November 1950
85 heilige Messen an einem einzigen Tag? Ja, diese Zahl nennt das Kävels
Bläche im Rückblick auf die Wallfahrtszeit. Zum ersten Mal sind mehr
Pilger mit Autobussen als mit der Bahn gekommen. Insgesamt, so wird
geschätzt, dürfte die Zahl der Wallfahrer eine halbe Million erreicht
haben.
Die erfreuliche Bilanz zum Wallfahrtsabschluss wird überschattet von
einem Unglück im Raum Winnekendonk: Im Wald bei Haus Winkel wird am 1.
November der 14-jährige Anton Kamps durch eine explodierende Panzermine
getötet. Der Schüler hat mit seinem ein Jahr jüngeren Freund Eberhard
von Houwald mit dem Fundstück gespielt. Während Eberhard nur leichte
Verletzungen erleidet, wird der 14-Jährige zerrissen.
In der Nähe der Unglücksstelle werden weitere Sprengkörper gefunden. In
der Zeitung heißt es: „Die Eltern dürfen nicht nachlassen, ihre Kinder
immer wieder vor diesen Gefahren zu warnen und zu belehren, daß sie bei
derartigen Funden nichts selbst unternehmen dürfen, sondern die Eltern
oder sofort die Polizei unterrichten müssen.“
In Kevelaer wird der Betrieb der Trockenkraftfutterwerk Kevelaer eGmbH
eröffnet. Landwirte des Kreises Geldern haben die genossenschaftliche
Firma im Frühjahr im Lokal „Schwarzes Pferd“ gegründet.
Die Futtertrocknungsanlage gilt als die modernste im Rheinland und wird
auch von ausländischen Fachleuten mit Interesse besichtigt. Sie befindet
sich in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Kevelaer auf dem Gelände der
Landwirtschaftlichen Bezugs- und Absatzvereinigung.
Bei der Eröffnungsfeier sieht man unter den Gästen Architekt Hermann
Helmus, Dechant
Heinrich
Maria Janssen, Oberkreisdirektor Dr. Mertens, Amtsdirektor
Fritz Holtmann,
Baumeister
Peter
Heynen und den Landtagsabgeordneten
Willy Wehren.
Nach einigen Schwierigkeiten kommt auch in Wetten der Siedlungsbau in
Gang. Zunächst hat der Ruhrsiedlungsverband eine Siedlung zwischen
Sportplatz und Dorf errichten wollen, nimmt davon aber jetzt Abstand,
weil die Pächter der Grundstücke anhaltend gegen den drohenden Verlust
ihrer Gärten protestieren. Jetzt soll die Siedlung entlang der
Twistedener Straße zwischen Heiligenhäuschen und Transformator
entstehen. Geplant sind neun Doppelhäuser mit „ausreichend“ Gartenland.
Die Bauarbeiten sollen im Frühjahr 1951 beginnen, sobald die Witterung
es erlaubt.
In den Rathäusern müssen die Bürgermeister neu gewählt werden. Das Land
Nordrhein-Westfalen hat einige Änderungen der Verfassung vorgenommen.
Gekippt wird die sechsjährige Amtszeit der ehrenamtlichen Bürgermeister.
Die zwei Jahre zuvor von den Räten gewählten Vorsitzenden müssen nun
bestätigt oder ausgetauscht werden.
In Winnekendonk zieht der bisherige Bürgermeister Heinrich Luyven den
Kürzeren. Neu ins Amt gewählt wird Emil Bohne. Der stellvertretende
Bürgermeister Josef Janssen wird bestätigt. Die Zeitung berichtet:
► „Bürgermeister Bohne dankte für das
ihm entgegengebrachte Vertrauen und betonte mit besonderem Nachdruck,
daß das Ergebnis der Wahl keineswegs ein Mißtrauen gegen den bisherigen
Bürgermeister bedeute, sondern lediglich als Ausdruck des auch jüngst
noch von Bundeskanzler Dr. Adenauer geforderten Bestrebens zu werten
sei, jüngere Kräfte in die kommunalpolitische Arbeit zu stellen.“
Auf der Sitzung der Stadtvertreter in Kevelaer schlägt Amtsinhaber
Peter Plümpe
vor, ein anderes Mitglied des Rates zum Bürgermeister zu wählen. Aber
weder
Arnold Dyx,
der als ältestes Ratsmitglied die Sitzung leitet, noch die Ratskollegen
halten etwas von diesem Vorschlag. Einstimmig wird Plümpe im Amt
bestätigt.
Auch in Twisteden und Kleinkevelaer werden die Amtsinhaber (Tebartz und
Winkels) wiedergewählt.
