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Kapitel 11 von 115

Dezember 1950


Die Kaufleute an der Bahnstraße schreiten selbstbewusst voran: Sie bringen als erste in der City Weihnachtsschmuck an.

An der Busmannstraße wird das Schuhhaus Sinsbeck neu eröffnet. Dort, wo die „alte Wache“, das Arrestlokal, an der Ecke zur Annastraße gestanden hat, lädt das Geschäft - neben dem alten - ab dem 1. Dezember Kunden zum Kaufen ein. In sieben großen Schaufenstern zeigt Willi Diepmann nun seine Ware. Neu im Sortiment: Sportartikel und Strümpfe.

In Zeitungsannoncen preisen Kevelaerer Geschäftsleute nicht nur ihre Artikel an, sondern auch ihre Telefonnummern. Sie sind dreistellig.

Anfang Dezember finden sich alte Velden-Pilger im Bürgerhaus zusammen. Peter van de Meer († 1961), der schon vor dem Krieg Kevelaerer nach Velden bei Venlo geführt hat, stellt die Vorbereitungen vor. Schon 125 Jahren zuvor sind Kevelaerer nach Velden zum Hl. Andreas gepilgert - zu Fuß und mit Fuhrwerken.

In der Prozession am 3. Dezember wird eine große Kerze als Stiftung für die Wallfahrtsstätte mitgeführt. Für die Pilger aus Kevelaer wird ein eigenes Hochamt in Velden zelebriert. Es ist die erste Pilgerreise nach zwölfjähriger Pause. Aber die Teilnehmer dürfen in Holland nicht zu Fuß pilgern. Sie müssen einen Bus benutzen. Ein Teil der Gruppe pilgert trotzdem zu Fuß, und zwar bis zum Grenzübergang Lingsfort. Dort steigen die Kevelaerer in einen holländischen Omnibus, der sie nach Velden bringt.

Im Dorf Velden hat sich viel verändert. Der Kirchturm ist stark beschädigt, die Kirchenfenster, die ein Kevelaerer Velden-Pilger gefertigt hat, sind zerstört. „Groß war aber ihre Freude, als sie den seitlich des Andreasaltares eingemauerten Stein mit der Inschrift ‚1570 - 1933 Kevelaerer Pilger an St. Andreas‘ noch unversehrt fanden“, heißt es in der Chronik. Es handelt sich um den Gedenkstein, den die Kevelaerer Wallfahrer für den Neubau der Kirche gestiftet haben. Er ist von August Dierkes aus der Marienstadt gemeißelt worden.

Die Pilger aus Kevelaer werden überall gastfreundlich aufgenommen. Jeder spürt, dass sie nicht nur fromme Nachbarn, sondern auch Botschafter ihres Landes sind. Niemand hat den Überfall der Niederlande und die Besetzung des Nachbarlands durch die Deutschen wenige Jahre zuvor vergessen.

Am Nikolaustag frieren viele Menschen im Kreis Geldern. Kohle ist knapp geworden. Die Lager der Händler sind leer. Die Bevölkerung ist verbittert, denn der Mangel an Brennmaterial ist kein unabweisbares Schicksal, sondern Ergebnis der hohen Exportquoten, zu denen die Bundesrepublik verpflichtet ist. Die Bonner Regierung erhebt gegenüber den Alliierten energischen Einspruch. Von den erhöhten Kohlförderungen müsse ein Teil der Not leidenden deutschen Bevölkerung zu Gute kommen. Die Lage in der Hausbrandversorgung sei „ungewiß und besorgniserregend“.

Für die Wiedereingliederung der Deutschen in die Gemeinschaft der zivilisierten Menschen leisten die Kirchen wichtige Dienste. Unter ihrem Schirm blüht in Kevelaer die Jugend auf. Jung-Kolping, Jung-KKV und weitere Gruppen der katholischen Jugend bekommen mit dem Don-Bosco-Heim über dem Fahnensaal des Priesterhauses ein neues Zuhause. Dechant Heinrich Maria Janssen segnet das Heim Anfang Dezember. Der Neuanfang Deutschlands führt über die Jugend.

Es wird ein stiller Advent. Der Dezember 1950 bleibt ein relativ ereignisarmer Monat, eine besinnliche Wartezeit bis zum Weihnachtsfest. 60 Jahre später wird die Adventszeit um ihre Existenz kämpfen.

Kevelaer zählt mittlerweile 10.600 Einwohner. Mehr als jeder Zehnte ist Ostvertriebener. Erfreulich: 202 Kinder sind hier in diesem Jahr geboren worden. Kevelaer wächst, denn den Geburten stehen nur 92 Sterbefälle gegenüber.

