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Sprengung drohte ... und unterm Turm lag das Gnadenbild
VON MARTIN WILLING
Gnadenkapelle und Basilikaturm wirken in den Händen Mariens wie eine
Einheit. Bert Gerresheim, der Schöpfer der Skulptur, trifft damit den
entscheidenden Punkt: Denn in der Endphase des Krieges, als die Basilika
gesprengt werden sollte, war der Turm viel mehr als nur ein weithin
sichtbares Zeichen. Er war 1945, was kaum jemand wusste, die
Schutzherberge für das Gnadenbild. Beides - Turm und Heiligtum - waren
in höchster Gefahr.
Anfang
März 1945 - britische Soldaten standen bereits im Raum Weeze. Alles war
für die Sprengung der Marienbasilika vorbereitet.
Bischof Dr. Franz-Josef Bode segnete die beiden Gerresheim-Skulpturen an der Basilika zu Kevelaer. Fotos: Martin Willing
Dabei kam es der
deutschen Wehrmacht besonders auf den 93 Meter hohen Turm an, der als
wichtiger Navigationspunkt für die britischen Bomber diente.
Was außer Pastor Wilhelm Holtmann und sieben Eingeweihten niemand
wusste: Die Basilika war zu diesem Zeitpunkt zur „heimlichen
Gnadenkapelle„ geworden, denn unterm Turm der Basilika - zwischen dem
Mittelschiff und dem rechten Schiff - lag das Gnadenbild der Trösterin
der Betrübten vergraben und eingemauert. Bei einer Sprengung hätte es
für immer verloren gehen können.
Pastor Holtmann muss nach seiner Verhaftung und Arretierung in Ratingen
in größter Sorge um das Gnadenbild gewesen sein. Wehrmachtssoldaten
hatten beim Zurückweichen vor den Alliierten bereits einige Kirchen am
Niederrhein in Schutt und Asche gelegt. Kevelaer war verwaist, die
Bevölkerung zwangsevakuiert. Wer könnte die letzten deutschen Soldaten
im Wallfahrtsort daran hindern, die Basilika in die Luft zu jagen? Und
würden die starken Fundamente des Turms das unter den Fußbodenplatten
eingemauerte Gnadenbild wirklich schützen?
Bis dahin war die Basilika bei Bombenexplosionen – am 11. Februar 1945 -
zwar erheblich beschädigt, aber nicht in der Substanz getroffen worden.
Auch beim letzten gezielten Luftangriff auf Kevelaer – in der Nacht zum
2. März 1945 – blieben die Marienkirche weitgehend, die Gnadenkapelle
und die Kerzenkapelle gänzlich verschont.
Inzwischen
war Pastor Holtmann nach Haldern mit der Auflage entlassen worden, das
linksrheinische Gebiet und damit auch Kevelaer nicht zu betreten.
Unmittelbar nach den nächtlichen Luftangriffen auf Kevelaer sollten sich
die letzten in Kevelaer stationierten Wehrmachtssoldaten schnell
absetzen, denn alliierte Truppen hatten bereits, von Weeze aus
vorstoßend, das Gemeindegebiet von Kevelaer erreicht.
Maria stützt Gnadenkapelle und Basilikaturm, ihr Sohn hält schützend seine Hand darüber.
Aber die Männer der Kompanie des Pionier-Bataillons 180, von Zugführer
Peter Staudt aus Aschaffenburg befehligt, hatten noch einen Auftrag
auszuführen, nämlich „die Kirchen, Wasserturm und sonstige auffallende
Punkte zur Sprengung vorzubereiten„. So bestätigte es Staudt später in
einem Brief an Pastor Holtmann. Nach der Sprengung sollten sie sich
schleunigst den über den Rhein bei Wesel zurückflutenden deutschen
Truppen anschließen.
Ein, zwei Tage vor dem Einmarsch der Alliierten in Kevelaer (3. März
1945) hörte eine Frau von den Vorbereitungen zur Sprengung. In dem
Keller eines Hauses am Ortsrand, wo die Frau mit der gesamten
Nachbarschaft Schutz gesucht hatte, war auch eine deutsche Befehlsstelle
mit Telefon untergebracht. Hier bekam die Frau zufällig mit, wie nachts
um 2.30 Uhr der Sprengungsbefehl per Telefon weitergegeben wurde. So hat
es uns Josef Heckens (gest. 2000) überliefert.
Es wurde nie restlos geklärt, was letztlich verhindert hat, dass die
bereits in den Mauern sitzenden Sprengsätze nicht gezündet wurden. Ein
kleiner Trupp Pioniere war in der Nacht zum 2. März 1945 unterwegs zur
Basilika – vermutlich mit dem Ziel, die befohlene Sprengung nun
auszulösen. Doch auf der Hauptstraße wurden die Männer von dem letzten
Luftangriff auf Kevelaer überrascht. Einige der Pioniere wurden getötet,
einige schwer verwundet. In Kellern wurden die Verwundeten notdürftig
versorgt, dann überhastet auf Lastautos verladen und Richtung Wesel
abtransportiert. Zugführer Peter Staudt ließ seine Leute unverzüglich
abziehen - der Befehl zur Sprengung wurde nicht ausgeführt.
