Mai 1949
		
		Die Gnadenkapelle ist auch vor Beginn der Wallfahrtszeit ein stiller 
		Hort, wo Sorgen abgeladen werden. Unter den Betern ist eine teilweise 
		gelähmte Frau aus Krefeld, der Wunderbares widerfährt: Sie hat keine 
		Beeinträchtigungen mehr, als sie Kevelaer in aller Stille verlässt. So 
		erzählt man es sich in der Stadt. Die Frau ist nicht aufzuspüren. 
		
		Ende Mai wird eine Jugendherberge für Mädchen eröffnet - eine für Jungen 
		gibt es bereits. Betten für 15 Mädchen bietet das neue Refugium, gelegen 
		bei Grevers am Wettener Feld, initiiert von Rektorin Elisabeth Ender und 
		Rektor Franz Bourgeois.
		
		
Zehn Jahre sind seit der letzten Kirmes in Kevelaer 
		vergangen. Nun freuen sich die Bürger auf die Nachkriegspremiere. Sie 
		soll wieder im alten Stil mit Festzug der Geselligen Vereine durch die 
		Straßen des Orts gefeiert werden, natürlich auch mit Übergabe der 
		Festkette. Es ist eine neue, denn das gute Stück hat ein alliierter 
		Soldat mitgehen lassen. Die neue wird in Gemeinschaftsarbeit von 
		Goldschmieden nach einem Bild gefertigt.
		
		Zu den Kirmesgeschäften zählt natürlich auch ein Panoptikum, in dem 
		Abstruses gezeigt wird; dazu gesellen sich Raketenbahn, Schießbuden - 
		die Besatzer erlauben den Gebrauch von Luftbüchsen -, Selbstfahrer, 
		Schiffschaukel, Rutschbahn und die berühmte Raupe, in der ein Pärchen 
		ein paar Sekunden lang knutschen kann. 
		
		Am 30. Mai überreicht Bürgermeister
		
Peter Plümpe, 
		assistiert von Amtsdirektor
		
Fritz Holtmann
		und einigen Ratsmitgliedern, die neue Festkette an Matthias Janssen 
		von der St.- Antonius-Gilde.
		
		Beim Festumzug in Kevelaer passiert ein Malheur: Robert Platzer, der 
		Vorsitzende der St.-Quirinus-Bruderschaft Schravelen, fällt vom Pferd 
		und bricht sich ein Bein. Das Missgeschick ist bald vergessen: Wenige 
		Tage später feiern die Schravelener ungetrübt ihr erstes Vogelschießen 
		nach dem Krieg. Geschossen wird mit der Armbrust, die von den 
		Johannes-Schützen ausgeliehen worden ist. Hermann van Eickels wird 
		König, Antonia Schlootz Königin.
		
		Einen Festtag kann auch der junge Bauhandwerker Heinrich Jansen begehen. 
		Zwei Jahre zuvor aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt, besteht er 
		seine Meisterprüfung. Im folgenden Jahr wird er mit seinem Bruder Peter 
		das väterliche Baugeschäft von 1878 übernehmen.
		
		In Kevelaer und Umgebung kommt die Bautätigkeit nur schleppend in Gang. 
		Entsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit. Zu tun ist genug, aber die 
		im Jahr zuvor eingeführte D-Mark ist knapp. An Kredite ist nur schwer zu 
		kommen. Besonders schlimm wirkt sich der Engpass für Landwirte aus: 
		Maschinen und Geräte, die sie dringend brauchen, sind so 
		unverhältnismäßig teuer, dass die Finanzierungskosten bei weitem nicht 
		von den Einnahmen gedeckt werden. Vielen Bauern droht Überschuldung.
		
		
Juni 1949
		
		Die Behörden, die sich um die Bedürftigen kümmern müssen, sehen kaum 
		Land. Mehr als jeder zehnte Einwohner im Kreis Geldern ist Flüchtling. 
		Die Welle von Zuwanderung heimatloser Menschen ebbt nicht ab.
		
		Gelegentlich melden die Zeitungen auch etwas Erfreuliches: Am 1. Juni 
		inseriert Tilla Geenen für die Winnekendonker Restauration Zur Brücke 
		ihre Wiedereröffnung: „Gepfl. Getränke - Kaffee - Schnittchen - 
		Rauchwaren wie früher“. Und: „In Kürze wieder Kegelbahn.“
		
		Auch das gibt es: Im Achterhoek wird mit dem Bau der Josefskapelle 
		begonnen. Architekt Glitz hat sie entworfen. Die ausführende Baufirma 
		Görtz kann auf viele freiwillige Helfer zurückgreifen.
		