1950 haben 1.600 Kevelaerer Anträge auf Regulierung von Kriegsschäden gestellt, die auf einen Wert von 7,8 Millionen DM beziffert werden.

In den katholischen Schulen der Marienstadt unterrichten 26 Lehrkräfte etwa 1.400 Kinder in 27 Klassen. Dazu kommen die evangelische Volksschule, in der zwei Lehrkräfte 90 Kinder betreuen, und die Hilfsschule mit 30 Kindern.

Die Wohnungslage in Kevelaer ist nach wie vor mangelhaft. Viele Wohnungen sind überbelegt, denn es stehen weniger Wohnhäuser als vor dem Krieg zur Verfügung, und das bei deutlich erhöhter Einwohnerzahl.

Fritz HoltmannEnde des Jahrs 1950 feiert Amtsdirektor Fritz Holtmann (* 1897, † 1970) sein 30-jähriges Dienstjubiläum. Mit kriegsbedingten Unterbrechungen ist Holtmann seit 1921 im Kevelaerer Rathaus tätig. Anfangs leitete er das Wohnungsamt der Bürgermeisterei, danach das Wohlfahrtsamt und während des Kriegs das Wirtschaftsamt.

Fritz Holtmann (Bild) konnte als politisch unbelasteter Verwaltungsexperte nahtlos ins Rathaus zurückkehren, als die britischen Besatzer den Neuanfang einleiteten. Seine offizielle Ernennung als Amtsdirektor des Amtes Kevelaer erhielt er zum 1. Januar 1946 von Landrat Deisinger. Der Kevelaerer meisterte die ebenso schwere wie verantwortungsvolle Aufgabe, die Rathausverwaltung nach den Gesetzen der von den Briten eingeführten Demokratie aufzubauen. Erheblich erschwert wurde der Start dadurch, dass fast alle Akten durch die Kriegswirren verloren gegangen waren.

Auf seiner Jubiläumsfeier im Rathaus, die am Neujahrstag stattfindet, würdigen Persönlichkeiten des weltlichen und kirchlichen Lebens die Leistung des Kevelaerers. Amtsbürgermeister Peter Plümpe erinnert an die großen Aufbauschwierigkeiten, die Holtmann bewältigt habe.

Dechant Heinrich Maria Janssen weist auf das vorbildliche familiäre Verhältnis hin, das in Kevelaer herrsche, und hebt „die väterliche Sorge und Liebe“ hervor, mit der Holtmann diese große Familie betreue. Zugleich im Namen von Wallfahrtsrektor Fritz Dyckmans dankt Janssen dem Jubilar für das große Verständnis, das er den Wallfahrtsbelangen entgegenbringe. Der Dechant betont, dass sein Vorgänger Wilhelm Holtmann in Aufzeichnungen die verständnisvolle Zusammenarbeit des Amtsdirektors mit der Pfarrverwaltung in den schweren Nachkriegsjahren mit besonderer Anerkennung vermerkt habe.

Im Namen der Beamten, Angestellten und Arbeiter des Amtes und der Stadt spricht Amtsoberinspektor Güllmann dem Verwaltungschef Glückwünsche aus. Ebenso gratulieren die Fraktionsführer der vier in Amtsvertretung und Stadtrat vertretenen Parteien. Willy Dierkes (CDU) betont, dass die harmonische Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Parteien in erster Linie der verständnisvollen, weise abwägenden Haltung des Amtsdirektors zu verdanken sei. Stadtvertreter Ginters (FDP) und Wilbers (Zentrum) heben gleichfalls das gute Einvernehmen zwischen den Fraktionen und die Bemühungen des Jubilars um Einigkeit hervor, während Stadtvertreter Fegers (SPD) das Verdienst des Amtsdirektors um die sozial schwächeren Bürger würdigt.

In Twisteden eröffnen die Sicherungsmaßnahmen für die alte Twistedener Kirche, über die wir schon gelesen haben, neue Möglichkeiten. In Abstimmung mit dem Landeskonservator wird am alten Chor eine Wand errichtet, die das „Loch“, das nach Abriss der später angefügten Gebäudeteile entsteht, abschließt.

Die stilistisch als unpassend empfundene Sakristei wird aber nur bis zu einer Höhe von zwei Metern abgebrochen. Das verbleibende Mauerwerk wird mit Erde verfüllt, so dass eine Empore entsteht. Auf dieser Empore, so wird nun beschlossen, soll ein Ehrenmal für die Gefallenen der Gemeinde Twisteden errichtet werden.

