Am 31. März 
		1949, so weist es ein Verwaltungsbericht aus, leben in Kevelaer 
		922 Vertriebene und Flüchtlinge. Damit ist fast jeder zehnte Einwohner 
		der 10.000-Seelen-Gemeinde kein Einheimischer. 
		
		Mitte April begeben sich Frauen und Männer mit Schippe und Hacke zur 
		zerstörten St.-Antonius-Kirche. Es ist der Auftakt zu einer 
		Aufräumaktion, die in erster Linie den Weihestätten der Marienstadt 
		gilt. Auch Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung beteiligen sich und 
		tauschen den „Federhalter mit dem Spaten“, wie eine Zeitung schreibt. In 
		den nächsten Wochen packen auch die Nachbarschaften an. Trümmer und 
		Schuttreste sollen an allen markanten Punkten der Stadt beseitigt werden 
		- die Wallfahrtszeit steht bevor. 
		
		Es sind die letzten Wochen und Monate vor Gründung der Bundesrepublik 
		Deutschland. Seit dem 8. April ist das Drei-Mächte-Abkommen 
		ausgehandelt, das den Deutschen für den Zeitraum, „in dem die Besatzung 
		notwendig ist“ das „größtmögliche Maß an Selbstregierung“ zugesteht. Das 
		Abkommen, das Ende September 1949 in Kraft treten wird, macht den Weg in 
		einen neuen Staat frei.
		
		Zeitgleich wird in Kevelaer der Grundstein für die neue 
		St.-Josef-Kapelle gelegt - als Ersatz für die in den letzten 
		Kriegsmonaten zerstörte Kapelle. Die St.-Josef-Bruderschaft, der 
		vorwiegend katholische Handwerker angehören, sorgt mit eigenen Mitteln 
		für den Neubau an der Ecke Twistedener/Kroatenstraße. Kaplan
		
		Fritz Dyckmans sieht in dem Engagement der Bruderschaft eine 
		„Hinwendung zu christlichen Werten“. Der Krieg habe nicht nur materielle 
		Schäden, sondern auch „geistig-seelische Schäden“ hinterlassen.
		
		Zwei Tage nach der Grundsteinlegung gründen in Twisteden auf Initiative 
		von Pastor August Hegenkötter Bürger in der Gastwirtschaft Heuvens einen 
		Sportverein. Die Gemeinschaft ist bewusst christlich orientiert und 
		kirchlich verfasst: Deutsche Jugendkraft Schwarz-Weiß Twisteden.
		
		
Im April 1949
		wird geradezu pausenlos verhandelt. In Frankfurt treffen sich 
		Vertreter des Parlamentarischen Rates mit den alliierten 
		Militärgouverneuren, um Auswirkungen des Besatzungsstatus zu besprechen. 
		Diesmal geht es besonders um die Frage der Polizeigewalt in der neuen 
		Republik und um Wahlgesetze. 
		
		Am 24. April wird der bis zuletzt von den Fraktionen immer wieder 
		debattierte Entwurf des Grundgesetzes in dritter Lesung vom 
		Parlamentarischen Rat angenommen. Damit kann das grundgesetzliche 
		Fundament, auf dem die neue Bundesrepublik Deutschland stehen soll, 
		baldmöglich endgültig verabschiedet werden.
		
		Anfang Mai wird in Kevelaer das Jubiläum „300 Jahre Kerzenkapelle“ mit 
		Weihbischof Dr. Gleumes gefeiert.
		
		Gerhard Kaenders eröffnet nach Rückkehr aus der Gefangenschaft sein 
		Herren- und Knaben-Konfektionsgeschäft an der Busmannstraße 37 wieder. 
		55 Jahre zuvor ist es gegründet worden. Ebenfalls Anfang Mai 1949 
		verabschiedet die St.-Quirinus-Schützenbruderschaft eine neue Satzung. 
		Es ist der 8. Mai 1949, der Tag, an dem mit 53 von 65 Stimmen - gegen 
		CSU, KPD, DP und Zentrum - das Grundgesetz verabschiedet wird.
		
		Zwei Tage danach entscheidet sich der Parlamentarische Rat mit 33 
		Stimmen für Bonn als Hauptstadt der künftigen Bundesrepublik. 29 
		Abgeordnete plädieren für Frankfurt am Main. Am 12. Mai akzeptieren die 
		westalliierten Militärgouverneure das Grundgesetz, betonen aber ihre 
		Rechte als Besatzer. Am selben Tag heben die Sowjets die Berlin-Blockade 
		auf. Für Berlin, die ehemalige Hauptstadt, gilt ein besonderes 
		Besatzungsstatut. 
		
		
Während die Westdeutschen vor der 
		Gründung ihres neuen Staates stehen, geschehen in Kevelaer sonderbare 
		Dinge. In der Marienstadt kursieren Gerüchte, eine teilweise gelähmte 
		Frau sei bei ihrem Besuch der Gnadenkapelle geheilt worden.
		
