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INHALTSVERZEICHNIS |
Eine einsame Pilgerreise nach Portugal
Drei
Tage dauerte die Fahrt mit einem Reisemobil ins 2650 km entfernte Dorf
in Portugal. Der Kontrast zu den Hochtagen dieses Wallfahrtsortes von
Mai bis Oktober konnte nicht größer sein. Wo sich dann auf dem Platz vor
der Basilika Hunderttausende Pilger versammeln, waren jetzt - Anfang
März - sieben Menschen von der Stille des Morgens umgeben.
Ein Polizeiwagen schleicht langsam an mir vorbei. Ich gehe durch die
menschenleeren Straßen, dann stehe ich auf dem Platz, der doppelt
soviele Menschen fasst wie der vor dem Petersdom. Jetzt, am frühen
Morgen und außerhalb der Wallfahrtszeit, sehe ich niemanden.
Das Gnadenbild von Fatima.
Die hügelige Weidelandschaft, die Cova da Iria, in der die drei
Hirtenkinder aufgewachsenen sind, ist verschwunden. Auf meinen letzten
50 Kilometern vor Fatima habe ich sie noch gesehen, als ich mich abseits
der Autobahn im Netz winziger Dorfstraßen verfahre.
Ich zockele hinter
einem Karren her, gezogen von einem Esel. Bilder, die sich in
Jahrhunderten nicht verändert haben mögen, prägen sich ein. Aber jetzt
sind nicht gegenwärtig, denn der gewaltige Vorplatz überlagert alles,
und die Basilika, die mir vom Parkplatz aus, wo mein Reisemobil steht,
nicht besonders groß erschien, steht nun erhaben auf der Anhöhe.
Das überdachte Heiligtum
von Fatima (1997).
Die winzige Erscheinungskapelle, kaum ein Viertel unserer Gnadenkapelle, viereckig, unverziert, unscheinbar wie ein Geräteschuppen, verschwindet unter einem 1982 errichteten Überbau, der die Erscheinungskapelle wie ein Puppenstübchen vereinnahmt. Das ist der erste Eindruck.
Die Erscheinungskapelle unterm Dach. Fotos: Martin Willing (1997)
Ich bin jetzt unter der Überdachung und stehe auf spiegelndem Marmor.
Auch die Betbank, die eine kleine Schutzmauer um die Erscheinungskapelle
zieht, ist aus weißem Stein. Eine Frau kniet davor. Zwei Besucher sitzen
etwas abseits. Da kommt von der Seite, wo die Verglasung geöffnet ist,
eine verwachsene Zwergin mit Kopftuch und bleibt im Schatten der
Morgensonne stehen. Sie kniet auf den Marmor nieder und betet. Ich
stecke meinen Fotoapparat weg.
Lucia
ist zehn, als sie hier kniet. Es muss etwa hier gewesen sein. Die
Madonnenstatue, geschützt durch Glas, schaut in meine Richtung. Dort hat
die Steineiche gestanden. Vor 80 Jahren wühlen die Beine von 70.000
Menschen im Schlamm. Es regnet in Strömen, an diesem 13. Oktober, als
sich die Madonna den drei Kindern zum sechsten Mal zeigt.
Die drei
Seherkinder von Fatima (v.l.):
Jacinta, Franciso und Lucia.
Es sind Kollegen von mir dabei, einer unter ihnen schreibt für die
Lissaboner Zeitung „O Seculo“. Sein Fotograf hat die Nerven, sich in dem
Moment des Sonnenwunders umzudrehen und in die Gesichter der Leute zu
fotografieren. Die Bildreportage in dieser eher kirchenfeindlichen
Zeitung, die ich 80 Jahre danach lese, verunsichert mich. Mir wird keine
Wahl mehr gelassen, das Sonnenwunder zu glauben oder nicht zu glauben.
Da steht messerscharf, was sich zugetragen hat. Mit Massenhypnose und
Halluzinationen kann die tanzende Sonne nichts zu tun haben, weil 40
Kilometer entfernt völlig unbeteiligte Menschen das gleiche,
naturwidrige Phänomen beobachtet haben - Wochen vorher von Lucia
öffentlich angekündigt, als ein von der Muttergottes versprochenes,
großes Wunder.
70.000 Menschen können sich nicht irren, aber diese Annahme wird nicht
nur als Wunder-Beweis herangezogen, sondern auch zum Beweis einer
abstrusen Theorie:
Das Sonnenwunder von 1917 (Glasbild).
Danach haben die drei Hirtenkinder, nachzulesen in
dem Buch „Die geheime Botschaft von Fatima - Nach 75 Jahren endlich die
Wahrheit“, Besuch von außerirdischen Wesen erhalten. In ihren kindlichen
Bildern von Gott und der Welt haben sich die Außerirdischen verständlich
gemacht und die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder mittels Drogen so
erweitert, dass sie eine „schöne Dame“ erkennen können, die mittels
holographischer Projektion in die Steineiche materialisiert worden ist.
