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Kapitel A

Der Kapellenplatz sieht aus wie ein durchpflügtes Feld. Was die Panzerketten beim Einmarsch der Alliierten im März 1945 angerichtet haben, ist noch gegenwärtig, als wäre es gerade geschehen. Seit der Kapitulation sind acht, neun Monate ins zerstörte Land gezogen, und in Kevelaer ist jetzt - wie überall - nichts wichtiger, als Brot und Kartoffeln zu organisieren und für ein Dach über dem Kopf zu sorgen. Täglich schwärmen die Menschen aus, um irgendwo Brauchbares oder Essbares aufzutreiben.

Bei einer dieser Fahrten machen zwei Winnekendonker einen skurrilen Fund: Sie stoßen im Schrott am Neusser Hafen auf den Bronzesoldaten, der im Krieg als Rohstofflieferant abgeliefert werden musste. Wenigstens er hat überlebt und kommt bald wieder auf seinen Denkmalsockel im Dorf.

Tausende Flüchtlinge hausen in den Hinterhöfen der Hotels. Jedes Haus, dem Bewohnbarkeit attestiert wird, ist bis zum Unerträglichen überbelegt. Die britischen Besatzer verschärfen die Wohnungsnot, weil sie alles, was heil geblieben ist, für sich beschlagnahmen.

Das Mädchen Hildegard, Tochter des noch kriegsgefangenen Jakob Schmitz, der sich 1941 so mutig für den von den Nazis verleumdeten Bischof von Münster eingesetzt hat, zieht jeden Tag von Feldküche zu Feldküche. „Dort gab es manchmal auch was für uns.“ In der Basilikastraße 33, wo ihre Mutter mit den Geschwistern lebt, fließt kein Wasser, kein Strom, und der Schornstein ist verstopft.

Bei Butzon & Bercker, wo ihr Vater als Buchbinder gearbeitet hat, laufen die Maschinen wieder. Verleger Edmund Bercker startet 1946 seine neue Reihe „Berckers Kleine Volksbibliothek“ - kleine Hefte wie die von Reclam. Sie werden vom ausgelaugten Markt regelrecht aufgesogen, und schon bald produziert Bercker mehr als eine Million Hefte. Wilhelm Otterbeck, dessen Schuhfabrik in Kervenheim zerstört ist wie das ganze Dorf, hat es schwerer. Otterbeck wirft alles in die Waagschale und fängt mit dem Wiederaufbau an - ein Segen für die heimkehrenden Kervenheimer, die hier ihr Brot verdienen können. Einen Neuanfang wagt auch Otto Tenhaef: Er lässt zum Jahresbeginn 1946 seinen Bierverlag in den Räumen einer ehemaligen Likörfabrik aufleben.

Unvorstellbares leisten die Kevelaerer Hausärzte, die - so wissen wir von Dr. Franz Oehmen und Dr. Alfons Hölzle - rund um die Uhr im Einsatz sind und das an sieben Tagen in der Woche. Hausgeburten? Eine Flasche Chloroform in Reichweite und die Hebamme zur Seite, das muss reichen.

Anfang 1946 erschüttert eine gewaltige Detonation die Innenstadt: An der Ecke Weezer/Lindenstraße sollte ein Hochbunker gesprengt werden, doch er explodiert unkontrolliert, weil die Sprengstoffmenge falsch berechnet war. Stahlbetonbrocken zerschlagen die Dächer umliegender Häuser.

Nur von der britischen Militärbehörde geht Autorität aus, nicht aber von der deutschen Polizei, die weder uniformiert noch bewaffnet ist. Diebstähle und Überfälle sind an der Tagesordnung. Schutz können die Polizisten den Bürgern nicht geben.

