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Kapitel 6 von 115

Mai 1950


Die raue Wirklichkeit zerstört den Traum von Brigitte Froitzheim, die wie ihre Mutter Johanna Musik studieren will. Statt sich der brotlosen Kunst zuzuwenden, arbeitet die Kevelaererin ab 1. Mai als Sekretärin in den Krefelder Krankenanstalten. Dort wird sie bis zu ihrer Pensionierung bleiben.

In Kevelaer heiraten am 2. Mai der Buchhändler Franz Bercker vom Kapellenplatz 1 und Maria Brocks.

Die Post erwirbt für 21.000 Mark das Grundstück am Marienpark, auf dem das im Krieg zerstörte Kreisheimatmuseum gestanden hat. Die Stadt bedingt sich aus, dass noch im laufenden Jahr mit dem Bau des Postgebäudes begonnen wird.

Trauerfall im Haus Alt Derp: Der Gast- und Landwirt Wilhelm Stassen stirbt mit 84 Jahren. Wie in dieser Zeit üblich, nennen Witwen ihren eigenen Namen nicht: Es trauern laut Familienanzeige „Wwe. Wilhelm Stassen und Kinder“. Es werden mehrere Nachruf auf die „bekannte und besonders verdienstvolle Persönlichkeit Kevelaers“, der viele Ehrenämter bekleidet hat, veröffentlicht.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg und bis 1933 ist Wilhelm Stassen Mitglied des Gemeinderats gewesen, viele Jahre auch erster Beigeordneter. Länger als 30 Jahre hat er im Kuratorium des Marienhospitals mitgearbeitet, 25 Jahre im Kirchenvorstand und als Verwalter der Kirchenländereien. „Mit Wilhelm Stassen verliert die Allgemeinheit Kevelaers eine ihrer markantesten Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte“, heißt es im Nachruf der Stadt. „Der Heimgegangene wird für alle Zeiten zu den Männern zählen, die ihrer Heimatstadt unschätzbare Dienste erwiesen.“

Ein paar Tage danach rollt beim Spiel ein Ball in eine Baugrube an der Ecke der Hubertusstraße mit dem Windmühlenweg. Der 15-jährige Karl Janssen von der Hubertusstraße steigt hinab, um seinen Ball zu holen, und erkennt an einer der glatt abgestochenen Wände eine schwarz verfärbte Stelle.

Das Abenteuerfieber steigt, als er am Tag darauf mit seinem Kameraden Ernst Bollen aus der Nachbarschaft erneut zum vermuteten Grab hinabsteigt und tatsächlich einen zerbrochenen, als Begräbnisurne erkennbaren Topf mit Knochen und Holzkohleresten birgt. Die beiden Schüler wissen aus dem Unterricht bei Lehrer Werner, wie Gräber aus grauer Vorzeit ausgesehen haben. Den Fund bekommt der Heimatverein für seine Museumssammlung.

Mitte Mai tritt ein neuer Fahrplan der Eisenbahn in Kraft. Der erste von täglich 19 Zügen zwischen Kleve und Krefeld verlässt Kevelaer um 3.38 Uhr. Der letzte trifft um 23.12 Uhr hier ein. Zusätzlich fahren NIAG-Busse auf den beiden Linien Kevelaer-Rheinhausen-Duisburg und Kevelaer-Xanten-Wesel. Außerdem sind eine Kraftpost-Linie zwischen Kevelaer und Keppeln, Kevelaer und Wetten sowie eine Omnibuslinie von Kevelaer nach Straelen eingerichtet.

Kevelaer ist in Feierstimmung. In großflächigen Anzeigen geben die Geselligen Vereine das Programm der gemeinsamen Kirmes bekannt. Sie beginnt am Sonntag, 21. Mai, und dauert bis Mittwoch. Zum Auftakt am Sonntag gibt es ein Konzert. Dann wird der Große Zapfenstreich gespielt. Nach dem Festgottesdienst am Montagmorgen ziehen die Festgemeinde und zahlreiche Bürger zum Rathaus, wo Bürgermeister Peter Plümpe dem Chef des TuS Kevelaer, Willy Probst, die Festkette umhängt. An der Zeremonie auf den Rathausstufen wird sich in den folgenden 60 Jahren nur eines ändern: Der Hauptfesttag heute ist der Samstag.

Die Schausteller haben auf dem Markt Fahrgeschäfte vom Feinsten aufgebaut: Bruchs Riesenrad, Wirges Raupenbahn, Geisterspuk in der Mitternachtsdroschke, eine Segelbootregattabahn, Kebbens Wurstbraterei, American Cake Walk mit Tanzbrücken, Laufriemen und einer Rutschbahn, Kinderkarussell, Schiffschaukel und Tuschs Autoselbstfahrer. Außerdem wird in einer Bude eine 100-jährige Krokodilmutter mit ihren Jungen präsentiert.

