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INHALTSVERZEICHNIS |
Pilgerreise nach Polen zu einem „deutschen" Marienerscheinungsort
Und es gibt sie doch - eine Marienerscheinung auf deutschem Boden:
Dietrichswalde. Indes, kirchlich anerkannt wurde die Vision erst 1977,
als der Ort längst wieder zu Polen gehörte.
18
Kilometer liegt Dietrichswalde von der Bezirkshauptstadt Olsztyn, dem
früheren Allenstein, entfernt. Wir reisen über Berlin an - insgesamt
1175 Kilometer. Nichts weist auf die deutsche Vergangenheit hin.
Das wunderbare Bild
der
Heiligen Jungfrau Maria
(16. Jh.) in der Basilika zu Dietrichswalde,
dem
heutigen Gietrzwaldzie in Polen.
Nur einen einzigen Vermerk des deutschen Namens Dietrichswalde finden
wir, versteckt auf einer Schautafel. Niemand spricht oder will deutsch
sprechen; sofort wird auf Englisch umgeschaltet. Diese Erfahrung machen
wir auch an anderen Orten in Polen.
18 Kilometer liegt Dietrichswalde von der Bezirkshauptstadt Olsztyn, dem
früheren Allenstein, entfernt. Wir reisen über Berlin an - insgesamt
1175 Kilometer. Nichts weist auf die deutsche Vergangenheit hin. Nur
einen einzigen Vermerk des deutschen Namens Dietrichswalde finden wir,
versteckt auf einer Schautafel. Niemand spricht oder will deutsch
sprechen; sofort wird auf Englisch umgeschaltet. Diese Erfahrung machen
wir auch an anderen Orten in Polen.
Das sakrale Ensemble in Dietrichswalde wird gebildet von der
Marienkirche und angrenzenden Bauten. Es ist viel weniger raumgreifend
als das in Kevelaer. Die Basilika erreicht gerade das Volumen von St.
Ludgerus Norden. In ihrer Farbenpracht im Innern steht sie freilich der
Kevelaerer Basilika kaum nach. Bauten und Anlagen wirken durchsaniert
oder teilweise wie neu. Das Sanktuarium Maryjne w Gietrzwaldzie wird
heute von den Regulären Chorherren von Lateran behütet.
Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Gnadenbild im Hochaltar der
Basilika zieht den Blick auf sich, eine der schönsten
Mariendarstellungen, die an europäischen Wallfahrtsorten anzutreffen
sind. Wie das Gnadenbild von Kevelaer, hob Rom auch das von
Dietrichswalde durch eine Krone hervor und stellte es in den Reigen der
großen Marienorte dieser Welt. Das Gnadenbild, das schon Jahrhunderte
vor der 1877 eingetretenen Vision im Zentrum von Dietrichswalde stand,
ist auch heute eindeutiger Zielpunkt der Wallfahrt, nicht das
Marienhäuschen, das sich an der Erscheinungsstelle befindet. Eine
vorstellbare Verlagerung des Schwerpunkts der Wallfahrt vom alten
Gnadenbild zur Erscheinungsstelle hat also nach der späten kirchlichen
Anerkennung der Vision von 1877 nicht stattgefunden. Wer vor dem
ungeschützten Erscheinungshäuschen meditiert, muss den Verkehr auf zwei
angrenzenden Straßen übersehen und überhören.
Mit Mühe und Liebe wird der von hohen Bäumen gesäumte Kreuzweg, der von
der Quelle mit dem gesegneten Wasser bis zur Basilika führt, gepflegt.
Auf Holzsimsen der Kreuzwegstationen mit volkstümlichen Malereien liegen
hier und da Rosenkränze. Auch ein winziges Püppchen entdecken wir unter
den von Pilgern zurück gelassenen Gegenständen.
Wir treffen an unserem Besuchstag im August nur wenige Menschen im
Heiligtum an. Im ummauerten Quellenbereich sind gerade einige Frauen
dabei, Wasser abzufüllen. Am Waldrand sehen wir ein großes überdachtes
Podest, auf dem an besonderen Wallfahrtstagen die heilige Messe gefeiert
wird.
