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Pilgerreise in den Marienwallfahrtsort Lourdes
VON DELIA EVERS
Die
Erscheinungsgrotte in Lourdes. Fotos: Delia Evers
Lourdes ist die Stadt, in der Leid und helle Freude so sehr
zusammenwachsen, dass die Gesunden, die zum ersten Mal den Gnadenort
besuchen, verblüfft in die frohen Gesichter der Kranken schauen und an
der eigenen Wahrnehmung zweifeln.
Kein anderer Ort der Welt sieht so viel Elend an Krücken, in Rollstühlen
und auf fahrbaren Betten wie Lourdes; in endlosen Karawanen schieben
Helferinnen und Helfer die Kranken über eigens für sie markierte
Fahrspuren auf den Straßen zu den Prozessionen an die Gnadenstätten der
Stadt. „Mühselig und beladen“ müssten sie aussehen, doch viele Kranke
winken den Menschen in den Straßencafés mit frohem Lachen zu. Die
Menschen winken zurück.
„Bleib
gesund! Gesundheit ist das Wichtigste.“ So heißt es jedes Jahr in
Tausend Wünschen an Silvester. Wenn der Satz stimmte, fehlte den
Kranken, die in Lourdes durch die Straßen geschoben werden, das
Wichtigste. Seltsam, dass sie nicht aussehen, als sei es ihnen abhanden
gekommen.
Momente der Stille im Angesicht der Grotte.
Foto: Delia Evers
Viele reisen hierher, nicht damit ein Wunder nach landläufiger
Vorstellung geschieht und die Krankheit von ihnen abfällt wie eine
Kruste; eine Frau aus unserer Gruppe sagt: „Ich komme, weil ich um Kraft
bitten möchte, meine Krankheit zu tragen.“ Auch sie hat ein frohes
Gesicht. „Kranke und Sterbende sehen das Leben anders als Gesunde,
vielleicht weil sie der Ewigkeit ein Stück näher sind. Da verschieben
sich Gewichte, da wird Gesundheit relativ.“
An
der Grotte bittet sie um Zuversicht, dass trotz aller Einschränkung gut
ist, was geschieht. „Wer krank ist, reift“, sagt sie, „der schaut mehr
nach innen und auf das Ende hin. Der hat Zeit, von all den
Nebensächlichkeiten abzusehen, die den Alltag bestimmen.“
Pilger aus den Bistümern Münster und
Osnabrück. Im Vordergrund: Weihbischof Heinrich Janssen aus Xanten, der
geistliche Begleiter.
Sie sagt: „Die Krankheit hat mich zur Ruhe kommen lassen.“
Vielleicht ist es diese Reifung, die die Gesunden in Lourdes spüren und
die in einigen von ihnen eine Wandlung schafft - in fünf Tagen: Das ist
die Zeitspanne, die die Gruppe aus unserem Kreisdekanat in Lourdes
verbringt.
Acht Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer
zählen dazu. Vom ersten Tag an helfen ihnen die Gesunden aus der Gruppe,
die auf eigenen Beinen stehen und die Kranken quer durch die Stadt
fahren.
Zuerst
sehen sich einige unter den Gesunden als Helfende, als Menschen, die
Zeit, Kraft und Mitgefühl geben. Mehr und mehr verschieben sich auch
ihre Gewichtungen. Sie spüren die Stärke vieler Kranker. Jetzt ist es
die Gesundheit der Helfer, die relativ wird. Sie schieben und lassen
sich schieben.
Kranke und Rollstuhlfahrer haben in Lourdes
immer Vorfahrt.
Zuwendung, Achtsamkeit und Gemeinschaft
bewirken viel in Lourdes. Sie bewegen jährlich Millionen von Menschen.
Es sind kaum schönere Momente christlicher Gemeinschaft denkbar, als
wenn in abendlicher Dunkelheit 20.000 papier-beschirmte Kerzen zum „Ave
Maria“ in den Händen der Gläubigen ihren wogenden Lichterstrom durch den
Heiligen Bezirk senden - alle Menschen mit dem gleichen Ziel: sich im
weltumspannenden Gebet mit ihren Anliegen über die Gottesmutter dem Sohn
zu nähern.
Unvergessene
Erlebnisse: Die Lichterprozession in Lourdes. Hier spürt man Weltkirche.
Das ist Weltkirche, ist die Mater Catholica. Menschen aus ungezählten
Nationen singen und beten. Der immer gleiche Fluss des Vaterunser durch
alle Sprachen hindurch verbindet sie zu einem gewaltigen Gotteslob.
Stunden später liegt der riesige Bezirk vor den wuchtig hoch
geschachtelten Kirchen verlassen da. In den Kerzenständern, die eine
kleine Straße bilden, brennen noch Hunderte von Lichtern und beleben die
Dunkelheit. Eine Frau geht zur Grotte und verharrt lange im Gebet vor
der Lourdes-Madonna - ein intimer Gnadenort im gewaltig großen Bezirk.
Hier geht niemand verloren.
Die
Pilger aus den Bistümern Münster und Osnabrück beteten auch den großen
Kreuzweg in Lourdes. Im Bild: Weihbischof Heinrich Janssen.
Gemeinschaft und intimes Erleben sind auch greifbar in einer der
bewegendsten Stunden der Reise am Abschlusstag bei der Eucharistiefeier
in einer kleinen Kirche im Heiligen Bezirk. Die Pilger aus dem Dekanat
sind - anders als in den vorangegangenen Tagen im Meer der Wallfahrer -
unter sich.
Vertraute Priester spenden die Krankensalbung. Während die, die sich
salben lassen möchten, in den Mittelgang treten, begleiten die Gläubigen
in den Bankreihen sie mit ihren Segenswünschen.
Einer
der Mitpilger: Martin Willing aus Großheide.
Einer von den Pilgern wird später sagen, noch nie in seinem Leben habe
er eine so innige Geborgenheit und reine Zuwendung erfahren wie in dem
Moment, da einer der Priester ihm die Hände auflegte und ein Gebet
sprach. Die Gläubigen begreifen unmittelbar Stärkung und Ermutigung.
Stärkung und Ermutigung - sie geschehen in Lourdes. So traut sich nach
der Messe eine junge Rollstuhlfahrerin, ihre Mitreisenden anzusprechen.
Sie bedankt sich. Das Miteinander der vergangenen Tage sei das größte
Geschenk ihres Lebens. Sie weint, ist kaum noch zu verstehen und spricht
trotzdem weiter.
Für
einen Moment geht die Frage durch den Raum, wie wohl eine Welt aussähe,
in der Menschen unvoreingenommen füreinander einstünden - nicht geteilt
in Starke und Schwache, in Helfer und Hilfsbedürftige. Sie wären
schlicht Menschen, die sich mit ihren Gaben beschenkten.
Mancher Pilger ging am Abend noch einmal zur
Grotte.
Lourdes lässt ahnen, wie friedlich und reich diese Welt wäre.
© Martin Willing 2012, 2013