Logo für Blattus Martini

Titelbutton
logo INHALTSVERZEICHNIS
linie
Kapitel 2 von 115

August 1949


Die Deutschen in den drei westlichen Besatzungszonen stehen am Vorabend ihrer zweiten Befreiung. Zur ersten Bundestagswahl am 14. August, an der Westdeutschland seine Regierung selbst bestimmen darf, treten 16 Parteien an. Die CDU, die Partei von Ludwig Erhard, geht mit 31 Prozent als stärkste Gruppe hervor, gefolgt von der SPD (29,2 Prozent). Die FDP kommt auf 11,9, die KPD auf 5,7 Prozent. Alle anderen Parteien - auch das vor der Nazi-Zeit so bedeutsame Zentrum - landen bei deutlich unter 5 Prozent der Stimmen.

Das ist im Kreis Geldern, der mit Kleve den Wahlkreis 26 bildet, anders. Hier werden 17 Prozent der Stimmen dem Zentrum gegeben. Wahlsieger ist jedoch auch im Kreis Geldern die neue Partei CDU (57,7), der mit deutlichem Abstand SPD (13,1), FDP (2,9) und KPD (2,3 Prozent) folgen. Der direkt gewählte Bundestagsabgeordnete heißt Dr. Martin Frey, ein Diplom-Landwirt aus Heinsberg.

Maria OffermannsAm Tag nach dem Wahlsonntag wird vor dem Gnadenbild in Kevelaer die hochgradig im Gehen behinderte Pilgerin Maria Offermanns geheilt. Die 45-jährige Frau aus dem Aachener Raum hat an Multipler Sklerose gelitten.

Maria Offermanns.

Bei ihrer Heimreise spielen sich ergreifende Szenen ab. Zeitungen berichten von einem Heilungswunder. Maria Offermanns sei, so heißt es in Artikeln, vollständig gesund nach Hause zurückgekehrt. In der Kerzenkapelle wird später eine Danktafel angebracht.

Mit drakonischen Strafen ahndet nicht nur das Militärgericht in Kevelaer, sondern auch das Schöffengericht in Kleve Straftaten. Zwei Kevelaerer, die einige Hühner und Kaninchen sowie ein Fahrrad gestohlen haben, werden für sieben Monate ins Gefängnis geschickt.

In Geldern richtet die Kreisverwaltung am 15. August das neue Soforthilfeamt ein, so wie es das „Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände“ vorschreibt. Soforthilfe ist vorgesehen für Flüchtlinge, Sach- und Währungsgeschädigte, politisch Verfolgte und Spätheimkehrer. Sie bekommen Unterhaltshilfe. Gut 1.900 Anträge werden bis Ende 1949 gestellt, gut die Hälfte davon wird genehmigt.

Für den 17. August werden auf Anregung des Kultusministeriums in Düsseldorf die Vertreter mehrerer Kreise, Städte und Gemeinden nach Kleve eingeladen. Auf der Tagesordnung steht die „Gründung des ‚Theaters am Niederrhein e.V.‘“ Kevelaer ist desinteressiert und nimmt nicht teil. Vereinsmitglied werden aus dem Kreis Geldern nur Geldern und Aldekerk. Wegen des dürftigen Interesses seiner Kommunen kann sich auch der Kreis Geldern nicht zur Mitgliedschaft entschließen. Aber weil ihm ein „Theater am Niederrhein“ förderungswürdig erscheint, lässt der Kreis einige Monate später einen Zuschuss von 500 Mark springen.

Geldern und Aldekerk, die beiden Mitgliedskommunen, werden noch in der Spielzeit 1949/50 mit Aufführungen der neuen Theatergruppe bedacht. Die Besucherreaktionen sind eindeutig: Traurig machende Dramen will niemand sehen, Lustspiele um so lieber.

In der St.-Petrus-Pfarrei Wetten wird am 21. August Pfarrer Wilhelm Kück als vierter neuer Pfarrer in zwölf Jahren in sein Amt feierlich eingeführt. Wilhelm Kück wird bis 1960 bleiben.

In Kevelaer, wo sich Kaplan Fritz Dyckmans seit dem Tod von Wilhelm Holtmann um die Wallfahrtsleitung kümmert, steht die Amtseinführung von Heinrich Maria Janssen bevor. Der Bischof würdigt Dyckmans‘ Einsatz, ernennt ihn offiziell zum Leiter der Wallfahrtsseelsorge und verleiht ihm den Titel „Rektor“. Spätestens seitdem ist in der Marienstadt die Bezeichnung „Rektor der Wallfahrt“ für den jeweiligen Chef im Priesterhaus gebräuchlich.

