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    SACHBEGRIFFE |
Willems, Hans

SPD-Politiker in Kevelaer | * 1929 | † 1998

 

Foto zeigt Hans WillemsDie Geschichte des „wilden Jungen Hans“ beginnt im April 1946, als die Kevelaerer auf Lebensmittelkarten angewiesen sind: Tausend Kalorien am Tag...

Gegen den erbitterten Widerstand der Militär- und Zivilbehörden setzt sich der Schwarzmarkthandel durch. In Kevelaer bilden Eingänge und Torwege rund um den Kapellenplatz das „Schwarzmarkt-Zentrum“. Wer etwas anzubieten hat, kaufen oder tauschen will, kommt hier schnell zur Sache.

Bis 21 Uhr müssen die Geschäfte abgewickelt sein, denn nun setzt die Sperrstunde ein. Niemand darf sich dann noch blicken lassen.

Zu den Schwarzhändlern von Kevelaer zählt auch der Jugendliche Hans Willems, der am 1. April 1943 seine Lehre beim Postamt Kevelaer begonnen hat und schon wenige Wochen danach als Briefzusteller im bombenzerstörten Krefeld eingesetzt ist. Ein Jahr später, Hans ist 15 Jahre alt, erlebt der Junge, wie fast täglich Telegramme mit Todesmeldungen von der Front im Postamt Kevelaer eintreffen, die sofort an die NSDAP-Ortsgruppenleiter weiterzuleiten sind. Der bringt die Nachrichten meist zusammen mit einem Geistlichen zu den betroffenen Familien. Man weiß schon, wenn sie an eine Haustür klopfen: Dann ist wieder ein Kevelaerer Soldat gefallen. 

Die Familie Willems wird nach Käthen in Sachsen-Anhalt evakuiert: Vater Johann Willems, Mutter Gertrud und die fünf Kinder, darunter der jüngere Bruder von Hans, Karl Willems, der spätere Bürgermeister von Weeze. Im Januar 1945, einen Monat vor seinem 16. Geburtstag, wird Hans Willems gemustert. Er meldet sich freiwillig zur Luftwaffe und erhält einen entsprechenden Wehrmachtspaß, kommt aber nicht mehr zum Einsatz. Noch im März 1945, knapp zwei Monate vor Kriegsende, wird Vater Johann als 50-Jähriger nach Braunschweig eingezogen.

Als der Krieg beendet ist, kehrt der Vater nach Köthen in den Evakuierungsort seiner Familie zurück, wo auch andere Kevelaerer Familien leben. Hans erhält den Auftrag, sich mit dem Fahrrad nach Kevelaer durchzuschlagen, um nach dem Haus zu sehen, das die Familie in Kevelaer an der Kroatenstraße besitzt. Zugverbindungen bestehen zu diesem Zeitpunkt nicht.

Der 16-jährige Hans, inzwischen beim Postamt Stendal beschäftigt, besitzt einen Dienstausweis in deutscher, französischer und englischer Sprache, und mit dem kommt er durch sämtliche Sperren. Er wird von zwei Mädchen aus Weeze begleitet. Im Westfälischen, wo sie bei einem Bauern übernachten, erleben sie, wie eine bewaffnete Bande polnischer Männer den Hof überfällt und die Leute ausraubt. Gut acht Tage dauert die Fahrradtour von Sachsen-Anhalt bis Kevelaer. Anfang Juni 1945 kommen die Drei in Kevelaer an. Das Elternhaus von Hans, gleich neben der Turnhalle an der Kroatenstraße, findet der Junge durch die Briten beschlagnahmt vor. Es ist intakt, aber sämtliche Habe ist verloren.

Die später nachkommende Familie Willems findet Unterkunft in einer Notwohnung im Kevelaerer Wasserturm. Hans lernt die Besatzer am eigenen Leib kennen, als ihn ein belgischer Soldat vor sich hertreibt und mehrmals in den Hintern tritt. Am Bahnhof Kevelaer erlebt Hans erschütternde Szenen, wenn die aus dem Zug steigenden Menschen aus Kevelaer von Militärpolizisten gefilzt werden und versteckte Lebensmittel herausrücken müssen.