Das Kävels Bläche berichtet über „Kevelaers schönste Gemeinsame Kirmesfeier“. Eine Festschrift informiert über den nun 60-jährigen TuS Kevelaer. Er feiert deswegen so ausgiebig, weil sein Goldjubiläum - 1940 - wegen des Kriegs ohne Glanz verstrichen ist.

Feiern kann auch die St.-Antonius-Schützengilde. 15 Jahre lang hat sie auf ihr Hauptfest - das Vogelschießen - verzichten müssen. Jetzt treten die Schützen auf dem Gildenkamp an, und Leo Voss wird erster Nachkriegskönig der Gilde.

Die Sebastianer organisieren ein noch größeres Schützenfest, und zwar aus Anlass ihres 350-jährigen Bestehens. Die St.-Sebastianus-Bruderschaft und ihr Ehrenpräsident Jan Baldeau freuen sich, dass Pastor Heinrich Maria Janssen - Premiere für einen Geistlichen in Kevelaer - den ersten Ehrenschuss abgibt. Die Königswürde erringt Hans Wolsing, sein Adjutant wird Karl Lemmen.

Die Bürgerschützen sind ebenfalls wieder aktiv. 110 Jahre ist die Schützengesellschaft nun alt. Franz Plümpe heißt ihr König im Jubiläumsjahr.

Die Sebastianer von Winnekendonk lassen es ebenfalls krachen: Hubert Naß wird Schützenkönig in Winnekendonk.

In Münster wird am letzten Tag im Mai der Kevelaerer Heinrich Polders zum Priester geweiht. In seiner Heimatpfarrei feiert er zehn Tage danach seine Primiz. Die Pfarrei zeigt sich wie eine große Familie. Festlich ist die Hauptstraße geschmückt, groß die Zahl der Pfarrangehörigen, die diesen Feiertag begehen.

Juni 1950

Die St.-Antonius-Schule für Knaben erhält zum 1. Juni mit Johannes Schlösser einen neuen Rektor.

Für Kevelaer stehen wichtige Tage bevor, denn vom 3. bis 11 Juni will das Verkehrsamt der Stadt Kevelaer mit einer Gewerbeschau punkten. Dafür werden das Freigelände von der Wirtschaft Wolsing bis zum Rathaus und der gesamte Marktplatz genutzt. Gezeigt werden landwirtschaftliche Geräte, Autos und Motorräder, Töpfereien und Neuigkeiten wie Waschkessel und Dämpfofen.

In einem der drei Großzelte werden Bäckereibedarfsartikel, Kühlschränke, Schreibmaschinen, Fahrräder, Küchenmaschinen, Nähmaschinen, Radios, Tontruhen, Verstärkeranlagen, Kübel, Kisten und Bottiche ausgestellt; in einem zweiten Zigarren, Büromaschinen, Bücher, Graphik, Schmuck, Uhren, Schuhe, Porzellan, Herde, Elektroartikel, Sessel, Hocker, Devotionalien und Spezialmaschinen für den Haushalt; in einem dritten komplette Zimmereinrichtungen, Einzelmöbel, Polsterwaren, Holzbearbeitungsmaschinen und wiederum Zigarren.

Im Gebäude der Marktschule sind Gardinen, Wäsche, Parfums, Kosmetik, Fotoartikel, Kürschnerwaren, Strickkleider, Schuhe, Möbel, Goldarbeiten, Holzschnitzarbeiten, Imkerprodukte, Kinderwagen, Musikinstrumente, Radios, ebenfalls komplette Zimmereinrichtungen und Paramente zu sehen. Jäger stellen eine Trophäensammlung aus, und eine Sonderschau der jungen „Niederrheinischen Werkgemeinschaft“ präsentiert unter anderem heimische Töpferkunst, Teppichwebereiprodukte und Malerei.

In einem weiteren Zelt geht‘s ums Essen und Trinken, und die Bunkeranlage am Markplatz ist zum Weinproben-Lokal umfunktioniert.

Das Kävels Bläche nennt die Werbeschau „eine Brücke nach draußen“, die die andere Seite Kevelaers zeige - die andere Seite der Wallfahrtsstadt. Geändert hat sich etwas, wie Amtsdirektor Fritz Holtmann in seinem internen Bericht vermerkt: Für Devotionalien, traditionell ein wichtiger Gewerbezweig in Kevelaer, habe sich nur ein einziger Aussteller gefunden.

Die Schau zieht rund 20.000 Besucher an. Das wird als Erfolg bezeichnet, auch wenn Kritik unüberhörbar ist: Man hat mit doppelt so vielen Besuchern gerechnet.

Glücklich ist Lehrerin Walburga Wübken, als sie bei der Verlosung während der Gewerbeschau ein Schlafzimmer im Wert von 800 DM gewinnt. Sie schenkt es einer bedürftigen Flüchtlingsfamilie, die an der Maasstraße wohnt.