Auch Wiedereröffnungen sind gute Nachrichten: Ebus, das Spezialhaus für Betten und Gardinen seit 1897, gibt am 27. August per Inserat bekannt, dass die Kriegsschäden behoben seien und das Geschäft („Eigene Bettfedernreinigung“) nunmehr wieder geöffnet sei.

September 1949

Zeitungstitel
Mit diesem Titel startete das Kävels Bläche nach dem Krieg neu.

Jakob Köster hat lange gezögert, seine Kevelaerer Zeitung von 1879 wieder herauszubringen. Als „Kevelaerer Volksblatt“ war das Kävels Bläche von den Nazis gleichgeschaltet und auf dem Höhepunkt des Krieges eingestellt worden. Köster hätte als politisch unbelasteter Verleger von den Militärbehörden vermutlich ohne Schwierigkeiten eine Lizenz erhalten; aber erst jetzt, da sich das Ende der Militärregierung ankündigt, kommt für ihn die Neuherausgabe des Kävels Bläche in Frage.

ZeitungstitelKöster ist damit beschäftigt, das Erscheinen der Wochenzeitung „Aus Kevelaer und Umgebung“ - ab November - vorzubereiten.

Der neue Zeitungstitel wurde meist in grün gedruckt.

Bereits ab 1. September etabliert sich die neue Tageszeitung „Rheinische Post“ mit erstmals wieder sechs Ausgaben in der Woche auf dem heimischen Zeitungsmarkt. Damit wird die von der Kreisverwaltung im Auftrag der Militärregierung herausgegebene „Gelderner Post“ überflüssig. Sie stellt Ende des Monats ihr Erscheinen ein.

Im September, einem der besucherstärksten Monate während der Pilgerzeit, in dem täglich rund 3.000 Menschen den Bahnhof Kevelaer bevölkern, bietet dieser „Stadteingang“ ein trostloses Bild. Der Blick fällt auf von Unkraut überwucherte Geröllhalden, verrostete Stahltrümmer, von Sprengladungen zerrissene Kellerlöcher und Bretterverschläge. Die Bahnhofshalle sei „räumlich völlig unzureichend, schreibt eine Zeitung. „Es zieht, und bei Regen ist nur ein kleiner Teil der Wartenden notdürftig geschützt.“

In Bonn konstituieren sich am 7. September die beiden Kammern Bundestag und Bundesrat. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold (CDU), wird zum Bundesratspräsidenten gewählt.

Wetten feiert am 11. September die erste Primiz seit 17 Jahren. Theodor van Stephoudt (* 1918, † 2009) zelebriert seine erste heilige Messe in der Heimatpfarrei.

Am Tag darauf wird in Bonn FDP-Vorsitzender Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er schafft es im zweiten Wahlgang.

Zum ersten Bundeskanzler wird am 15. September Konrad Adenauer mit 202 gegen 142 Stimmen bei 44 Enthaltungen gewählt. Er steht an der Spitze einer Koalition aus CDU/CSU, FDP und DP (Deutsche Partei, seit 1961 nicht mehr auf Bundesebene präsent). In seiner Regierungserklärung (20.9.) lässt Adenauer keinen Zweifel an seinen politischen Zielen offnen: Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik als „alleiniger legitimer staatlicher Organisation des deutschen Volkes“ und Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze.

Zugleich gibt Adenauer einer Westintegration der Bundesrepublik den Vorrang vor der Wiedervereinigung des westlichen und östlichen Teils Deutschlands. Nicht wenige Historiker vertreten die Ansicht, dass damals die deutsche Einheit erreichbar gewesen wäre. Aber zu welchem Preis?

In seiner Regierungserklärung kommt der Kanzler auf die Kriegsgefangenen zu sprechen. Was Adenauer ausführt, spiegelt die Lage von 1949 deutlich wider:

In Rußland werden noch Millionen von Kriegsgefangenen zurückgehalten. Wir wissen nicht, wohin die 1,5 bis 2 Millionen deutscher Kriegsgefangener gekommen sind, die aus den russischen Heeresberichten über die jetzt von Rußland angegebene Zahl der Kriegsgefangenen hinaus errechnet werden konnten. Das gleiche gilt in ähnlicher Weise für Ju-goslawien. Das Geschick die-ser Millionen Deutscher, die jetzt schon seit Jahren das bit-tere Los der Gefangenschaft getragen haben, ist so schwer, das Leid ihrer Angehörigen in Deutschland so groß, daß alle Völker mithelfen müssen, die-se Gefangenen und Verschleppten endlich ihrer Heimat und ihrer Familie zurückzugeben. (...)

