Juni 1950
Zum zweiten Mal nach dem Krieg wählen die Bürger im Land NRW am 18. Juni
einen Landtag; sie akzeptieren zugleich mit großer Mehrheit die neue
Landesverfassung. Die CDU erweist sich erneut als stärkste Partei. Sie
stellt mit Karl Arnold den Ministerpräsidenten, der aus CDU und Zentrum
sein Koalitionskabinett bildet.
In der CDU-Landtagsfraktion sitzt nun auch der Kervenheimer Landwirt und
Kommunalpolitiker Wilhelm Wehren, der eine wichtige Rolle in seinem
Heimatkreis spielt. Neben Amtsdirektor August Wormland ist Wehren der
wohl einflussreichste Mann im Amt Kervenheim.
Mitte Juni sind Kevelaerer Pilger zum ersten Mal wieder nach Boxmeer in
Holland unterwegs. Etwa zur gleichen Zeit schließen sich junge Leute vom
Land, die Kaplan Fritz Dyckmans zu Gesprächsabenden zusammengetrommelt
hat, zur Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) Kevelaer/Twisteden
zusammen. Mit einem Gottesdienst in Kevelaer wird die Gründung am 17.
Juni gefeiert.
Bemerkenswert ist auch, wie wenig vom Datenschutz gehalten wird: Der
Kreispolizeichef lässt in einer Zeitung veröffentlichen, dass ein
betrunkener Autofahrer aus Kevelaer seinen Führerschein hat abgeben
müssen. Name und Adresse des Kevelaerers werden in der Polizeimeldung
genannt.
Am 25. Juni greifen die Nordkoreaner ihre Verwandten in Südkorea an. Die
Angst vor einem Dritten Weltkrieg sitzt tief und Furcht vor atomarer
Vernichtung greift um sich. Seit Hiroshima gilt als sicher, dass im
nächsten Krieg Atomwaffen eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund
nimmt in Deutschland der Streit über die Wiederbewaffnung an Heftigkeit
zu.
Was die Deutschen noch nicht wissen: Der Koreakrieg führt zu einer
perversen Situation. Er löst nämlich weltweit mit der Angst in
hochentwickelten Industrieländern einen beispiellosen Wirtschaftsboom
aus. Die Amerikaner, die erneut in die Kriegswirtschaft eintreten
müssen, haben einen schier unbegrenzten Bedarf an Importwaren.
Sprunghaft steigt die Nachfrage nach deutschen Produkten an. Allein von
Juni 1950 bis Juli 1951 verdoppeln sich die deutschen Ausfuhren.
Niemand schämt sich, alle genießen: Die Deutschen erleben eine
historisch einmalige, lang anhaltende Hochkonjunktur, die erst durch den
Ölpreisschock im Jahr 1973 gestoppt werden wird. Sie freuen sich über
das „Wirtschaftswunder“, das aus deutschen Ruinen entstanden ist und von
koreanischen Ruinen angefeuert wird. Aber diese Zusammenhänge sind Mitte
1950 noch nicht erkennbar.
Gleichwohl spüren die Menschen, dass sich eine große
Gefahr aufbaut. Im Kävels Bläche wird der Leserbrief des Freiherrn von
Korff veröffentlicht, in dem der Kevelaerer berichtet, dass Hausfrauen
aus Angst vor Krieg und Notzeiten Lebensmittel hamstern. Eine Frau habe
in einem Geschäft - vergeblich - 50 Kilo Zucker kaufen wollen. Das sei
unbedacht und sabotiere das Wirtschaftsleben. „Vor wenigen Tagen gab es
in Kevelaer keinen Tropfen Oel, keinen Zucker, und jede Art Fett, wie
auch Stoffe und andere Waren sind sinnlos gehamstert … Sie [diese
Frauen] sind schuld, wenn vielleicht in kurzer Zeit manche Waren nur auf
Lebensmittelkarten käuflich sind.“
Die Hamsterkäufe ebben ab, denn die Waren werden nicht knapp - im
Gegenteil: Die Wirtschaft boomt.
Unbeschwert feiert in Wetten der Sportverein Wetten - fünf Jahre nach
dem Ende des großen Krieges und zu Beginn eines neuen im fernen Asien -
ein Leichtathletikfest. Es ist das erste in Wetten seit langem.
Der fast komplett renovierte Kreuzweg im Marienpark wird am 27. Juni
unter großer Anteilnahme der Bevölkerung durch Franziskanerpater Lothar
vom Kloster Mörmter feierlich geweiht. Eine beeindruckend lange
Prozession zieht betend den Kreuzweg entlang. Heinrich Maria Janssen
legt an jeder Station ein gesegnetes Kreuz nieder.