Und um auch richtigen Eindruck zum Schluss zu machen, hat sich ihr UFO
im Oktober 1917 vor die Sonne gestellt und einige Flugkunststückchen
vollbracht. Warum das „Dritte Geheimnis von Fatima“ vom Vatikan unter
Verschluss gehalten wird, weiß der Buchautor natürlich auch: Da stehe
nämlich drin, dass es ein UFO gewesen ist...
Die kleine Lucia hat noch keine Schulbildung, weil sie ein Mädchen ist.
Bis 1917 werden nur Jungen in die Schule von Fatima aufgenommen. Lucia
wird nach den Erscheinungen, noch als Kind, dem Elternhaus und ihrem
Dorf entzogen und lebt bis 1934 inkognito und abgeschirmt erst in einem
Waisenhaus der Dorotheen, dann als Dorotheen-Schwester im Kloster Thy in
Spanien. Nicht einmal jede Oberin weiß, wer Lucia ist. Sie denkt ohne
Unterlass an Fatima und das Geschehen, darf aber mit niemandem darüber
sprechen. 25 Jahre in Isolation. Dann schreibt sie, auf Verlangen des
Bischofs, nieder, was sich 1917 in der Cova da Iria zugetragen hat. Wer
kann sich nach so langer Zeit an den Wortlaut von Dialogen genau
erinnern?
Die Zweifel, die der objektive Zeitungsbericht zerstreut hat, weil er
Wunder zu beweisen scheint, sind auf einmal wieder da. Aber Lucia
erklärt das ganz einfach. Sie vermerkt in ihren Briefen an den Bischof,
wenn in einigen Passagen die Gedanken nur aus ihr selbst kommen und sie
„abschweift“, wie sie sagt. Sie behauptet nicht, ein so unglaublich
gutes Gedächtnis zu haben, sondern versichert, die Vorgänge und
Botschaften mit Gottes Hilfe und mit der Unterstützung der Muttergottes
niedergeschrieben zu haben.
Die Nonne, noch keine 30, hat bereits ihr halbes Leben in extremer
Kontemplation zugebracht, als sie zu Papier bringt, was als die
„Geheimnisse von Fatima“ Weltgeschichte macht. Kein vernünftiger Mensch
würde ihr glauben, wenn sich Lucia allein auf ihr Gedächtnis verlassen
hätte.
Tausendfach werden die Worte der Muttergottes, von Lucia überliefert,
seitdem durch die Mangel gedreht. Ihre Prophezeiungen werden zerpflückt
und erbsenzählerisch auf Treffer und Nieten geprüft, so als habe man
eine Wahrsagerin von der Kirmes vor sich. Gläubige in aller Welt
interessiert eine Diskussion auf diesem Niveau nicht, denn sie haben die
Botschaft von Fatima, offenbart in den beiden „Geheimnissen“,
verstanden: Umkehr, Buße, Gebet und die Gnade ewigen Lebens.
Lucia schreibt zwischen dem 22. Dezember 1943 und dem 9. Januar 1944 auf
23 Seiten das „Dritte Geheimnis von Fatima“ nieder, das nicht vor 1960
bekanntgegeben werden dürfe. Das Siegel des Dokuments, das auf Umwegen
erst 1957 in den Vatikan gelangt ist und dort im Archiv der
Glaubenskongregation liegt, wird 1959 zum erstenmal durch Papst Johannes
XXIII. erbrochen. Er liest es im Beisein seines Beichtvaters und seines
Sekretärs mit Hilfe eines portugiesischen Übersetzers, schreibt eine
Notiz auf einen Zettel, der mit dem Dokument in den Umschlag gegeben
wird, und äußert sich zum Inhalt nicht.
Die für 1960 erwartete Bekanntgabe tritt nicht ein, obwohl sie in der
ganzen Welt Spannung ausgelöst hat. Weil die Veröffentlichung ausbleibt,
kommen Gerüchte hoch: „Papst Johannes XXIII. erbleichte beim Lesen und
sagte: ´Wir können das Geheimnis nicht preisgeben. Es würde eine Panik
auslösen´“, so eine vielfach in der Fatima-Literatur anzutreffende, aber
wohl falsche Information.
Nach dem Tod von Johannes läßt sich Paul VI. das Dokument bringen. Aber
auch dieser Papst sieht von einer Bekanntgabe ab. Der gelegentlich
geäußerte Verdacht, das „Dritte Geheimnis“ könne Prophezeiungen
enthalten, die sich inzwischen als völlig falsch herausgestellt haben,
was das gesamte Fatima-Geschehen in einem neuen Licht erscheinen lasse,
ist ebenfalls aus der Luft gegriffen. Denn wenn das „Dritte Geheimnis“
einen solchen Rückschlag beinhalten würde, hätten sich wohl kaum zwei
Päpste hintereinander - Paul VI. und Johannes Paul II. - trotz ihrer
Insider-Kenntnisse mit Schwester Lucia getroffen; mit Unterstützung
dieser Päpste und ihrer Vorgänger ist Fatima zu dem wohl bedeutendsten
Marienwallfahrtsort auf unserer Erde geworden.
