Es ist die
Hoffnungslosigkeit, die die Menschen niederschlägt. Seit
anderthalb Jahren regieren die Besatzer mit absolutem
Herrschaftsanspruch. Aus der Asche steigt kein Phönix empor, und im
Trümmerland herrscht Chaos wie auf einem sinkenden Schiff: Die meisten
denken an sich selbst.
Die brennende Not der ungezählten Menschen, die mit weniger als tausend
Kalorien am Tag auskommen müssen, keine Arbeit und keine Wohnung haben,
bestimmt das Denken und Handeln. Wer erinnert sich noch an den Staat
Preußen, der Anfang 1947 mit einem Federstrich des Alliierten
Kontrollrats - nach 246 Jahren - für immer von der Landkarte
verschwindet?
Das in vier Besatzungszonen zerrissene Land hat keine Perspektive.
Niemand kann sich zur Jahreswende 1946/47 vorstellen, dass aus
Rest-Deutschland einmal zwei deutsche Staaten entstehen.
Die Leute im Kevelaerer Rathaus, die Kommunalpolitiker
und Bediensteten, haben keine Zeit für ausschweifende
Zukunftsdiskussionen. Sie arbeiten und leben wie die Menschen in der
Gemeinde von der Hand in den Mund und ahnen nicht, dass sie am Aufbau
einer Bundesrepublik mitwirken. Das haben nur sehr wenige Politiker im
Blick wie der pragmatisch handelnde und visionär denkende Konrad
Adenauer, der spätere erste Bundeskanzler.
Auch als zum 1. Januar 1947 die britische und amerikanische Zone zur
Bizone vereinigt werden, taucht am Horizont der Vorstellungen noch kein
neuer demokratisch verfasster Staat auf. Den Parlamentarischen Rat, den
später elf Ministerpräsidenten bilden werden, gibt es noch nicht.
Die Kapitulation auf den Schuttbergen des besiegten Deutschlands und die
Ohnmacht gegenüber nackter Not stecken in den Köpfen und bestimmen das
Denken der Besiegten. Befreiung? Das mag das Gefühl jener sein, die seit
März 1945 durch das Lager für ehemalige Kriegsgefangene und
Fremdarbeiter in Kevelaer geschleust werden - bis zu zwei Millionen
Menschen aus 58 Ländern. Das
Displaced-Persons-Camp an der
Feldstraße sorgt für die Rückführung der Verschleppten in ihre
Heimatländer, darunter viele Polen. Am Tag, als das DP-Camp nach
anderthalb Jahren aufgelöst wird - 1.11.1946 -, wird in Krakau der
26-jährige Pole Karol Wojtyla zum Priester geweiht. Fast 41 Jahre später
wird er als
Papst
Johannes Paul II. Kevelaer besuchen.
Die erste
freie Wahl, die die Kevelaerer nach dem Krieg vornehmen dürfen,
ist am 15. September 1946. Die neue Partei, die CDU, schneidet extrem
gut ab und erzielt im Kreis Geldern 76,8 Prozent der Stimmen; die SPD
muss sich mit 12,1 Prozent begnügen. Die FDP nimmt an dieser Wahl noch
nicht teil; sie wird im Kreis Geldern erst am 1. Februar 1947 gegründet
werden.
Dass künftig die Gemeinderäte die Stellung der früheren Bürgermeister
einnehmen und für die Verwaltungsführung in den Rathäusern die
politische Verantwortung tragen, ist so neu, dass Major Kirkman von der
Militärregierung in Geldern am 19. Dezember 1946 den Politikern
Instruktionen erteilen muss: Es sei zweckmäßig, die Aufgaben auf mehrere
Ausschüsse zu verteilen. Mitglieder dieser Ausschüsse könnten nur
Vertreter der Gemeinderäte werden, weil allein sie durch ihre Wahl das
Vertrauen der Bevölkerung hätten. In Kevelaer werden 13 Ausschüsse
gebildet, in denen die politische Vorarbeit geleistet wird.
In erster Linie muss eklatanter Mangel verwaltet werden. Gab es bis
dahin zwischen 12 und 16 Uhr keinen Strom, liefert das RWE im
bitterkalten Januar 1947 tagsüber überhaupt keine Energie mehr - weder
für die Betriebe, noch für die Privatwohnungen. Die radikale Stromsperre
reicht von 8 bis 17 Uhr und von 23 bis 6 Uhr.