Wenig später wurde Staudt, ein Katholik und Angehöriger einer
Marienpfarrei, wegen der Nichtzerstörung des „kriegswichtigen„
Orientierungspunkts in Kevelaer zur Rechenschaft gezogen. Wegen
Befehlsverweigerung sollte er vor ein Kriegsgericht gestellt werden,
doch darüber ging der Frontverlauf hinweg: Staudt geriet in
Gefangenschaft. Als er 1947 in seiner Heimat heiratete und sich seinem
Pfarrer anvertraute (der diese Informationen an Pastor Holtmann in
Kevelaer weiterleitete), sagte er laut Mitteilung des Geistlichen über
die unterbliebene Sprengung der Basilika, dass ihn „seine Tat noch immer
freue„.
Von alledem konnte Pastor Holtmann am 3. März 1945, als die Alliierten
mit Kevelaer die erste nicht zerstörte Stadt am Rhein einnahmen, nichts
wissen. Er erlebte das Kriegsende in Haldern, wo er als junger Kaplan
tätig gewesen war. In der dritten Aprilwoche wurde Holtmann von einem
Kevelaerer „in einer Nacht- und Nebelaktion„, wie Kaplan Erich Bensch in
seinen Erinnerungen notierte, in den Marienort heimgeholt.
Als Holtmann den unzerstörten Turm der Basilika sah, dürfte er ein Gebet
des Dankes zum Himmel geschickt haben. Gleichwohl konnte er das unterm
Turm vergrabene Gnadenbild nicht aus seinem Versteck befreien lassen,
das er nur sieben Menschen, darunter auch Kindern, anvertraut hatte.
Die Basilika war von den britischen
Besatzern beschlagnahmt worden und wurde als Durchgangslager für
ehemalige Kriegsgefangene und Häftlinge benutzt. Zwar wurde das
Gotteshaus Ende August frei geräumt, aber selbst ein Jahr danach war das
Gnadenbild dort immer noch versteckt: „Die wichtigsten Akten mit dem
Gnadenbild und den wertvollen Schätzen sind noch eingemauert. Das
Aufbrechen ist vorläufig unmöglich„, heißt es in einem vertraulichen
Schreiben Holtmanns, das er im August 1946 an den Kapitularvikar in
Münster schickte. Die Gründe hingen vermutlich damit zusammen, dass das
Priesterhaus nach wie vor von den britischen Besatzern beschlagnahmt
war.
Erst im Sommer 1947, nach Instandsetzung und Wiederbezug des
Priesterhauses, konnte Holtmann die Ausgrabung vornehmen. Er,
Goldschmiedemeister Paul van Ooyen und Canisianerbruder Norbert
Hubbeling waren bei diesem ansonsten unbemerkten Vorgang anwesend. „Das
Gnadenbild und alle Gegenstände waren unversehrt", bestätigte später der
Augenzeuge Paul van Ooyen.
Gedenkbuch für über 1000 Todesopfer des Zweiten Weltkriegs.
Die beiden neuen Gerresheim-Skulpturen an der Marienbasilika, die sich
zuwenden, greifen die zwei Gesichter des Wunders von Kevelaer auf:
Zum einen ist zu danken für die Verschonung von Gnadenkapelle und
Basilikaturm und damit auch des Gnadenbildes; ihr Überleben steht
stellvertretend für die Verschonung Kevelaers. Auch wenn erhebliche
Schäden und Todesopfer nach Bombenangriffen zu beklagen waren, hat
Kevelaer kein so schreckliches Schicksal wie Kleve, Goch oder Wesel
erleiden müssen, die fast restlos zerstört wurden.
Zum anderen ist mahnend daran zu erinnern, dass im Kevelaerer Gedenkbuch
der Toten des Zweiten Weltkriegs über tausend Namen stehen - Soldaten,
die an fernen und nahen Fronten ihr Leben verloren haben, Einwohner, die
in Kevelaer Opfer geworden sind, Kevelaerer, die in ihren
Evakuierungsorten fern der Heimat den Tod gefunden haben.
In ihren letzten Stunden waren sie nicht allein. Es ist vielfach
bezeugt, dass Soldaten aus Kevelaer das kleine Bild der Trösterin der
Betrübten am Herzen trugen, als sie in den Schützengräben lagen. Und
niemand weiß, welche Wunder sich ereigneten, als die Soldaten beteten:
„... bitte für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes."
© Martin Willing 2012, 2013