		
Die Frau heißt Maria Offermanns, 1903 in Aachen-Brand 
		geboren und seit 1948 erheblich gehbehindert. Die an Multipler Sklerose 
		erkrankte Frau kann sich nur zentimeterweise vorwärtsbewegen und 
		schließt sich dennoch einer Wallfahrt ihrer Gemeinde nach Kevelaer an. 
		Unter Aufbietung aller Kräfte schleppt sie sich betend über den Kreuzweg 
		und lässt sich zur Gnadenkapelle fahren. 
		
		„In dem Moment, als ich das Gnadenbild sah, fing ich laut an zu 
		schreien“, schrieb sie später in einem Brief. Viele Ohren- und 
		Augenzeugen erleben, was nun geschieht. Maria Offermanns schreit 
		mehrmals: „Hilf Maria, es ist Zeit, ... es ist die höchste Zeit!“ Und 
		sie löst sich von ihren drei Helfern, die sie stützen, und kniet nieder. 
		Niemand um sie herum rührt sich. „Liebe Mutter Gottes, ich kann doch 
		knien, dann lass’ mich doch noch einmal gehen“, betet sie. Auf einmal 
		steht die Frau auf, begibt sich zum Gnadenbild, küsst es dreimal, kniet 
		wieder hin und sagt: „Liebe Mutter Gottes, du hast mir geholfen.“ 
		
		Erst als Maria Offermanns ohne Hilfe aufsteht und sich auch beim Gehen 
		nicht mehr helfen lassen muss, begreifen die Umstehenden, dass etwas 
		Wunderbares geschehen sein muss. 
		
		Während in Kevelaer selbst die Spontanheilung der Maria Offermanns eher 
		zurückhaltend beurteilt wird, spielen sich bei der Rückkehr der Pilger 
		nach Aachen-Brand ergreifende Szenen ab. Hier wird offen von einem 
		Heilungswunder gesprochen. 
		
		Aber auch wenn sich das Priesterhaus mit offiziellen Verlautbarungen 
		zurückhält, ist in diesen Tagen die Trösterin der Betrübten in aller 
		Munde. Sie wirkt auch Wunder, die auf den ersten Blick nicht als solche 
		erkennbar sind. Nazi-Deutschland hatte Holland überfallen. Und doch 
		pilgern am 19. Mai 1949 fromme Frauen aus Nimwegen in das Land, das 
		ihnen Schlimmes angetan hat. Es ist die erste Wallfahrt der Holländer 
		nach dem Krieg - weit mehr als zehntausend Pilger werden in der neuen 
		Wallfahrtszeit folgen. 
		
		
Für die ersten Pilger aus Holland - es sind ausnahmslos 
		Frauen - reist der Rundfunk an und berichtet über das Ereignis. Die 
		Pilgerbusse werden am Grenzübergang bei Wyler gestoppt. Sie dürfen - so 
		lauten die Vorschriften - nur bei Venlo die Staatsgrenze passieren.
		
		
		Die etwa 160 Holländerinnen werden in Kevelaer begrüßt wie alte Freunde, 
		die sich jahrelang nicht gesehen haben. In der Basilika, wo sie einen 
		Gottesdienst feiern, predigt Kaplan Fritz Dykmans in fließendem 
		Niederländisch: Seit der letzten Prozession aus Holland sei 
		„Unermeßliches an Gut und Blut“ geopfert worden. Eine der 
		bedauerlichsten Hinterlassenschaften des Krieges stelle jedoch die Mauer 
		des Hasses und des Misstrauens dar. Sie habe zwei Völker voneinander 
		getrennt, die im Wesen so viel Gemeinsames hätten. Um so erfreulicher 
		sei, dass gerade Frauen und Mütter den „versöhnenden Weg über die 
		Grenze“ gefunden hätten.
		
		
Es ist der 
		Aufbruch in ein friedliches Zeitalter - im Kleinen wie im 
		Großen. In der zweiten Mai-Hälfte ratifizieren die Landtage von zehn 
		Ländern das Grundgesetz; Bayern lehnt es als „zu zentralistisch“ ab. In 
		der Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 wird das 
		Grundgesetz ausgefertigt und feierlich verkündet. Damit ist die 
		Bundesrepublik Deutschland - noch ohne Regierung und höchste 
		Repräsentanz - geboren.
		
		Bei der ersten Bundestagswahl am 14. August erringt die CDU 31 % der 
		Stimmen, gefolgt von SPD (29,2 %), FDP (11,9 %), KPD (5,7 %), 
		Bayernpartei (4,2 %), Deutscher Partei (4 %) und Zentrum (3,1 %).
		
		Der erste Bundespräsident, im zweiten Wahlgang von der Bundesversammlung 
		am 12. September gewählt, ist Theodor Heuss (FDP). Konrad Adenauer (CDU) 
		wird drei Tage danach der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik 
		Deutschland - mit 202 gegen 142 Stimmen bei 44 Enthaltungen. Für 
		Adenauer ist, wie er schon in seiner ersten Regierungserklärung vom 20. 
		September 1949 betont, die Westintegration der Bundesrepublik vorrangig 
		gegenüber dem Ziel der Wiedervereinigung.
		
		40 Jahre werden die Deutschen auf die Vereinigung warten müssen.
		
		
		
		
		
		
		
		
		