Dietrichswalde
hat in Polen und in der Welt bei weitem nicht den Bekanntheitsgrad wie
Tschenstochau, obwohl Dietrichswalde Polens einziger Wallfahrtsort ist,
in dem sich eine kirchlich anerkannte Marienerscheinung ereignet hat.
Kein Zweifel: Wegen der gemeinsamen, traurigen Vergangenheit tut man
sich immer noch schwer mit dem Wallfahrtsort, den während des
dreimonatigen Erscheinungszyklus’ im Jahr 1877 eine halbe Million
Ermländer besuchten, die sich überwiegend als zu Preußen gehörend
fühlten. Und doch: Die Gottesmutter sprach zu den beiden Seherkindern
polnisch, als sie sagte: „Trauert nicht, ich bin immer bei euch“.
Die Erscheinungsstätte in Dietrichswalde.
Ein wunder Punkt, den man im polnischen Gietrzwald, dem früheren
Dietrichswalde, nicht anrührt - die deutsche Vergangenheit. Zum
Königreich Polen gehörend, war das bei Allenstein gelegene Dorf schon im
Hochmittelalter bekannt, denn dem Gnadenbild von Dietrichswalde wurden
Wunder zugesprochen.
Der Höhepunkt, die Marienerscheinung im Jahr 1877, in dem zwei Mädchen
(12 und 13 Jahre alt) vom 27. Juni bis 16. September Marienvisionen
hatten, ereignete sich, als Dietrichswalde deutsch war und in Preußen
Kulturkampf herrschte. Zu Tausenden strömten täglich Beter herbei zur
„Rosenkranz-Madonna“. Untersuchungen des (deutschen) Ortsbischofs im
Erscheinungsjahr fielen zwar positiv aus, eine Anerkennung aber
unterblieb, um den preußischen Staat nicht herauszufordern. Im übrigen
wurde mit Sorge registriert, dass die Erscheinung - die Gottesmutter
hatte sich an die beiden polnisch sprechenden Seherkinder in deren
Muttersprache gewandt - auch Nationalgefühle der Polen auslöste. Eine
neuerliche „deutsche“ Untersuchung im Jahr 1920 brachte ebenfalls keine
Anerkennung, obgleich nichts gegen sie sprach.
Durch die Verschiebung des polnischen Hoheitsgebiets als Folge des
Zweiten Weltkriegs kam Dietrichswalde als Gietrzwald wieder zu Polen.
Das Gnadenbild in der Basilika wurde 1967 von Stefan Kardinal Wyszynski
mit einer päpstlichen Krone gekrönt - im Beisein des späteren Papstes
Johannes Paul II. - so lesen wir in einer am Gnadenort zu erwerbenden
Schrift polnischer Herkunft. Dagegen heißt es im „Marienlexikon“ (hrsg.
Von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk, St. Ottilien 1989), das
Gnadenbild von Dietrichswalde sei bereits 1717 im Auftrag von Papst
Clemens XI. (1700-1721) gekrönt worden, was in der polnischen Quelle
nicht vermerkt wird. Im deutschen „Marienlexikon“ wird ausgeführt, der
spätere Papst Johannes Paul II. sei zur 100-Jahr-Feier am 11. September
1977 in Dietrichswalde gewesen (in der polnischen Schrift wird nur von
1967 gesprochen). Er sei in Vertretung des erkrankten Primas Wyszynski
dort gewesen an jenem Tag, als Bischof Józef Drzazga - ab hier decken
sich beide Informationsquellen - das entscheidende Dekret der
kirchlichen Anerkennung der Marienerscheinung von 1877 ausstellte.
Im Nachkriegsdeutschland ist weithin unbekannt geblieben, dass es mit
Dietrichswalde die einzige kirchlich anerkannte Marienerscheinung auf
(jetzt ehemals) deutschem Boden gibt. Ihre Würdigung in der
Fachliteratur lässt noch zu wünschen übrig - vielleicht, weil der
politische Hintergrund sehr problematisch ist.
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© Martin Willing 2012, 2013