Bunker MarktplatzEhemaliger Bunker auf dem Marktplatz. Foto: Herbert Cürvers, Die Bunker von Kevelaer

Und es wird weiter gefeiert in Kevelaer. Der Sportplatz an der Kroatenstraße ist rechtzeitig zum 60-jährigen Jubiläum des TuS fertig geworden und wird jetzt eröffnet. Die Vereinsmitglieder haben doppelten Grund zur Freude, denn auch die Turnhalle an der Kroatenstraße, im Krieg stark beschädigt und restlos geplündert, ist in Gemeinschaftsarbeit wieder hergestellt worden.

Was in dieser Zeit die Menschen bewegt, beschreibt Iris Putt, geb. Büttner, in einem Brief an das KB (2005):

„Kevelaer hatte uns Kindern und Jugendlichen so viel zu bieten. Wir hatten die wunderbare Badeanstalt - damals noch nicht betoniert -, in der wir jede freie Minute verbrachten. Scheinbar schien immer die Sonne, und wir gingen sogar schwimmen, wenn es regnete. Es war ein ziemlich weiter Weg von der Wasserstraße. Wir waren in fünf Minuten zu Fuß in der Turnhalle und auf dem Sportplatz, wo wir mit Leidenschaft mitgemacht haben. Ich denke so oft daran, was für gute Stadtväter wir hatten (Peter Plümpe, Josef Aengenheyster usw.), die uns das alles ermöglichten, und dass so ein kleines Städchen (damals 11.000 Seelen) so gut versorgt war. Ich denke auch oft an all die freiwilligen Helfer in der Turnhalle, der Badeanstalt und auf dem Sportplatz an der Kroatenstraße, die ihre Freizeit den Jugendlichen opferten. Ich erinnere mich an Wilma Kösters (Turnen), Häns van Büren (Turnen), Theo Kirchhoff (Leichtathletik) und viele, viele andere. Ich erinnere mich an eine Jahreshauptversammlung des TuS Kevelaer, als die Frau eines der Brüder Douteil über ihren Mann sagte, er wäre ‘mehr TuS als t’hüss’. Wir fuhren sonntags in Lkws zu Wettkämpfen in der Umgebung - und sangen die ganze Zeit.“

Erinnerungen an Kardinal von Galen werden wach, als am 5. Juni die westdeutschen Bischöfe in Kevelaer ein Bischofskonveniat abhalten - so wie in den dunklen Jahren unter Federführung des Münsteraner Bischofs.

Im Marienhospital wird ein weiteres Jubiläum begangen. Am 10. Juni jährt sich zum 25. Mal der Tag, an dem Schwester Hermenegildis nach Kevelaer gekommen ist. Sie hat inzwischen die Verwaltung des Krankenhauses inne. In Dankworten an die Ordensfrau werden die Schwierigkeiten nachgezeichnet, die der Wiederaufbau nach dem Krieg bereitet hat. „Wenn das Marienhospital in Kevelaer über die Grenzen unserer Stadt hinaus auch im Lande draußen einen guten Ruf hat, dann ist das zu einem guten Teil auch der umsichtigen und klugen Arbeit von Schwester Hermenegildis zu verdanken“, heißt es in einer Laudatio über die spätere Ehrenbürgerin Kevelaers.

Iris Putt, deren Brief wir gerade zitiert haben, beginnt am 15. Juni eine Lehre bei Butzon & Bercker. Schon bald beherrscht sie Stenografie und Maschinenschreiben und ist auch erfolgreich als Mitglied des Kevelaerer Stenografenvereins „unter der liebevollen Leitung von Hedwig Camps, unserer ‘Stenografenmutter’“. Zahlreiche Pokale bringen die Kevelaerer Stenografen von Wettkämpfen nach Hause. Gefeiert werden die Erfolge beim Stammtisch im „Müden Pinsel“ an der Hauptstraße. Iris Putt kann sich sogar für die Weltmeisterschaft im Maschinenschreiben in Wiesbaden (1961) qualifizieren. Als Sekretärin von Ernst Otterbeck und seinem Prokuristen Theo Kothes wird sie später zur Kervenheimer Schuhfabrik wechseln.

Im fernen Amerika wird Mitte Juni ein Kevelaerer besonders geehrt: Die Rechtsfakultät der Jesuiten-Universität in Boston verleiht Dr. jur. et rer.pol Heinrich Rommen, Professor am St. Thomas College in St. Paul, den Doktor der Rechte honoris causa. Rommen hat 1938 Deutschland aus politischen Gründen verlassen müssen und ist in die USA ausgewandert.

Schlagartig kippt in der Bundesrepublik die Stimmung um. In Korea droht Krieg, und die Deutschen haben Angst, ein dritter Weltkrieg könnte ausbrechen.
 

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© Martin Willing 2012, 2013