		Richtfest feiert die neue
		
Schule in 
		Winnekendonk, die
		
August Wormland 
		(Amtsdirektor) und
		
Wilhelm 
		Wehren (Bürgermeister) zu verdanken ist. Bald wird die Zeit, in der 
		die Kinder in Nissenhütten und Gaststätten unterrichtet werden müssen, 
		vorbei sein. 
		
		
In Twisteden darf mit Genehmigung der britischen 
		Militärs ein Sportverein gegründet werden. Vorsitzender der DJK wird 
		Gerhard Koenen, Pastor August Hegenkötter ist Präses und damit 
		geistlicher Begleiter des Vereins, der zur größten und gesellschaftlich 
		bedeutsamsten Einrichtung in Twisteden heranwachsen wird. 
		
		In dieser Aufbruchzeit ist die Erinnerung an den Krieg stets 
		gegenwärtig. Bis Mitte Juni sind 50 Deutsche von den Militärs 
		dienstverpflichtet gewesen, jedes Grundstück nach Minen abzusuchen. 
		Jetzt ist der Regierungspräsident zuständig; er regelt die Minensuche 
		neu.
		
		In den „Amtlichen Bekanntmachungen“ der Zeitungen erscheinen Aufgebote, 
		in denen Ehefrauen die „Tot-Erklärung“ ihrer Ehemänner beantragen. Im 
		Text heißt es: „Die bezeichneten Verschollenen werden aufgefordert, sich 
		spätestens (Datum) zu melden, widrigenfalls die Todeserklärung erfolgen 
		wird.“ Diese amtlichen Vorgänge sind auch wirtschaftlich wichtig für die 
		Hinterbliebenen und ihre Versorgung.
		
		In Twisteden werden an der alten Schule zwei Schulräume angebaut. Bisher 
		müssen sich 211 Schüler zwei Klassenräume und ein Gastwirtszimmer 
		teilen. 
		
		
In Kevelaer liegt Pastor
		
Wilhelm 
		Holtmann, der Hüter des Heiligtums während der Nazi-Zeit, im 
		Sterben. Millionen Menschen sind im Lauf der Jahrhunderte zum Gnadenbild 
		gepilgert, nun kommt es - wohl zum ersten und einzigen Mal in der 
		Geschichte - zu einem Sterbenden. Holtmanns Vertreter,
		
Fritz Dyckmans, 
		holt es aus dem Schrein in seiner engster Fassung, geschützt durch 
		sieben Scheiben, und bringt es unbemerkt ins Marienhospital ans Bett des 
		Pastors. Wilhelm Holtmann stirbt, zwei Tage danach, am 24. Juni.
		
		Die Nachrufe füllen Zeitungsseiten. „Heimgang eines großen Mannes“, 
		heißt es in einem der Nachrufe, „Persönlicher Freund des Kardinals 
		Clemens August von Galen“, „Einer der warmherzigsten und eifrigsten 
		Förderer des ‚Pax-Christi‘-Gedankens“, „Hüter des Kevelaerer Heiligtums“ 
		und „unermüdlicher Friedensbote“. 
		
		Dechant Holtmann wird unter Teilnahme der Weihbischöfe Dr. Gleumes und 
		Dr. Roleff zu Grabe getragen. Abordnungen aus Holland und Luxemburg 
		erscheinen zur Beerdigung. Sein Grab am Fuß des Hochkreuzes auf dem 
		Friedhof im Marienpark wird bis heute in Ehren gehalten. „Hüter des 
		Heiligtums der Trösterin der Betrübten in schwerer Zeit“ steht auf einer 
		bronzenen Tafel.
		
		
Geschichte wiederholt sich normalerweise nicht, in 
		diesem Fall tut sie es: Als der hochgeschätzte Wallfahrtsrektor stirbt, 
		befindet sich Kevelaer unmittelbar vor der großen Feier zur 
		Stadterhebung. Als einer seiner Vorgänger,
		
Joseph van 
		Ackeren, starb (1903), stand Kevelaer vor der Eröffnung des neuen
		
Rathauses.
		
		
		Jetzt, im Hochsommer 1949, interessiert sich die Jugend für ein anderes 
		Ereignis: Am 25. Juni werden nach gründlicher „Enttrümmerung“ die ersten 
		Besucher ins 
		Freibad gelassen. Aus alten Feuerlöschern sind Bojen gebastelt 
		worden, und lange Rettungsstangen liegen bereit. Das Wasser im nur 
		teilweise betonierten Becken wird durch eine dichte Schilfkolonie 
		„automatisch“ gereinigt: Die Pflanzen wirken, das hat die Praxis 
		gezeigt, tatsächlich als Schmutzfilter.
		