Auch in den Rathäusern herrscht eher Verwirrung als Aufbruchstimmung. Die Besatzer verlangen rigoros, jeden aus dem Amt zu entfernen, der nicht überzeugend entnazifiziert ist. In allen Gemeinden müssen Entnazifizierungsausschüsse gebildet werden, so auch in Kevelaer. Wer NSDAP-Mitglied gewesen ist, muss 128 Fragen auf acht Seiten beantworten. Und wer sein „harmloses Mitläufertum“ nicht beweisen kann, hat jahrelanges Berufsverbot hinzunehmen. So fehlen in der Wirtschaft, aber auch in den Rathäusern Fachleute für den Wiederaufbau.

Ständig kommen neue Direktiven der Militärs heraus, denen peinlichst genau Folge geleistet werden muss, um harter Bestrafung zu entgehen. Ende Januar 1946 wird von den Bewohnern im Kreis Geldern verlangt, die Bücherregale zu durchforsten und jedes Druckwerk, auf dem ein Hakenkreuz zu sehen ist, innerhalb von 14 Tagen abzuliefern.
Streng verboten ist der Verkauf von Lebensmitteln an Auswärtige, aber massenhaft wird auf den Höfen in Kevelaer und Umgebung getauscht: Hungrige Menschen aus den größeren Städten suchen auf ihren Hamsterfahrten aufs Land verzweifelt nach ein paar Kartoffeln oder Eiern. Legal sind Warentauschzentralen, von denen es auch in Kevelaer eine gibt. Getauscht werden dürfen Gebrauchsgegenstände, aber keine Lebensmittel oder Genussmittel. Die gibt‘s allerdings auf dem Schwarzmarkt.

Rund um den Kapellenplatz blüht dieser Schwarzhandel. Die Währung ist die Zigarette, die einem Wert von zwei Mark entspricht. Gewiefte Schwarzmarkthändler wie der jugendliche Postlehrling Hans Willems, der spätere Fraktionsvorsitzende im Kevelaerer Rathaus, verfügen kofferweise über Geld und sind, jedenfalls auf dem Papier, zeitweilig die reichsten Männer Kevelaers. Sie arbeiten mit den britischen Besatzern, die offiziell den Schwarzmarkt bekämpfen, zusammen, denn die Briten brauchen in ihren Kasinos mehr Bargeld, als sie haben, und was fehlt, beschaffen sie sich durch Verkauf von Zigaretten. Ausgegeben wird es in der Offiziersmesse Kölner Hof, in der Mannschaftsmesse Goldener Apfel und in der Unteroffiziersmesse an der Hauptstraße. Dort geht abends die Post ab, während rund um den Kapellenplatz ihre Kollegen die Schwarzmarkthändler jagen.

Die Familien in Kevelaers Innenstadt wissen kaum, wie sie sich über Wasser halten sollen. Viele Kinder sind unterernährt. Für sie bessert sich die Lage ab Februar 1946, als in Kevelaer die Schulspeisung eingeführt wird. Gesundheitlich gefährdete Kinder werden vom Kreis Geldern in Erholungskur geschickt.

Zuweilen erscheinen in der Gelderner Post Anzeigen so wie diese vom 2. Februar 1946, die ein Kevelaerer Bürger von der Bahnstraße aufgegeben hat: „Wer nimmt einen elternlosen zweijährigen Jungen an Kindesstatt an?“

Der plötzliche Tod von Clemens August von Galen am 23. März, dessen Ernennung zum Kardinal gerade noch gefeiert worden ist, löst tiefe Betroffenheit aus. Vier Tage nach dem Ableben des Münsteraner Bischofs berichtet die Rheinische Post unter der Überschrift „Graf Galen sollte gehängt werden“ über neue Erkenntnisse aus Dokumenten, die in den Trümmern des Reichspropagandaministeriums in Berlin gefunden worden sind.

Danach habe Goebbels während des Kriegs gegenüber den Kirchen „den Schein wahren wollen“. Man solle „eine Rache nie heiß genießen, sondern kalt“. Nach dem Krieg seien die Kirchen zu enteignen und der Bischof von Münster aufzuhängen. Diese „Maßnahme“ sei mit einer „eingehenden Begründung“ zu verbinden.