Die Gruppen und Einzelpersonen, die gespendet oder durch Eigenleistung
für die Erneuerung der Stationen gesorgt haben, geben die Stationen in
die Obhut der Kirche. Den Anfang macht die Kolpingfamilie mit der
dritten Station, die den Gefallenen gewidmet ist. Es folgen die Bauern
mit der zweiten Station, dann die Firmen Gerd Tebartz, Theodor Willems
und Leo Wassen mit der ersten Station.
Die vierte und achte Station ist von den Frauen- und Müttervereinen
hergerichtet worden, die sechste von der Firma Gebr. Tebartz und deren
Belegschaft; die Firma Albert Tebartz hat die Steine geliefert.
Zur siebten Station hat die Firma Th. Franzen den Schiefer beigesteuert,
zur achten das Unternehmen
Hein Derix die
Verglasung. Die zehnte Station ist ein Werk der Kaufleute vom KKV, die
Renovierung der elften geht auf die Jungfrauenvereine zurück. Für die
14. Station zeichnete die Firma A. Voß verantwortlich. Den
Kreuzwegeingang hat die Firma Hoch- und Tiefbau erstellt. Ihnen und den
vielen Helfern, die unentgeltlich gearbeitet haben, wird herzlich
gedankt.
Es ist der Vorabend zur Wallfahrtseröffnung an Peter und Paul. Die
Zeremonie nimmt Weihbischof Roleff vor. Sein besonderer Gruß gilt den
Weezer Pilgern, die nun zum 300. Mal am ersten Tag der Wallfahrtszeit
zum Gnadenort pilgern. Ihre Gruppe ist mit 1.700 Pilgern von
außergewöhnlicher Größe.
Von Lebensmittelmangel kann keine Rede mehr sein. So wird das Ende der
allgemeinen Schulspeisung im Kreis Geldern angekündigt. Allerdings
stammt immer noch jeder fünfte Schüler aus „schwächer gestellten
Familien“. Die Kreispolitiker überlegen, wie sie diesen Schülern auch
künftig helfen können.
Juli 1950
Die St.-Hubertus-Volksschule, 1901 gebaut und zur Zeit von Rektor
Clemens Paßmann geleitet, hat am Nordflügel einen Erweiterungsbau
bekommen, der nun eröffnet wird. Im Erdgeschoss des Anbaus befinden sich
zwei Klassen, Treppenaufgang und vor allem „neuzeitliche“ Toiletten mit
Wasserspülung und Kanalanschluss. Auch die Berufsschüler, die hier
untergebracht sind, dürfen sich über neue Klos freuen.
Eine Familie aus Wetten gibt Anfang Juli eine Traueranzeige auf, die
Erinnerungen an den Krieg wach rufen. Sie gilt dem 47-jährigen Werner
Kwasny (Wetten 186), einem ehemaligen Soldaten, der fünf Jahre lang in
Kriegsgefangenschaft gewesen und soeben heimgekehrt ist. Er bricht zu
einer Erholungsfahrt zu seinen Eltern, die in Norddeutschland leben,
auf, kommt aber nicht an. Er stirbt während der Fahrt. Seine Witwe Erna
und die Kinder Ilse und Jürgen schreiben in der Traueranzeige: „Er starb
in dem Augenblick, als wir wieder anfingen, uns auf das Leben zu freuen
und neue Hoffnungen in uns wach wurden“.
Das Leben zeigt sich in Winnekendonk von einer ganz anderen Seite. Dort
wird nicht nur Kirmes gefeiert - zum ersten Mal wird auch die neue
Festkette überreicht. Die Kette, vom Kevelaerer Goldschmied Mathias van
Ooyen geschmiedet und gestiftet zu gleichen Teilen von der Gemeinde und
den Geselligen Vereinen, wird Amtsdirektor
August Wormland
umgehängt. Wormland vertritt als Ehrenmitglied den festgebenden Verein,
die St.-Maria-Bruderschaft. Die Übergabe des Ehrenzeichens, mit dem die
Dorfgemeinschaft Wormlands große Verdienste um Winnekendonk und
Kervenheim ehrt, nimmt Bürgermeister Heinrich Luyven vor.
Und es wird gebaut wie selten zuvor. An der Kroatenstraße, unweit der
neuen St.-Josef-Kapelle, legen sich Handwerker, Arbeiter und Angestellte
ins Zeug, um in Eigenleistung und mit Hilfe der Siedlungsgenossenschaft
Ost neue Wohnungen für Vertriebene zu schaffen. Von den künftigen
Bewohnern wird tatkräftige Mithilfe erwartet. Wer nicht arbeiten kann,
weil er kriegsbeschädigt oder in der Familie unabkömmlich ist, „wird mit
durchgezogen“, wie es im KB heißt. „Ein Beispiel für
Kameradschaftlichkeit im besten Sinne.“ Initiator und Promoter des
Siedlungsprojekts ist Freiherr von Polaczek, der der Stadt Kevelaer für
die Überlassung der Baugrundstücke dankt.