Frauen und Männer, denen man ihren Hunger in den Augen ablesen kann und die irgendwo 20, 30 Kartoffeln haben organisieren können, bekommen Weinkrämpfe, als ihnen die Lebensmittel weggenommen werden. Das Schreien und Weinen an der Sperre im Bahnhof werden viele Kevelaerer nicht mehr vergessen. Diese Schlüsselerlebnisse bringen den Jugendlichen Hans dazu, sich mehr und mehr dem organisierten Schwarzhandel zuzuwenden.

Der illegale Markt wird lebenswichtiger als der legale. Möglich ist er nur deswegen, weil nicht wenige unter den Besatzern eine der Grundlagen dafür legen: Sie stehlen Waren aus ihren schier unerschöpflichen Vorräten und verkaufen sie an deutsche Schwarzhändler, um Reichsmark zu bekommen. Die ist das Zahlungsmittel in den Gaststätten und Kasinos der Besatzer, so in der Offiziersmesse im „Kölner Hof“, in der Mannschaftsmesse „Goldener Apfel“ und in der Unteroffiziersmesse in einem Lokal an der Hauptstraße.

Ein alliierter Soldat verkauft Woche für Woche dem Jungen Hans 300 Zigaretten für zwei Mark pro Zigarette, die auf dem Schwarzmarkt einen Wiederverkaufswert von fünf Mark hat. Das geht so ein halbes Jahr lang. Die Zigarette ist ein sehr wirksames Zahlungsmittel unter den Deutschen. Bei dem Jugendlichen stapelt sich das Geld, und gemessen an der Summe der aufgedruckten Werte zählt Hans zeitweilig zu den „reichsten“ Leuten in Kevelaer. Er ist wenig davon beeindruckt, als er bei der Post angezeigt wird, er sei in den Schwarzhandel verwickelt. Diese Form des Überlebens ist zwar offiziell, nicht aber in den Augen der Bevölkerung ein Vergehen.

Da Hans beim Postamt Kevelaer zur Zeit keine Arbeit hat („Du bekommst Bescheid“), wird er als Hilfskoch im Ausländerlager „Am Schenken“ dienstverpflichtet. Wer am riesigen Kochtopf steht und rührt, damit nichts anbrennt, leidet selbst keinen Hunger. Unterdessen wird das Brocks-Gebäude an der Marktstraße geräumt; hier zieht das Postamt Kevelaer ein. Darüber nimmt Postamtsleiter Eugen Jüttemeier Wohnung.

Die Familie von Hans Willems kann später vom Wasserturm in eine Unterkunft an der Brunnenstraße umziehen, wo ein Onkel lebt. Hier sitzen die Leute abends gerne in ihren Hauseingängen und unterhalten sich mit den Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Aber die belgische Militärpolizei ist pingelig: Zwar sind sie nicht auf der Straße, was ab 21 Uhr verboten ist, aber sie sind auch nicht im Haus. Hans wird eines Tages wegen eines solchen Verstoßes gegen das Ausgehverbot festgenommen, muß eine Nacht auf der Polizeiwache in der Venloer Straße, eingepfercht in einen Raum mit rund 30 Personen, verbringen und wird einige Wochen später mit 50 Reichsmark Geldstrafe belegt. Die zahlt Hans leicht. Geld spielt für ihn keine Rolle.

Eines Tages taucht am Kapellenplatz Militärpolizei auf. In einem Torweg neben dem Lokal „Zum Goldenen Apfel“ stehen rund 20 Leute und machen Schwarzmarktgeschäfte. Ein Polizist verlangt, daß sämtliche Taschen geleert werden. Hans sieht seine Felle schwimmen, denn am ganzen Körper hat er Zigaretten versteckt. Er schubst einen aus der Gruppe gegen den Polizisten und schreit: „Rette sich, wer kann!“ Die allermeisten können untertauchen, Hans wird identifiziert und bekommt eine Vorladung ins Priesterhaus, das von der Militärbehörde besetzt ist. Da er noch Jugendlicher ist, kommt er mit einer Geldstrafe von 100 Reichsmark davon. Auch die bezahlt Hans aus der „Portokasse“.

