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Kapitel D

Was soll man davon halten? In den Zeitungen wird im August 1948 berichtet, dass in Herrenchiemsee Verfassungsexperten am Entwurf eines Grundgesetzes arbeiten.

Demokratie?

Die Jüngeren unter den Deutschen kennen nur Diktatur, Krieg und Not, die Älteren haben das Gute an der Weimarer Republik längst vergessen oder nur ihren Zusammenbruch in Erinnerung. Nein, die in den Westzonen lebenden Deutschen fiebern der Gründung ihres neuen Staates keineswegs entgegen. Lethargisch erwarten sie für ihr Trümmerland eher, dass der Verlust der Souveränität nach dem verlorenen Krieg und den Verbrechen der Nazi-Diktatur nun endgültig festgeschrieben wird - diktiert von harter Hand der Besatzer.

In Bayern feilen die Schöpfer des Grundgesetzes ungestört auf der schönen Insel im Chiemsee an den Paragrafen. Zur selben Zeit kommt es auf dem Wochenmarkt in Kevelaer zu Handgreiflichkeiten. Erregte Hausfrauen fordern einen Bauern auf, den Preis für sein Fallobst zu senken. Der Wortwechsel wird immer heftiger, und als sich auch Männer einmischen, geraten sich die Leute in die Haare. Körbe mit Obst kippen um, eine Frau wird verletzt.

Während in Kevelaer die Kommunalwahl im Oktober vorbereitet wird, tritt - am 1. September 1948 - in Bonn der Parlamentarische Rat, der Vorgänger des Deutschen Bundestags, zu seiner ersten Sitzung zusammen. Seine vornehmste Aufgabe ist, den Entwurf eines Grundgesetzes zu beraten.

Die konstituierende Sitzung in der Pädagogischen Akademie, dem späteren Bundeshaus, hat durchaus etwas Festliches. Der Saal ist mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückt, den Farben des Parlamentarischen Rates und der künftigen Bundesrepublik. Einberufen durch den Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz der elf westdeutschen Länder, Christian Stock (Hessen), wird die Sitzung durch den Regierungschef des gastgebenden Landes, Karl Arnold, eröffnet.

Zu seinem Vorsitzenden wählt der Rat den Kölner Konrad Adenauer (CDU), während Carlo Schmid (SPD) mit dem Vorsitz des Hauptausschusses betraut wird. Als Gäste und beratende Mitglieder nehmen fünf Berliner Abgeordnete teil. Die ehemalige Hauptstadt, das muss man noch lernen, gehört nicht dazu, sondern steht unter Sonderstatus der vier Besatzungsmächte.

In Museum tagen die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rates sowie die fünf nicht abstimmungsberechtigten Gäste aus Berlin über die vorläufige Verfassung, die nur Grundgesetz genannt wird, um einer gesamtdeutschen Lösung nicht vorzugreifen. Nordrhein-Westfalen ist mit 16 Mitgliedern vertreten. CDU/CSU und SPD bilden mit je 27 Mitgliedern gleich starke Fraktionen im Parlamentarischen Rat, während die FDP-Fraktion aus fünf Abgeordneten besteht. Mit je zwei Mitgliedern sind die KPD, die Deutsche Partei und das Zentrum vertreten. Der CDU/CSU-Fraktion steht Anton Pfeiffer vor, Carlo Schmid führt die der SPD. Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, leitet die FDP-Fraktion.

Die in der Bevölkerung verbreiteten Befürchtungen, vom Grundgesetz und dem angestrebten Staat mit demokratischer Ordnung sei unter dem Diktat der Besatzer nicht viel Gutes zu erwarten, sind unbegründet. In Wirklichkeit stärken die Schöpfer des Grundgesetzes die Grundrechte der Bürger und schützen den künftigen Staat davor, dass er wie die Weimarer Republik auf legale Weise aus den Angeln gehoben werden kann. Das Grundgesetz, so lesen es jetzt die politisch interessierten Bürger in den Zeitungen oder hören es am Radio, ist der beste Garant dafür, dass sich die Fehler der Weimarer Republik nicht wiederholen können.

Auch die Sorge, dass sich der Parlamentarische Rat dafür hergeben könnte, die Teilung des Landes für alle Zeiten festzuschreiben, entbehrt jeder Grundlage. Schon in der Präambel und damit an prominentester Stelle betont das Grundgesetz sein oberstes Ziel: die Herstellung der Einheit aller Deutschen.

Nicht unerwartet reagieren die Westalliierten auf das Grundgesetz. Sie verlangen „Nachbesserungen“, die allerdings besonders die Rolle Berlins betreffen, das zu einem gleichberechtigten Bundesland geworden wäre, wenn es nach dem Parlamentarischen Rat gegangen wäre. Aber das ist mit den Alliierten nicht zu machen, zumal die Sowjets im Fall Berlin ein Wort mitzureden haben. So muss es beim Sonderstatus der ehemaligen Hauptstadt bleiben, weshalb die Berliner Abgeordneten kein Stimmrecht im Rat und im späteren Bundestag bekommen. Harte Arbeit und Verhandlungen stehen noch bevor, bis der Parlamentarische Rat das Grundgesetz am 8. Mai 1949 endlich beschließen wird.