Nach der Wahl müssen sich die Kevelaerer Ratsmitglieder mit drängenden
Problemen beschäftigen - u.a. mit der Straßenbeleuchtung, die entweder
zerstört, veraltet oder gar nicht vorhanden ist. Besonders an der Weezer
Straße, so reklamieren einige Ratsherren, werde frühmorgens, wenn die
vielen dort wohnenden Arbeiter aufbrechen, eine Straßenbeleuchtung
vermisst.
Amtsdirektor Fritz Holtmann zeichnet ein düsteres Bild von den Finanzen
und sagt, dass sich die Stadt eine solche Maßnahme nicht leisten könne.
Lediglich drei Notbeleuchtungen werden beschlossen - an der Pumpstation,
an der Mühlenstraße und an der Hubertusstraße.
Das Stromnetz in der Innenstadt ist noch so schwach ausgebildet, dass
der Stadtrat außerdem den Antrag des Einzelhandelsverbands ablehnen
muss, die Weihnachtsbeleuchtung an das öffentliche Straßenlichtnetz
anschließen zu dürfen. Amtsbaumeister Peter Heynen erklärt: „Ein
derartiger Anschluß ist nicht möglich, weil dadurch das Ortsnetz
überlastet wird.“
Noch in dieser Sitzung erlebt Peter Plümpe, gerade wiedergewählt, seine
erste politische Niederlage. Er wirbt für einen „kooperativen Anschluss
der Stadt Kevelaer“ an die Europa-Union, die sich für ein förderatives,
vereintes Europa einsetzt. Obwohl Plümpe betont, dass die Mitgliedschaft
nichts koste und andere Gemeinden des Kreises Geldern bereits
beigetreten seien, fegen die Kevelaerer Ratsmitglieder den Antrag mit
12:4 Stimmen vom Tisch.
Die 1934 gegründete Europa-Union hat mit ihren Idealen eines
föderativen, vereinten Europas die Nazi-Zeit im europäischen Ausland
überlebt. 1946 ist die Idee in der Schweiz wiederbelebt und in
Frankreich als „Union Europäischer Föderalisten“ (UEF) neu verfasst
worden.
Junge Kevelaerer sind über die ablehnende Haltung der Ratsmitglieder
empört. Als Vertreter der Jugend schreibt
Josef Heckens
einen Leserbrief und kritisiert die 12:4-Entscheidung gegen einen
Beitritt zur Europa-Union. Die Ausführungen des späteren
Verlagsdirektors von
Butzon &
Bercker lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
► Sollten unsere 12 Stadtvertreter
nicht die Tragweite ihrer Entscheidung sehen? Es sei ihnen angeraten,
Entwicklungen zu beobachten, die sich auch in Kevelaer zeigen und auch
für Kevelaer von entscheidender Bedeutung sind. Wenn aber bewußtes Nein
vorliegen sollte, dann wäre dieses Wissen nicht nur für mich sehr
wertvoll, um bereits jetzt für die nächsten Kommunalwahlen entsprechende
Konsequenzen zu ziehen. In einer für alle europäischen Völker,
insbesondere auch das deutsche Volk, derart schicksalhaften Frage können
nur weitsichtige Stadtvertreter für mich bindend beschließen. Ich habe
mit Emsigkeit in meiner Umgebung die Meinung von Kevelaerer Bürgern
erforscht und einen eklatanten Widerspruch gegenüber dem Beschluß des
Stadtrates festgestellt (…) Warum wird überhaupt nichts getan, um auch
den letzten Kevelaerer Bürger davon zu überzeugen, daß es höchste Zeit
wird, in Europa endlich miteinander zu arbeiten, statt sich
gegeneinander zu befehden? Viele Geschehnisse der letzten Jahre sind
bittere Auswirkungen uneuropäischen, ja antieuropäischen Denkens, dessen
Ueberwindung dringendes Gebot ist. Es ist aber der Geist, der lebendig
macht, und ewige Ressentiments in einer muffigen, nationalistischen
Atmosphäre bedeuten das Ende Europas. (…)
Ich als junger Mensch möchte es verhindert wissen, nochmals Opfer einer
Fehlent-wicklung zu werden.
Soweit die Kritik des jungen Josef
Heckens.
Dem jungen Kevelaerer springt Gerd Bösken aus Geldern mit einem nicht
weniger kritischen Leserbrief zur Seite. Bösken mahnt, die Stadt, in der
die „Pax-Christi-Bewegung zu Hause ist“, müsste sich doch besonders
berufen fühlen, die Idee eines vereinten Europas zu fördern.
Die
öffentliche Kritik alarmiert die etablierten Parteien in Kevelaer. In
einem gemeinsamen Leserbrief äußern sich die Fraktionschefs
Willy Dierkes
(CDU) und Wilhelm Fegers (SPD), Theo Wilbers für die Zentrums-Fraktion
und H. Ginters für die FDP:
Josef Heckens (Anfang der
1990er-Jahre) und der junge Willy Dierkes (r.).