Im Blickpunkt steht dann die Kreuzigungsgruppe, die sich zuvor an der Außenwand der Kirche befunden hat und nun zur Rückwand des neuen Giebels des Gotteshauses verlegt wird. Hier überragt sie die Ehrenstätte. Später wird der Raum vor der Kreuzigungsgruppe, zu dem ein Treppenaufgang von der Seite her emporführt, mit Grün und Blumen geschmückt. Auch eine Gedenktafel mit den Namen der Gefallenen gehört zu dem Projekt, mit dem bald begonnen werden soll.

So wie in Twisteden entstehen allerorten Gedenkstätten für die Kriegsopfer. Das den Familien angetane Leid ist noch gegenwärtig.

Aber der Krieg ist vorbei, und die Gedanken der meisten Menschen sind im Alltag auf die Gegenwart und Zukunft konzentriert.

Das können sich „die Bonner“ nicht leisten. Die Politik der Adenauer-Regierung ist eine ständige Gratwanderung zwischen Verpflichtung und Selbstbehauptung. Der Bundeskanzler muss zwischen der Mitverantwortung für die Verteidigung des westlichen Europas gegenüber der als akute Bedrohung empfundenen Sowjetunion und der Zumutung, dass Deutsche nicht über deutsche Soldaten befehlen dürfen, einen für alle Seiten tragbaren Kompromiss auspendeln.

Die Lage ist eindeutig: Der Westen verlangt von der Bundesrepublik enorme Anstrengungen zur Verteidigung und fordert zugleich restlose militärische Unterordnung unter die Befehlsgewalt der Westalliierten.

Selbst Frankreichs Außenminister Robert Schuman, kein Erzfeind der Deutschen, will der Bonner Regierung keine Eigenständigkeit zubilligen. Die Frage, wie die Deutschen in die Verteidigung des Westens einzubeziehen seien, beantwortet er so: „(Wir) wünschen nicht, daß deutsche Einheiten zu irgendeinem Moment, auch nicht vorübergehend, zur Verfügung einer deutschen Regierung stehen.“

Das Misstrauen gegenüber den Deutschen ist so tief verwurzelt und nach zwei Weltkriegen auch so berechtigt, dass die Bonner Regierung nur diesen Ausweg aus der bedrohlichen und verfahrenen Situation sieht: Deutschland muss sich eindeutig im politischen Westen verankern und sich zur Allianz mit den Amerikanern bekennen.

Der Zeitpunkt, an dem eine Wiedervereinigung mit Billigung der Sowjets vielleicht erreichbar gewesen wäre - der Preis wäre wohl die Neutralität der Bundesrepublik gewesen -, ist längst vorbei. Selbst wenn Adenauer in der ersten Zeit nach dem Krieg, so wie ihm Kritiker vorhalten, wegen der von ihm gewollten, klaren Bindung Deutschlands an den Westen Chancen für eine frühe Wiedervereinigung verpasst haben sollte - jetzt steht der Kanzler ohne Alternative da.

An der Elbe, auf deutschem Boden, baut sich eine Furcht erregende sowjetische Macht auf. Die Bonner Politiker befürchten, dass Westdeutschland im Falle eines dritten Weltkriegs zum Aufmarschgebiet, Hauptkriegsschauplatz und am befürchteten Ende zur verbrannten Erde wird.

Die Angst vor einem schutzlos preisgegebenen Deutschland wird auch von dem Vorsitzenden der SPD, Dr. Kurt Schumacher, geteilt. Er spricht wohl für alle Deutschen, als er Ende 1950 erklärt, das deutsche Volk wünsche nicht, dass sein Land als Hauptkampffeld ins Auge gefasst werde.

Schumacher fordert „die Stationierung ausreichender alliierter Streitkräfte an der Elbe“. Denn: „Wir Deutschen passen nicht für die Rolle von Partisanen oder für die einer Nachhut für ein neues Dünkirchen.“ Die Kampfhandlungen müssten im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Westeuropa „sofort nach Ost getragen“ werden. Bis zur deutschen Wiederbewaffnung, die zwei bis drei Jahre dauere, sei Deutschland ohne wirklichen Schutz.

Enttäuscht ist Schumacher über den vom französischen Außenminister vorgeschlagenen und von den Amerikanern übernommenen Kompromissplan: Deutsche Armee-Kontingente sollen in die atlantische Armee integriert, aber nicht von Deutschen befehligt werden. Mit diesem Plan hätten die Amerikaner, so Schumacher, ihr Versprechen gebrochen, den Deutschen volle Gleichberechtigung im Falle ihrer Beteiligung an der Atlantikarmee zu gewähren.

Deutschland steht, mehr als die Kevelaerer am Jahresende 1950 ahnen, vor aufregenden Zeiten.

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© Martin Willing 2012, 2013