Kirmestreiben nicht.
Einem Krickelberg-Eintrag für Mai 1826 verdanken wir einen ersten
Hinweis auf den bis in unsere Tage erhaltenen Brauch, zum Ende des
Volksfestes eine Kirmespuppe zu opfern. Während heute die Puppe
verbrannt wird, entledigte man sie ihrer Anfang des 19. Jahrhunderts auf
andere Weise: Die Puppe wurde begraben.
Krickelberg, der Pfarrer von St. Antonius, legte sich in seinem Kampf
gegen "Tanzlustbarkeiten" auch mit dem Wallfahrtsrektor Johann Heinrich
Janssen an, der von 1817 bis 1834 Hausherr am Kapellenplatz war. "Es
wird nicht besser", lesen wir bei Krickelberg in einem Eintrag von 1832
über den Gastwirt Jan Schellen, "solang der Rector der Capelle ihn
begünstigt, der Pastor mag dagegen tun, was er will." - Mit der Berufung
von Johannes Boßmann zum neuen Wallfahrtsrektor (1834 - 1842) klingen
Krickelsbergs Tagebuch-Klagen über Kirmesfeiern ab. "Mit der Kirmes
ziemlich alles still" - einen solchen oder ähnlichen Eintrag finden wir
für den Zeitraum der Amtsführung von Boßmann häufig. Auch während der
Zeit von Wallfahrtsrektor Johann Jakob van Gemmeren (1842 - 1954) hatte
der Kevelaerer Pfarrer offenbar wenig Grund zum Klagen.
Wie wir uns das Kirmestreiben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
vorstellen dürfen, beschreibt ein zeitgenössischer KB-Bericht (Januar
1881):
Die hier mit dem St.
Antonius-Pfarrpatrocinium am Sonntag begonnene Kirmeß ist, wie
gewöhnlich, im Ganzen ruhig und ordentlich verlaufen. Der Musik- und der
Schützen-Verein hatten für anständige gemüthliche Unterhaltung gesorgt,
wobei jedoch nach altem Brauch aus Ehrfurcht vor dem unter uns
aufgerichteten Gnadenbilde Tanzlustbarkeiten ausgeschlossen blieben.
(...)
Indessen sollten uns doch die in Ruhe genossenen Kirmeßfreuden durch
einen bitteren Nachgeschmack verdorben werden. Es war am Mittwoch Abend
nicht lange nach zehn Uhr. Sechs Herren vom hiesigen Leseverein hatten
ihr Versammmlungslocal in der Massstraße eben verlassen und die Grenze
des Kapellenplatzes, wo ihre Wege auseinander gingen, kaum erreicht, da
fiel plötzlich ein Schuß, dessen Kugel kaum drei Schritte von ihnen
entfernt die große Spiegelscheibe in dem linken Schaufenster der Fa. W.
und H. van den Wyenbergh traf, sie durchlöcherte und dann straßenwärts
zu Boden fiel.
Die Alteration der erwähnten Herren war so groß, daß sie in der
Vermuthung, es läge ein Mordversuch gegen einen von ihnen vor, sich
eilends zu ihren Wohnungen verfügten. Der Thäter, jedenfalls in sicherem
Versteck, war schon wegen der Dunkelheit von ihnen nicht bemerkt worden.
Der nie
aufgeklärte Fall belebte als Mordversuch die Fantasie der Einwohner.
1885 - der Marktplatz war voll mit Buden besetzt - ging ein heftiges
Gewitter auf die Kirmes nieder. In ein Karussell schlug der Blitz ein,
worauf sich „der ganze Bau zum Mittagschläfchen auf das eine Ohr legte
und unsere liebe Jugend gestern und heute auf das ganze Plaisir
verzichten mußte“ (KB von 1885).
Das 20. Jahrhundert brach an, und Kirmes wurde immer noch gerne gefeiert. "Auf dem Marktplatze herrschte am ersten Kirmestage ein buntbewegtes Leben und Treiben", lesen wir im Kävels Bläche (Mai 1902):
Für unsere liebe Jugend waren einige Caroussels vorhanden, daneben fehlten die üblichen Krambuden mit Backwaaren und Spielzeug nicht. Das Theater Schmidt (Kölner Hänneschen-Theater) hatte sich eines zahlreichen Besuchs zu erfreuen. Die in Scene gesetzten Stücke waren alle schön und ließen die Zuschauer zeitweilig nicht aus dem Lachen herauskommen.