► Zur Sache selber erklären wir,
daß der Stadtrat im Prinzip mit den großen Zielen der Europa-Union
durchaus einverstanden ist. Das ist auch ausdrücklich betont worden; was
wir aber nicht wollen, ist ein korporativer Beitritt, der immerhin eine
Verpflichtung bedeutet, die wir ablehnen und wozu wir auch seitens der
Wählerschaft kein Mandat besitzen. Es bestehen keinerlei Bedenken, in
der Bürgerschaft für den Gedanken der Europa-Union zu werben und Sache
jedes Einzelnen ist es, ob er dieser Europa-Union beitreten will oder
nicht. Wir lehnen auch heute noch einen korporativen Beitritt mit
Verleihung von Fahnen und Wimpeln, die uns zu sehr an die Zeiten des
1000-jährigen Reiches erinnern, ganz entschieden ab. Wir würden es
begrüßen, wenn starke Kräfte sich dafür einsetzen, daß zunächst einmal
in unserem eigenen Bundesgebiet die Grenzen der 12 Länderregierungen mit
ihren Ministerien und Parlamenten verschwinden, die uns Steuerzahlern
zudem viel Geld ersparen würden. Und wenn dann eine Europa-Union
gewünscht wird - bei der wir aber völlig gleichberechtigt sein sollten
-, dann auf Bundesebene. Sollte dieser Weg jedoch zu lange dauern,
empfehlen wir Resolutionen zuerst in den Großstädten und in den
Kreistagen vorzulegen. Wir brauchen das Urteil der Bürgerschaft nicht zu
scheuen.
Soweit der Leserbrief.
Josef Heckens, der die zum Stadtgespräch ausgewachsene Kontroverse
ausgelöst hat, reagiert erstaunlich gelassen auf den bösen Vergleich mit
den Fahnen des Dritten Reichs und lobt sogar in einem weiteren Brief die
Einmütigkeit der Fraktionschefs. Aber er lehnt ab, dass andere erst an
der Reihe seien, bevor die Kevelaerer aktiv werden. „Das führt letzten
Endes in eine politische Passivität und in einen politischen
Nihilismus.“
Die Sensibilität gegenüber Fahnen und Wimpeln finde er prinzipiell
löblich, wehre sich aber gegen eine pauschale Verurteilung solcher
Symbole: „Entscheidend ist jedoch, welche Fahnen und welche Symbole
angenommen oder abgelehnt werden.“
Heckens:
► „Kevelaer hat mehr als andere
Orte des Niederrheins - kraft seines ganz besonders hohen Auftrages -
die Pflicht, Brücken zu bauen zu Brüdern und Schwestern anderer
Nationen. Es sollte ein Wetteifern sein, hierzu keine, nicht die
geringste Möglichkeit zu verpassen. Dieser Brückenschlag freilich
erfordert Voraussetzungen geistiger und herzlicher Art.“
Das sitzt.
In den Orten rund um Kevelaer sind die Projekte und
Probleme bodenständiger. Mitte November wird in Wetten eine
Landfrauenvereinigung gegründet. Erste Vorsitzende ist Berta Stammen von
Erretkampshof, 2. Vorsitzende Frau Leurs von Kesselshof und
Geschäftsführerin Gertrud Selders von Heisenhof.
In Kervenheim steht das Siedlungsprojekt nun endlich auf gesicherten
Füßen. 14 Siedlerstellen sollen entstehen. Die ersten
Ausschachtungsarbeiten sind im Gange.
In Twisteden ist die alte Kirche vor dem Verfall gerettet. Nach der
Entfernung des Efeus, das tief in die Fugen gewachsen ist, erhält die
Kirche ein neues Dach. Chor und Sakristei, die stilistisch nicht zum
frühgotischen Teil der Kirche passen, werden abgebrochen.
Damit verstummen auch die Stimmen, die das aus dem 15. Jahrhundert
stammende Gotteshaus abreißen lassen wollten. Der Kreis Geldern gewährt
einen Zuschuss von 2.000 DM unter der Voraussetzung, dass die
Twistedener selbst genau so viel investieren. Die Antonius-Bruderschaft
hilft durch Arbeitseinsätze. Das beim Abriss von Chor und Sakristei
gewonnene Steinmaterial wird für die Reparatur der vielen Schadstellen
der Kirche verwendet. Der Rest dient der Ausbesserung von Straßen und
Wegen.
Auf einer zweitägigen Tagung der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB) in
Kevelaer wird die erste Frauen-KAB im Kreis Geldern gegründet. Früher
sei die Frau an Familie und Heim gebunden gewesen, durch die
Industrialisierung habe sie ihre alten Bindungen verloren. Die
Frauen-KAB solle Orientierung geben.