Die publizistische "Bombe" platzt am 15. Oktober 1963 und findet
weltweites Echo. Die Stuttgarter Zeitschrift „Neues Europa“ bringt
exklusiv den vermeintlichen Wortlaut des „Dritten Geheimnisses von
Fatima“ - eine apokalyptische Vision für den Fall, dass sich die
Menschheit nicht besinnt. Rom bestätigt nicht, dementiert aber auch
nicht. Im Vatikan soll die Veröffentlichung Bestürzung ausgelöst haben.
Nach dem Tod des Journalisten enthüllt dessen Frau einem Buchautor
gegenüber die Vorgeschichte: Ein Pater, offensichtlich Insider, aber
ohne Legitimation, habe ihrem Mann in einem Vier-Augen-Gespräch den
Wortlaut mündlich übermittelt.
Der im „Neuen Europa“ veröffentlichte Text gilt bis heute in Teilen der
Fatima-Literatur als die „diplomatische Fassung“ von bestimmten
Aussagen, die Lucia niedergeschrieben hat. Sie soll auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges zwischen Kennedy und Chrustchow eine Rolle gespielt
haben. Dass es eine „diplomatische Fassung“ tatsächlich gibt, hat Papst
Johannes Paul II. im Jahr 1980 in Fulda bestätigt, wenngleich ohne zu
sagen, ob er damit die besagte aus dem „Neuen Europa“ gemeint hat.
Es spricht mehr dafür, dass eine andere These zutrifft, nämlich dass die
Veröffentlichung, wenn sie denn überhaupt etwas mit Lucias Schrift zu
tun hat, nicht das „Dritte Geheimnis“ beschreiben kann. Nach einem
zweiten Gespräch mit dem unbekannten Pater veröffentlicht die
Zeitschrift 1970 eine erweiterte Fassung. Sie enthält zeitliche Angaben,
und zwar so, dass nun das Sonnenwunder (Oktober) bereits Vergangenheit
ist. Tatsächlich aber erfahren die drei Hirtenkinder die Geheimnisse bei
der dritten Marien-Erscheinung, und die ist im Juli gewesen. Daraus
lässt sich der Schluss ableiten, dass das „Dritte Geheimnis“ auch dem
Inhalt nach nichts mit dem als „diplomatische Fassung“ bekannt
gewordenen Text zu tun hat. Im übrigen sind die Aussagen in dem
veröffentlichten Text keineswegs so niederschmetternd apokalyptisch,
dass sie den Gläubigen nicht zugemutet werden könnten. Sie kennen sie
längst - aus der Bibel.
Die Päpste schweigen trotz des Hinweises von Lucia, dass der Text ab
1960 bekannt gegeben werden soll (oder kann?). Das muss einen tieferen
Grund haben, den wir nicht kennen. Der Autor Hellmuth Hoffmann bietet
dieses Erklärung an: Das „dritte Geheimnis“ enthalte, so Andeutungen
eines der wenigen Eingeweihten, eschatologische Verheißungen, also
Aussagen über „letzte Dinge“, das Ende der Welt und das Reich Gottes,
mithin Aussagen über die Wiederkunft Christi. „Die Bekanntgabe müßte“,
schreibt Hoffmann, „mit einer Revolution im Sinne einer völligen
Erneuerung der Kirche von innen heraus einhergehen und würde in dieser
Weise von der Masse der Gläubigen kaum richtig verstanden“.
In Fatima ist es jetzt acht Uhr, und in der Basilika beginnen die Missionare Unserer Lieben Frau mit der Heiligen Messe. Um den Altar stehen an die 20 Geistliche, und die Kirche ist bis auf vier, fünf Besucher leer.
Hunderttausende Pilger auf dem Platz vor der Basilika zu Fatima. Links unter dem flachen Überbau: die kleine Gnadenkapelle mit dem Gnadenbild. Fotos: Martin Willing
Ich sitze mutterseelenallein im hinteren Teil. Bald
darauf erscheinen vier weitere Besucher. Eine Frau setzt sich, obwohl
fast die ganze Kirche leer ist, genau vor mich und nimmt mir die Sicht.
Ich ärgere mich und brauche einen Moment, um mich wieder konzentrieren
zu können. Ich sehe und höre, wie andächtig die Frau der Messfeier
folgt.
Nach dem „Vater unser“, als sich die Missionare vorne am Altar ein
Zeichen des Friedens geben, dreht sich die Frau um und gibt mir die
Hand. Ohne sie hätte ich niemanden für das Friedenszeichen gehabt.
Das kleine Erlebnis wirkt noch nach, als ich später in einem Café
mittels Zeichensprache einen herrlichen Kaffee mit Croissants bestelle.
Die beeindruckenden Wallfahrten mit Hunderttausenden Pilgern habe ich
nur auf Fotos gesehen. Meine Pilgerfahrt hatte nur einen Teilnehmer.
Unterwegs auf den 2.650 Kilometern bis Kevelaer kommt mir in den Sinn,
dass solche Wallfahrtsorte ein besonderes Geschenk sind. Und in einem
solchen wohnen wir sogar.
INHALTSVERZEICHNIS |
© Martin Willing 2012, 2013