"Kassenknüller" auf der Kirmes von 1905 war ein Kino-Verläufer: "Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges bildet der während der Kirmestage auf dem Marktplatze gegenüber dem Bürgermeisteramte aufgestellte Herhaussche Riesen-Kinematograph. Derselbe zeigt nicht nur lebende, sondern, was man hier noch nie zu beobachten Gelegenheit hatte, auch sprechende, singende und musizierende Photographien. Was an den Darbietungen besonders auffällt ist die Schärfe und Klarheit der Bilder und das ungemein abwechslungsreiche Programm, das sowohl ernste als auch heitere Szenen aufweist. Wir können einen Besuch des Etablissements nur bestens empfehlen", heißt es im KB.
Die
Gemeinsame Kirmes, die wir heute feiern, entstand 1908 - beflügelt
auch von gesellschaftspolitischen Absichten in der Kaiserzeit. Die
Winterkirmes in Kevelaer war aufgehoben, und die verbliebene Maikirmes
sollte zu einem „richtigen Volksfest“ ausgebaut werden. Bürgermeister
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Mathias Marx initiierte die
Gründung der
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Geselligen Vereine
und sorgte bereits 1907 zusammen mit den Ratsmitgliedern dafür, dass 300
Mark bewilligt wurden, um eine „schmucke, kunstvolle Halskette aus
Edelmetall“ anzuschaffen - die Festkette. Die Marx-Initiative ging auf
einen Erlass des preußischen Innenministers aus dem Jahr 1907 zurück, in
dem die Regierung forderte, aus den "Lustbarkeiten" der Bevölkerung
"allerorts an den Hauptkirmestagen ein sinnvolles Volksfest
vaterländischer Prägung unter Zuziehung der Sportvereine,
Schützengilden, Kriegervereine, Feuerwehr usw." zu entwickeln.
Damit war der Gedanke einer "gemeinsamen Kirmes" geboren. Der
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Kevelaerer Turnverein war
anfangs der Hauptgestalter. Das bestätigt Dr. Adolf Marx, ein Sohn von
Bürgermeister Marx, in seiner Kirmesfestschrift von 1922, als der
Turnverein der festgebende Verein war und sein Vorsitzender Johann Cleve
die Festkette trug. 1908 aber, im "Premierenjahr" der "gemeinsamen
Kirmes", waren es die
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Bürgerschützen,
die mit dem amtierenden Schützenkönig, dem Bäckermeister Anton Janson, den
ersten Festkettenträger stellten.
Zu jener Zeit zwirbelten die Kaisertreuen noch ihre Bärte, und im
Deutschen Reich, das mit den Kolonialmächten gleichziehen wollte, begann
sich Kriegslust aufzubauen. Nach dem verlorenen Weltkrieg kehrte
Ernüchterung ein.
1933 - Marx war zwei Jahre zuvor gestorben - schlossen sich die
„Geselligen“ der allgemeinen NS-Begeisterung an. Sie marschierten, im
Gleichschritt mit Uniformierten, „Stahlhelm“-Männern,
Behördenmitarbeitern und ungezählten anderen, im Fackelzug durch
Kevelaer - ein „imposantes Bild“, wie eine Zeitung schrieb. Bevor es
1939 "Nacht" wurde, feierte Kevelaer noch einmal gemeinsam Kirmes.
Anders als einzelne Vereine wurde der Kevelaerer Dachverband im Dritten
Reich nie verboten. Er wurde gebraucht. Bei Soldatenbegräbnissen
schickten die „Geselligen Vereine“ Abordnungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die jährliche, von Schaustellern
gestaltete Kirmes rasch wieder auf. 1948 wurden auf dem Marktplatz
Schiffschaukeln, Kettenkarussell, Raupe und Selbstfahrer
angeboten. Erstmals dabei: ein Armbrust- und Bogenschießstand. Dazu
kamen Losbuden und Verkaufsstände. Die erste Gemeinsame Kirmes
mit Festkettenträger erlebten die Kevelaer dagegen erst wieder 1949.
Zeitgleich ging es auf dem Marktplatz rund: Panoptikum, Raketenbahn,
Schießbuden mit den nun erlaubten Luftbüchsen, Selbstfahrer,
Schiffschaukel, Rutschbahn und Raupe zogen viele Leute an.
Autoselbstfahrer - der
Renner auf der Kevelaerer Kirmes (Aufnahme aus 1995).
In eine politische Auseinandersetzung geriet die Kevelaerer Kirmes
in den folgenden Jahrzehnten nur noch einmal: Um sie und ihren Standort
auf dem Peter-Plümpe-Platz nicht zu gefährden, gilt bis heute die
"Doktrin": Jede Neugestaltung des Marktplatzes - immer wieder gefordert
und angeregt - muss gewährleisten, dass hier die jährliche Kirmes
gefeiert werden kann.