Der Inhaber eines größeren Schlosserbetriebs in Kevelaer meldet sich in
einer Zeitung zu Wort:
► „Was haben sich eigentlich die
verantwortlichen Stellen bei Einführung dieser neuen Sperrmaßnahmen
gedacht? Strom sparen? Ich möchte wissen wie? Wir sind jetzt gezwungen,
in unserem Betrieb einen Teil der Belegschaft von 17 bis 23 Uhr arbeiten
zu lassen. Dadurch, dass wir jetzt nur noch während der Dunkelheit
arbeiten, wird natürlich zusätzlich erheblich mehr Strom für Beleuchtung
verbraucht. Ich sehe ganz davon ab, dass wir außerdem auch mehr
Heizmaterial benötigen, da wir durch die zerrissenen Arbeitsstunden von
17 bis 23 Uhr bzw. von 6 bis 8 Uhr den Betrieb fast ununterbrochen warm
halten müssen. Dabei ist sehr die Frage, wie lange wir dieses
kostspielige Experiment bei der Knappheit an Heizmaterial durchhalten
können. Halten die Sperrmaßnahmen länger, sind die ersten Entlassungen
unvermeidlich. Im übrigen darf ich bei der Gelegenheit darauf hinweisen,
dass bereits andere weniger leistungsfähige Betriebe des Kreises Geldern
aus diesen Gründen ihre Arbeit einstellen mussten. Selbst wenn wir die
angeordneten Einsparungsmaßnahmen als notwendig hinnehmen, so bleiben
sie von unserem Standpunkt aus in jedem Falle unsinnig und unrationell.“
So ruhig und sachlich wie der betroffene Schlosser
reagieren nicht alle. Mitte Januar reißt einigen Frauen in einer
Warteschlange vor einer Gelderner Bäckerei die Geduld. Aufgebracht
zertrümmern sie die Schaufenster. Selbst wer seine Ration, die ihm die
Lebensmittelkarten zuteilen, ergattern kann, muss weiter hungern. Im
März 1947 stehen jedem Einwohner im Kreis Geldern täglich nur 960
Kalorien zu. Und sogar auf diese kümmerliche Ernährung müssen sie
verzichten, wenn der Laden, vor dem sie stundenlang Schlange gestanden
haben, plötzlich ausverkauft ist.
Obwohl Kevelaer von Land und Höfen reichlich umgeben ist, spitzt sich
die Unterversorgung der Bevölkerung im Sommer 1947 dramatisch zu. Obwohl
inzwischen 1.550 Kalorien pro Tag zugeteilt werden sollen, reichen die
Vorräte an Fleisch, Gemüse und Kartoffeln in den Ausgabegeschäften nicht
einmal für die Hälfte. Mit 787 Kalorien im Durchschnitt müssen sich die
Kevelaerer 24 Stunden lang zufrieden geben. Allein ein Big Mäc mit
Pommes, den man sich heute bei Mc Donald‘s als Zwischenmahlzeit gönnt,
hat mehr Kalorien.
Der Kevelaerer Gemeinderat, der die
mangelhafte Versorgung in einer Krisensitzung aufgreift, bezeichnet das
Zuteilungsverfahren als die Ursache der Misere. Nicht Kevelaer, sondern
Nieukerk, von wo aus die Verteilung zentral gesteuert werde, sei für die
Unterversorgung verantwortlich. Und sie kündigen mutig und entschlossen
Widerstand an: Sollte das für Zuteilungsfragen zuständige
Landesernährungsamt in Bonn nicht einverstanden sein, dass Kevelaer die
Versorgung künftig selbst in die Hand nehme, werde hier Schlachtvieh für
die eigene Ernährung zurückgehalten. „Der Gemeinderat übernimmt
gleichzeitig die aus diesem Schritt entstehenden Konsequenzen“, heißt es
in dem Beschluss.
Zur ebenfalls mangelhaften Gemüseversorgung stellt Kevelaer den Antrag,
dass die im Amtsbezirk wohnende Bevölkerung direkt bei den
Gemüsezüchtern im Sperrgebiet kaufen dürfe. Ein dritter Antrag soll
bewirken, dass Sachverständige aus Kevelaer hinzugezogen werden, wenn
neue Marktbestimmungen für die Kartoffelversorgung erlassen werden.
Seit wenigen
Monaten ist die Beschlagnahme des
Priesterhauses aufgehoben. Pastor
Wilhelm Holtmann ist seit Frühjahr 1947 wieder Herr im eigenen Haus
und kann mit der Renovierung des ehemaligen Klosters und der
Basilika beginnen. Besonders die Marienkirche ist von
„Nachkriegsschäden“ hart betroffen: Hier sind täglich bis zu 8.000
Menschen, die in ihre Heimatländer entlassen werden sollten,
durchgeschleust worden.
Im Innern ist das Gotteshaus in einem empörenden Zustand: verdreckt,
verrümpelt, verschandelt.
„Frühjahrsputz in Kevelaer“ meldet eine Zeitung im April 1947: „Das
Ortsbild ist schöner geworden - Trümmerstätten verschwinden.“ Wenn man
jetzt samstags durch die Straßen Kevelaers gehe, so sehe „man die Frauen
wieder nach altem Brauch bei der Säuberung der Bürgersteige und Straßen.