Im Frühjahr 1946 erhält das Kevelaerer Rathaus seine erste Doppelspitze nach dem neuen britischen System - mit dem hauptamtlichen Amts- und Gemeindedirektor  Fritz Holtmann und dem ehrenamtlichen Amts- und Gemeindebürgermeister Peter Plümpe. Während Holtmann bereits per Wahl ins Amt kommt, ist Plümpe von der britischen Kommandantur lediglich ernannt. Das hat Methode und wird überall so gehandhabt, denn auf den politischen, nunmehr ehrenamtlichen Bürgermeister haben die Briten ein besonderes Augenmerk. Sie hätten den Bürgermeister von den Ratsmitgliedern, die sie eingesetzt haben, wählen lassen können - wie den Verwaltungschef. Aber die Briten trauen den Deutschen nicht und besetzen die Posten mit unbelasteten Leuten ihrer Wahl selbst. Die ersten freien Kommunalwahlen lassen bis September auf sich warten.

Zwar haben die meisten Menschen von der Politik die Nase voll, doch überall finden sich auch welche, die sich jetzt erst recht politisch engagieren, um das neue Deutschland aufzubauen. Am 1. März 1946 wird die SPD im Kreis Geldern erneut ins Leben gerufen, fünf Tage danach folgt, ebenfalls in Geldern, die Gründung der neuen Partei CDU.

Im Laufe des März kommt im Eckhaus Wettener Straße 1 eine kleine Gruppe von Kevelaerern zusammen, denen die CDU politisch zusagt und die nun in Kevelaer eine Ortspartei gründen wollen. Jupp Tenhaef, der Heimatdichter, ist darunter, ferner Heinrich Uselmann, Peter Sürgers, Kaplan Erich Bensch, Willy Dierkes, der spätere CDU-Fraktionsvorsitzende, und andere. Rasche Gründung sei notwendig, denn Rechtsanwalt Heinrich van Straelen und andere bekannte Kevelaerer könnten mit ihrer geplanten Wiedergründung des Zentrums wichtige Wählerschichten an sich binden, wenn keine Alternative geboten werde.

Die gut besuchte Gründungsversammlung Anfang April 1946 im Heidelberger Fass wird von Theodor Bergmann geleitet. Er gibt das Wort an Dr. Schreiber vom CDU-Landessekretariat in Köln, der die politische Lage in den vier Besatzungszonen Deutschlands schildert. Gerade die Verhältnisse in der Ostzone verlangten, „einen Block gegen alle antichristlichen und antidemokratischen Kräfte zu bilden“. Die CDU sei das Sammelbecken aller Christen und Demokraten. Ihr Ziel sei es, ein „Deutschland zu schaffen, das seiner großen abendländischen Tradition bewusst“ sei.

Die Gründung der Kevelaerer CDU-Ortspartei wird förmlich vollzogen; ihren ersten Vorstand stellen Theodor Bergmann, der Vorsitzende, Wilhelm Herx, Heinrich Urselmann, Joseph Berger und Jupp Tenhaef.

Während überall in den drei Westzonen neue Parteistrukturen für die Zukunft des demokratischen Deutschlands aufgebaut werden, bestimmen die Außenminister der vier Siegermächte in Paris über die deutschen Köpfe hinweg. Die Sowjets fordern Ende April, dass die Reparationslieferungen aus Deutschland in die Sowjetunion sichergestellt werden und dass das Ruhrgebiet unter Vier-Mächte-Kontrolle kommt.

Bereits jetzt zeichnet sich ein Disput zwischen Ost und West ab - ein Vorbote des kalten Kriegs zwischen den Sowjets und den Westalliierten USA, England und Frankreich. Die Westmächte verhindern - immerhin - noch Schlimmeres für die Menschen in ihren drei Besatzungszonen.
Kapitel A

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© Martin Willing 2012, 2013