In der Ostzone vollzieht sich die Staatsgründung schneller. Als Reaktion auf die einseitig vorgenommenen Veränderungen in den drei Westzonen wird in der sowjetisch besetzten Zone bereits am 22. Oktober 1948 durch den einberufenen Deutschen Volksrat der Verfassungsentwurf für die „Deutschen Demokratischen Republik“ verabschiedet. Die deutsche Teilung in zwei Staaten ist nicht mehr aufzuhalten.

Die kurze Zeit des ersten frei gewählten Gemeinderates von Kevelaer ist zu Ende. Am 17. Oktober 1948 sind Neuwahlen. Die Besorgnis der CDU-Mitglieder bei Gründung ihrer neuen Partei in Kevelaer, das Zentrum könne ihr noch zu schaffen machen, stellt sich als berechtigt heraus. Die Kevelaerer CDU verliert erheblich an Stimmen an das Zentrum, der nun zweistärksten Partei im Wallfahrtsort. Außerdem kostet die CDU der Auftritt einer Wählergemeinschaft in Twisteden fast jede dritte Stimme.

Im November 1948 tritt der neue Gemeinderat von Kevelaer zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die erstarkte SPD greift zu einem Trick: Wilhelm Fegers schlägt als Bürgermeister den Fraktionschef der CDU, Willy Dierkes, vor, um die Fraktion zu spalten. Dierkes lehnt natürlich ab, gegen Peter Plümpe anzutreten. FDP-Ratsherr Heinz Ginters bringt den Vorsitzenden der Zentrum-Fraktion, Heinrich van Straelen, ins Spiel.

Die neun CDU-Ratsherren wählen geschlossen den bisherigen Bürgermeister Peter Plümpe. SPD und FDP, zusammen acht Stimmen, votieren ebenfalls einmütig für Rechtsanwalt van Straelen.

Damit ist Plümpe, knapp aber klar, gewählt und wird, was sich 1948 niemand vorstellen kann, weitere 30 Jahre im Bürgermeisteramt bleiben.

Die historische Bedeutung der Vorgänge dieser Wochen rauscht an der Öffentlichkeit still und leise vorbei. Über Plümpes Wahl wird in der Rheinischen Post - das Kävels Bläche kommt erst 1949 wieder heraus - wie über eine 08/15-Wahl berichtet.

Tatsächlich ist am 17. Oktober 1948 zum ersten Mal in der Geschichte Kevelaers ein Bürgermeister von frei gewählten Ratsmitgliedern ins Amt gehoben worden. Nie zuvor hat den Wallfahrtsort ein Politiker repräsentiert, der nicht weisungsgebunden an den Strippen der Regierung hing.

Auf größeres öffentliches Interesse stößt ein Prozess, der Ludwig Klüttgen, einem früheren Gauleiter aus Essen, gemacht wird. Der SA-Obersturmbannführer war für die Überwachung der Schanzarbeiten am Westwall eingesetzt worden und hatte am 17. September 1944 zwei bei Wyler gefangen genommene US-Fallschirmspringer mit seiner Pistole erschossen. Nach dem Krieg hatten die Amerikaner den Kriegsverbrecher gejagt und in Gillesheim bei Hannover aufgespürt.

Im Herbst 1948 wird dem Mann in Dachau der Prozess gemacht. Klüttgen wird zum Tode verurteilt und am 29. Oktober gehenkt.

Auch der frühere erste Beigeordnete der Stadt Geldern, Bernhard Pöttmann, muss sich vor Gericht verantworten. Dem ehemaligen SS-Obersturmführer wird vorgeworfen, am 14. Februar 1945, als Geldern nach Bombenangriffen lichterloh brannte, ein Löschverbot erlassen haben. Ende Dezember 1948 verurteilt das Landgericht Kleve Pöttmann wegen Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen politischen Organisation und wegen der Misshandlung von Mitbürgern im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Der Anklagepunkt „Löschverbot“ wird allerdings mangels Beweises fallen gelassen.

Anfang 1949 tagt der Entnazifizierungsausschuss im Kevelaerer Ratssaal. Über zwei prominente Personen wird verhandelt - über Kevelaers Bürgermeister Aloys Eickelberg, der während der Nazi-Zeit amtiert hat, und Amtsbaumeister Krauhausen. Beide belasten sich gegenseitig, und jeder stellt sich so dar, dass seine Haltung - so drückte es Krauhausens Verteidiger aus - „als aktiver Widerstand gewertet werden“ könne. Krauhausen wird entlastet und in Gruppe IV eingestuft (ohne Beschränkung), Eickelbergs Fall wird wegen Unzuständigkeit abgegeben: Er hatte gegen die Reduzierung seiner Pension auf 25 Prozent Einspruch erhoben.

Bei einem anderen Einspruch dieser Tage geht es um nicht weniger als die Zukunft unseres Landes: Am 2. März 1949 weisen die drei westalliierten Militärgouverneure den vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Entwurf des Grundgesetzes zurück. In acht Punkten weiche er von ihren Forderungen ab. Am 12. April müssen die westdeutschen Ministerpräsidenten in Bonn dem von den Westalliierten vorgelegten Besatzungsstatut zustimmen, denn nur unter dieser Voraussetzung wird den drei Westzonen eine Teilsouveränität zugebilligt.

Der Parlamentarische Rat und die Militärgouverneure treten derweil in Frankfurt am Main in direkte Verhandlungen über das Grundgesetz ein und einigen sich am 25. April auf Änderungen.

Damit ist der Weg frei für die Geburt einer neuen Republik - der Bundesrepublik Deutschland.
Kapitel D

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© Martin Willing 2012, 2013