Die Trümmerhaufen, die noch im vergangenen Jahr den Einheimischen wie
den Besuchern unangenehm auffielen, sind größtenteils beseitigt. Der
Gesamteindruck des Wallfahrtsortes ist dadurch schon wesentlich
freundlicher geworden, obgleich noch nicht alle Kriegsschäden und
Trümmerstätten verschwunden sind.“
Sogar im Marienpark blüht es wieder, seitdem die Müllhalden, die hier
wild aufgeschüttet wurden, abgeräumt worden sind. Während von dem
zerbombten Heimatmuseum im Marienpark fast nichts mehr zu sehen ist, hat
sich an der Ruine der Pfarrkirche St. Antonius nichts geändert. Von
einem Wiederaufbau des Gotteshauses kann noch lange keine Rede sein.
Im Mittelpunkt Kevelaers, am Kapellenplatz, ist das
Pflaster neu gelegt worden. „Hier sieht es fast friedensmäßig aus“,
meldet der zeitgenössische Zeitungsbericht. „Nur die Zerstörungen am
Priesterhaus und an der Beichtkapelle bestehen noch.“
Etliche Panzergräben sind verfüllt - allerdings mit Müll. Auf einer
Strecke von rund zehn Kilometern haben Bauern in Selbsthilfe
Panzergräben eingeebnet.
Was aus Deutschland werden soll,
gewinnt langsam an Konturen - allerdings auf irritierende Weise. Die
Alliierten haben sich zwar im Potsdamer Abkommen darauf verständigt,
Deutschland als Einheit zu behandeln. Aber nicht einmal in den drei
Besatzungszonen der Westalliierten wird gemeinschaftlich und einheitlich
vorgegangen; vielmehr stellt jede Besatzungsmacht die Weichen in ihrem
Zuständigkeitsgebiet nach eigenem Gutdünken.
Großbritannien hat für seine Besatzungszone eine neue politische
Einteilung verfügt. So sind am grünen Tisch am 23. August 1946 die
Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hannover entstanden,
wobei Hannover ein halbes Jahr später unter Einbeziehung der ehemaligen
Länder Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zum Land
Niedersachsen umgewandelt wird.
Für den 20. April 1947 wird die erste Wahl zum Landtag
von Nordrhein-Westfalen angesetzt. Im Kreis Geldern ist Dr. Bruno Six
der Kandidat der CDU, der den Wahlkreis direkt gewinnt. Die politischen
Kräfte im Kreis Geldern haben sich allerdings nach dem extrem hohen
CDU-Sieg bei der ersten Kommunalwahl verändert. Die CDU kommt nur noch
auf 58 Prozent, weil das wiedergegründete Zentrum 16 Prozent der Stimmen
binden kann. Die SPD steigert sich auf 19,2 Prozent, während sich die
neue Partei FDP mit 3 und die KPD mit 3,8 Prozent bescheiden müssen.
Die Landesregierung, bis dahin geführt von Rudolf Amelunxen (
Zentrum),
den die Briten als Ministerpräsidenten eingesetzt haben, kann nun von
der CDU gestellt werden. Ihre beiden herausragenden Köpfe sind Konrad
Adenauer und Karl Arnold, die allerdings in ihren politischen Ansichten
weit auseinander liegen. Arnold, der später sagen wird, dass das Land
Nordrhein-Westfalen „das soziale Gewissen der Bundesrepublik“ sein
wolle, wird zum Verdruss von Adenauer zum Ministerpräsidenten gewählt
(16.6.1947). In seinem Kabinett sind zu Beginn außer Zentrum und SPD
sogar Kommunisten vertreten.
Auch das Bistum Münster, dessen Oberhirte Clemens August Kardinal von
Galen an den Folgen einer Blinddarmentzündung plötzlich und unerwartet
verstorben ist, erhält eine neue Leitung. Bischof Dr. Michael Keller
tritt im Oktober 1947 die Nachfolge des „Löwen von Münster“ an.
Im Herbst
1947 ist Kevelaers katastrophale Wohnungsnot beherrschendes
Thema in der Bürgerschaft. Der Gemeinderat weiß sich nicht anders zu
helfen, als für den ungebremsten Zuzug an Flüchtlingen Nissenhütten
aufbauen zu lassen.
Gemeindedirektor Fritz Holtmann appelliert in einer Ratssitzung an das
Mitgefühl der Kevelaerer Bürger, „jeden entbehrlichen Wohnraum für
Vertriebene bereit zu stellen.“ Mit weiteren Zuweisungen an Flüchtlingen
sei zu rechnen.
Bürgermeister Peter Plümpe stellt klar, dass neue Siedlungsbaupläne
absoluten Vorrang haben müssen. 22 Morgen auf Keylaer und zehn Morgen am
Hoogeweg werden dafür gekauft, wie einmütig beschlossen wird.
Aber auch für die schönste Nebensache der Welt ist noch Geld da: Ein
Antrag des
Turn- und Spielvereins (TuS) auf Beihilfe in Höhe von 3000
Reichsmark - ein neuer Sportplatz soll angelegt werden - geht bei nur
einer Gegenstimme durch.