In Twisteden entstehen um diese Zeit an der Quirinusstraße acht
Siedlungshäuser. In der Landarbeitersiedlung zwischen Gerber- und
Maasweg wird nun Richtfest gefeiert. Zwei von vier Doppelhäusern sind
bereits bezogen, zwei Einzelhäuser sind richtfertig. Der erste
Bauabschnitt umfasst neben den vier Doppelhäusern elf Einzelhäuser.
Mit Zuversicht starten Franz Moeselaegen und Deli Claßen in die Zukunft:
Sie heiraten Mitte Juli und eröffnen im elterlichen Haus an der
Hauptstraße 27 eine „Rind- und Schweinemetzgerei“ in Kevelaer.
Nach zwei vergeblichen Anläufen wird nun die Straße von Kevelaer nach
Wetten im nördlichen Abschnitt instand gesetzt. Sie bekommt eine neue
Teersplitterdecke.
Auch der Bau der ersten evangelischen Kirche in
Kevelaer ist in Sicht. Die weitgehend aus Holz gefertigte Kirche, ein
Geschenk der Lutherischen Kirche von Australien, wird in einem Bausatz
angeliefert. Vor wenigen Wochen hat eine Holzbaufirma den Auftrag
erhalten, das Kirchlein noch in diesem Jahr aufzubauen.
Gedämpft wird die Freude der
evangelischen Christen durch eine Mitteilung der Stadt, dass in der
City kein Grundstück zur Verfügung stehe. Das ersatzweise zugewiesene
Areal - an der Brunnenstraße - halten nicht wenige wegen der Randlage
für ungeeignet. Gleichwohl wird hier die erste evangelische Kirche im
Wallfahrtsort errichtet werden - so wie später die deutlich größere
Jesus-Christus-Kirche und das Gemeindezentrum.
Inzwischen hat sich im evangelischen Kirchenkreis Kleve-Geldern die Zahl
der Protestanten mit derzeit 18.500 Seelen gegenüber dem Stand von 1939
fast verdoppelt.
Die St.-Antonius-Pfarrkirche
vor und nach ihrer Zerstörung in der Endphase des Zweiten Kriegs.
Die Zeit drängt auch für die große Kirchengemeinde St. Antonius, die
seit den Fliegerangriffen im Krieg auf ihre Pfarrkirche verzichten muss.
Um den Wiederaufbau will sich sich ein Kirchbauverein kümmern, dem der
Verleger
Edmund
Bercker sen. Vorsteht. 1.560 Mitglieder hat der Verein, die jährlich
18.200 DM an Beiträgen in die Vereinskasse einzahlen. Pfarrer
Heinrich
Maria Janssen, der als Rektor der Kirchen am Kapellenplatz auch für
das Wallfahrtsgeschehen verantwortlich ist, lässt keinen Zweifel offen,
dass der Wiederaufbau der St.-Antonius-Kirche dringend nötig sei. Alle
nutzbaren Gotteshäuser am Kapellenplatz - auch die große Basilika -
würden für die Pilger gebraucht und könnten nicht als Pfarrkirche
dienen.
Die Kosten freilich seien ein schier unüberwindbarer Berg: 400.000 DM
werde der Kirchbau kosten, sagt Janssen. Frühestens in fünf Jahren sei
die Gemeinde in der Lage, mit dem Bau zu beginnen.
Als Zwischenlösung regt Janssen an, zunächst die zerstörte Klosterkirche
der Klarissen wieder aufzubauen, und zwar in erweiterter Form mit 400
Sitzplätzen und einem Raumvolumen für 800 bis 1000 Gläubige. Das koste
„nur“ 100.000 DM.
Sein Vorschlag wird in der Versammlung des Kirchbauvereins lebhaft
diskutiert. Beschlossen wird, „den Vorschlag ernstlich zu erwägen“.
Abgelehnt wird die Anfrage des Zirkusunternehmens Holzmüller, ob er in
Kevelaer gastieren dürfe. Das städtische Ordnungsamt teilt mit, dass
Zirkusvorstellungen während der Wallfahrtszeit nicht zugelassen werden.
Verboten seien auch Reklametafeln auf stadteigenen Grundstücken.
Der Zirkus weicht auf die Brauers-Wiese in Schravelen aus. Dort kann er
unbehelligt spielen. Die Stadtverwaltung erklärt dazu, sie habe keine
Handhabe, dagegen vorzugehen.