		
Am Tag nach der Freibad-Eröffnung, am 26. Juni, drei 
		Tage vor Wallfahrtseröffnung (Peter und Paul), feiert eine große 
		Menschenmenge die Stadtwerdung, und zwar angemessen ruhig, so wie 
		Kevelaer auch 1903 - nach dem Tod des Wallfahrtsrektors van Ackeren - 
		die vorbereiteten Festivitäten zur Rathauseröffnung zurückgefahren hat. 
		Während der Stadterhebungsfeier liegt die sterbliche Hülle von Wilhelm 
		Holtmann in der Beichtkapelle aufgebahrt. Sein Begräbnis ist das erste 
		in der jungen Stadt Kevelaer.
		
		Zur Geburt des ersten Kindes nach der Stadterhebung werden eine Urkunde 
		und ein Sparkassenbuch mit einem Guthaben von 100 D-Mark den Eltern 
		übergeben. Der erste Ostheimkehrer erhält neben der üblichen 
		Bekleidungsbeihilfe ebenfalls 100 Mark geschenkt. Während sein Name 
		nicht überliefert ist, kennen wir das Ehrenpatenkind der Stadt: Das 
		Mädchen heißt 
Maria 
		Kammans, heute Lemmen, geboren am 26. Juni 1949.
		
		Der Brief, den die Eltern erhalten, stammt vom 1. Juli und ist auf 
		einfachem Schreibpapier getippt, ausgefertigt im Amt Kevelaer, Abteilung 
		2, schwungvoll unterschrieben von Amtsbürgermeister Peter Plümpe und 
		Amtsdirektor Fritz Holtmann. In dem Brief an die Familie des 
		Bauarbeiters Anton Kammans (Bahnstraße 20) heißt es u.a.: „Ihrer Familie 
		wurde die Ehre zuteil, der neuen Stadt die erste neugeborene 
		Stadtbürgerin zu schenken.“
		
		Am Tag der Stadterhebung führt Kevelaer sein neues Wappen ein: vorne 
		blau mit goldenem Kreuz, hinten gelb mit grünem Kleeblatt. Es bleibt bis 
		zur Kommunalen Neuordnung gültig; 1969 wird es durch das heutige 
		ersetzt.
		
		Aber nicht nur in Kevelaer wird um einen Verstorbenen getrauert. Am Tag 
		der Stadterhebungsfeier stirbt in Wetten Bürgermeister
		
Mathias Selders 
		(71). Er ist seit Kriegsende im Amt gewesen.
		
		
Juli 1949
		
		Die Welt dreht sich weiter. Am 4. Juli ist Hauptfesttag der Kirmes in 
		Winnekendonk. Nachmittags geht es im Festzug durch das Dorf. 
		
		In der Tat haben die Menschen Grund zur Freude: Die 
		Lebensmittelversorgung klappt inzwischen, und das Kreisernährungsamt in 
		Geldern ist voller Zuversicht nach der neuen Ernte. Das Elend mit den 
		Lebensmittelkarten hört auf. Das wird in Geldern auf 
		sarkastisch-drastische Weise gefeiert: Mitglieder des dortigen 
		Bergknappenvereins „Glück auf“ treten in Trauerkleidung und mit Zylinder 
		zur „Bestattung“ des Kartensystems auf dem Hof der Stadtverwaltung an.
		
		Sehr viel kleiner sind die Papiere, mit denen sich die Kevelaerer 
		beschäftigen, die am 27. Juli zum ersten Mal im Hotel „Weißes Kreuz“ 
		tagen: Es sind die
		
		Briefmarkensammler, die sich bald zu einem Verein zusammenschließen 
		werden. 
		
		
August 1949
		
		Zwischen Einheimischen und Flüchtlingen kommt es immer wieder zu 
		Unstimmigkeiten. In Kevelaer wird ein kleiner „Ausschuss für die 
		Beseitigung von Streitfragen“ gebildet - bestehend aus zwei Vertretern 
		der Flüchtlinge und einem der „Eingesessenen“. 
		
		Viele Probleme können nun auf dem „kleinen Dienstweg“ geklärt werden.
		
		Der neue Pfarrer für die Wallfahrtsstadt ist weitgehend unbekannt. Man 
		liest, dass er gebürtig aus Rindern ist und 1934 seine Priesterweihe 
		empfangen hat. Viel mehr haben die Zeitungen noch nicht über den 
		unbekannten Geistlichen zu berichten:
		
Heinrich 
		Maria Janssen, der später Bischof von Hildesheim werden wird. 
		
		
		
		
		
		
		
		
		
		