Hans gehört zu einer Gruppe von sieben, acht Jugendlichen, die regelmäßig Streifzüge unternimmt und dabei alliierte Warenlager am Bahnhof oder ein riesiges Warenlager in Wetten heimsucht, wo sie es beispielsweise auf noch brauchbare Reifen ausrangierter Fahrzeuge abgesehen hat. Beim Einbruch ins englische Lager am Bahnhof interessiert die Jugendlichen besonders Schokolade. Sie müssen höllisch aufpassen, denn die Briten haben dünne Drähte gezogen, und sobald sie berührt werden, steigt eine Leuchtrakete auf, und die Posten schießen sofort. Nicht nur einmal fliegen dem flüchtenden Hans Willems Kugeln um die Ohren.

Aber auch weniger spektakuläres „Organisieren“ wird streng verfolgt. Die Zeitung meldet:

„Der Kommandant der Militärregierung für den Kreis Geldern, Major Futter, weist in einer Bekanntmachung darauf hin, daß in letzter Zeit häufiger Kinder unter 16 Jahre die Grenze nach Holland und Belgien überschreiten, um Lebensmittel zu kaufen oder gegen Waren einzutauschen. Die Eltern aller Kinder, die die Grenze aus diesem oder anderem Grunde überschreiten, werden zusammen mit den Kindern vor das Militärgericht gestellt und wegen Verletzung der Grenzbestimmung schwer bestraft.“

Nach den schlimmen, von Hunger und anarchischen Verhältnissen gekennzeichneten Jahren wird auch aus dem „wilden“ Jungen Hans Willems ein geachteter Bürger. 1949, nach Verselbständigung des ÖTV-Zweigs „Post“ zur Postgewerkschaft in Kevelaer, beruft man den Postbeamten Hans Willems zu ihrem ersten Vorsitzenden. 1953 tritt er der SPD bei und führt ab 1957 viele Jahre die SPD-Fraktion im Kevelaerer Stadtrat.

In der Kommunalpolitik läßt sich Hans Willems, ein überaus talentierter Schachspieler, der jahrzehntelang im Kevelaerer Schachclub die Nr. 1 ist, nicht auf Spielchen ein. Kompromißlos setzt er sich in Zeiten, da die Mitgliedschaft in der SPD das Ende der Karriere oder Blockade des beruflichen Fortkommens bedeuten kann, für „den kleinen Mann“ ein. Aus seinen insgesamt fast fünf Legislaturperioden in Rat und Kreistag bleibt ihm ein Erfolg seiner Arbeit als der wichtigste in Erinnerung: Bürger in der Gelderner Straße, deren gemietete Häuser von der Stadt an ein Autohaus verkauft werden sollen, müssen nicht ausziehen, sondern können ihr Heim erwerben. Daß die Gelderner Straße von schönen Stadthäusern flankiert und nicht von Neubauten mit hohen Mieten beherrscht wird, geht auf diese Zeit zurück.

Es ist eine wirre Zeit und eine Zeit der Verwirrung. Zum 1. Januar 1957, bald zehn Jahre nach der feierlichen Verabschiedung des deutschen Grundgesetzes, wird Hans Willems aus der KAB Kevelaer hinausgeworfen: Wegen seiner Ratskandidatur, so die schriftliche Begründung, für die SPD. Das hält den Sozialdemokraten aber nicht davon ab, als Fraktionsvorsitzender seine Unterschrift unter die Ehrenbürgerurkunde von Heinrich Maria Janssen zu setzen.

Hans Willems starb 1998. Zu seinen politischen Gefährten hatte er in den letzten Jahren kaum noch Kontakt.

© Martin Willing 2012, 2013