Die Arbeit der Bundesregierung wird weiter den etwa 200.000 Deutschen gelten müssen, die sich in dem ehemaligen Ostpreußen und Schlesien sowie in der Tschechoslowakei befinden, die als Facharbeiter oder als politisch mehr oder minder Belastete zurückgehalten werden. Darunter befinden sich viele Frauen, die in der ersten Schockwirkung der Niederlage und in der Hoffnung auf Rückkehr ihrer noch in Gefangenschaft befindlichen Männer für Polen optiert haben, deren Männer aber in der Zwischenzeit nach Westdeutschland ent-lassen worden sind. Das Internationale Rote Kreuz hat es übernommen, mit den Westalliierten einerseits und mit Warschau und Prag andererseits über die Umsiedlung dieser bedeutenden „Restbevölkerung“ zu verhandeln. (...)

Die Bundesregierung wird sich auch um die 300.000 Männer bemühen müssen, die, um aus der Kriegsgefangenschaft herauszukommen, in Frankreich, Belgien und England Verträge als freie Arbeiter geschlossen haben.

Soweit das Adenauer-Zitat

Am Tag nach der Regierungserklärung Adenauers verkünden die Alliierten das Ende der Militärregierung über Deutschland. Aber nicht das Ende der Besatzung: Vom 21. September 1949 an steht die Bundesrepublik unter Besatzungsrecht. Der Bundesrepublik wird von den Westmächten lediglich das „größtmögliche Maß an Selbstregierung“ zugebilligt. Das heißt: Jedes vom Bundestag verabschiedete Gesetz muss den Hohen Kommissaren der Alliierten zur Genehmigung vorgelegt werden.

Die nach dem Ende des Nazi-Terrors zweite Befreiung der Deutschen, die 1949 zum ersten Mal eine eigene, frei gewählte Bundesregierung einsetzen dürfen, ist also noch keine endgültige. Ihre uneingeschränkte Souveränität erhalten die Deutschen erst 1955 zurück - mit Aufhebung des Besatzungsstatuts durch den Deutschlandvertrag.

Andere Sorgen haben die wackeren Fußballer des neuen Vereins DJK Schwarz-Weiß Twisteden. Sie wollen am 25. September ihr erstes Meisterschaftsspiel gegen Union Wetten gewinnen. Und sie tun es auch: 3:2 trennen sich die beiden Mannschaften.

Am selben Tag wird in Kevelaer der neue Pfarrer von St. Antonius, Heinrich Maria Janssen, in sein Amt eingeführt. Natürlich ist der Wallfahrtsort festlich geschmückt, besonders die Weezer und Amsterdamer Straße. Nach alter Tradition wird der neue Pfarrer am Hagelkreuz auf der Weezer Straße von einer großen Festgemeinde abgeholt.

In Winnekendonk kümmert sich die Pfarrgemeinde St. Urbanus um Bauland für Einwohner und geht nach Bedürftigkeit, nicht nach Konfessionszugehörigkeit, vor. 20 Parzellen südlich der Kevelaerer Straße bis zum Heiligenweg teilt die Pfarrei Ende September einer Siedlungsgemeinschaft zu. Die Pächter, die hier gärtnerisch gewirtschaftet haben, werden von der Pfarrgemeinde mit anderen Grünflächen entschädigt.

Am 28. September werden die beiden neuen Klassenräume und das Lehrerzimmer in der Twistedener Volksschule nach einem Festgottesdienst gesegnet und ihrer Bestimmung übergeben.

Oktober 1949

Auch Winnekendonks neue Schule kann bezogen werden. Am 1. Oktober wird eingesegnet. Die alte Schule war 1945 zerstört worden - acht Jahre vor ihrem 100-jährigen Jubiläum. Die neue Schule besteht aus vier Klassen mit ausgebautem Keller, wo gebadet werden kann und Platz für Fahrräder ist. Das Gebäude birgt ferner ein Lehrerzimmer und eines für Lehrmittel sowie eine Hausmeisterwohnung im Dachgeschoss.

Wachwechsel am selben Tag beim TuS Kevelaer: Willy Probst übernimmt die Führung des großen Sportvereins.

Im fernen Kalkutta gründet etwa zur selben Zeit eine junge Frau den Orden der „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Als Mutter Teresa wird sie weltbekannt werden.

Kapitel 2 von 115

linie

logo INHALTSVERZEICHNIS

linie

© Martin Willing 2012, 2013