Teil 56
Mr.W. war der freieste Mann,
den ich je kannte
Von Delia Evers
Mein Mann ist gestorben. Ich laufe durch unseren ostfriesischen Garten,
den wir über die Jahre von einer Weide in einen Park verwandelt haben -
Rosenduft überall, Tausende von Blüten. Diesen Garten hat er geliebt.
Darin haben wir einen kleinen Birkenhain angelegt. Sein letztes
Werkstück, das
er
in seiner hauseigenen Schreinerei hergestellt hat - das Holzdach für
einen verwitterten Christuskorpus - hängt in einer der Birken. Auf einer
Bank vor diesem Kreuz war unser gemeinsamer Platz. Wie oft haben wir
hier aneinander gelehnt gesessen, in die Weite der Landschaft geschaut
und den Vögeln und dem Plaudern der Blätter gelauscht. Hier haben wir
unser Leben besprochen, die kleinen Dinge und die großen, und hier haben
wir gebetet.
In Ostfriesland ist Martin zur Ruhe gekommen. Er hat wieder angefangen
zu malen, hat ganze Zimmer mit Holzmöbeln und Wandverkleidungen
ausgestattet und auf seiner elektrischen Orgel gejazzt, dass die Dielen
bebten. Er tuckerte mit einem Aufsitztrak über unsere 5000 Quadratmeter
Land, als hätte er ein dieselstark mähendes Treckergespann unter sich,
und zähmte die harmlose Weide.
Das
Motorradfahren hatten wir beide aufgegeben und unsere Maschinen verkauft
- Martin sein 1500er Honda-Goldwing-Gespann mit Sechszylinder-Boxermotor
und ich meine 550er Kawasaki.
Martin (Mann mit Pfeife) und ich während der ersten
Motorradfahrerwallfahrt, die Martin 1984 initiiert hatte. Inzwischen
nehmen jährlich Tausende Biker daran teil.
Martin war jahrzehntelang schwere Maschinen gefahren. Wir hatten nie
einen Unfall gehabt. Jetzt wollten wir kein Risiko mehr eingehen.
In Ostfriesland öffnete Martin sich, der in seiner aktiven KB-Zeit
anderen Menschen gegenüber berufsbedingt zurückhaltend gewesen war, mit
Freude, Charme, Geist und feinem Humor für private Begegnungen und
Freundschaften.
In
der Auricher St.-Ludgerus-Gemeinde erfuhren wir eine wohltuende
Offenheit, die uns nahm, wie wir waren.
Martin auf dem Kirchhof in Aurich nach einem
Sonntagsgottesdienst.
Hier wusste kaum einer von Martins Zeit als
Lokalchef bei der
Rheinischen Post, dem bundesweiten
Journalistenstreik 1980, in
dessen Folge Martin und ich unsere Arbeitsplätze verloren, Martins Sachbuch-, Roman- und Krimi-Veröffentlichungen,
seinen Auszeichnungen sowie dem
Kauf und der Herausgeberschaft des Kävels
Bläche. Binnen kurzer Zeit waren wir mitten drin in der Pfarrgemeinde. Und
wir blieben es, als Martin krank wurde. Jetzt fuhren wir nicht mehr eine
halbe Stunde lang sonntags nach Aurich, die Auricher kamen zu uns.
Da hatte Martin für die Pfarreiengemeinschaft
Neuauwiewitt längst einen
professionellen Internetauftritt programmiert, täglich aktualisiert und
mit großen und kleinen Inspirationen betreut. Er sah die Webseite als
Teil kirchlicher Verkündigung. Nach der Krebsdiagnose im Mai 2013 begann
er sofort, mich in die Arbeit einzuweisen, so dass ich nahtlos
einsteigen konnte. Erst da war er beruhigt.
Mit Freude begleitete er, dass auch für September 2014 die Norder
Küsten-Wallfahrt organisiert wurde - diesmal ohne sein Zutun. Er hatte
sie 2008 als jährliche Pilgerreise mitgegründet.
Bis in seine letzten Tage arbeitete er gedanklich an seiner Kevelaerer
Enzyklopädie, in der er Hunderte Kevelaerer vorstellt und Sachthemen in
großem Zusammenhang zeigt. Er träumte von dieser Arbeit, so sehr lebte
er ungebrochen mit den Themen aus seiner „alten“ Heimat, für die er
schon zu RP-Zeiten ab Mitte der 70er-Jahre recherchiert hatte.
Von 1981 bis 2008 hatte Martin als Herausgeber und Redakteur des Kävels
Bläche gewirkt.
Martin mit KB-Lektüre in seinem Arbeitszimmer, in
dem sich einige Tausend Bücher sammelten. Sein Spezialgebiet: das dritte
Reich.
In dieser Zeit schrieb er mit Hingabe für die Menschen in Kevelaer und
ihre Anliegen, archivierte in seiner Datenbank über die Jahre nahezu
100.000 Einträge und nutzte die Wissenssammlung für einen Journalismus,
der politische, gesellschaftliche und kirchliche Vorgänge kritisch
hinterfragte.
Die Möglichkeit, Fakten nach Themen im Volltext oder mit Kurznotizen
chronologisch zu sortieren, öffnete ihm immer wieder einen neuen Blick
auf Zusammenhänge, besonders dann, wenn in der Politik
Geschichtsklitterung angesagt war. Dann konnte Martin kompromisslos an
die Wahrheit erinnern und seine Schlüsse aus der Klitterung ziehen.
Dieser Blick auf das Ganze und seine Geschichte war Grundlage vieler
Höhepunkte unseres mehrfach preisgekrönten investigativen Journalismus‘.
Eine kleine Auswahl der Geschichten, die exklusiv im KB zu lesen waren:
* Ab 1995 über Jahre
die
Dömkes-Affaire, in der Verwaltung und Politik zuließen, dass ein
Unternehmer Hunderttausende für die Planung eines Kurzentrums in den
Sand setzte (und sich später erschoss), weil anders als vermittelt die
planerischen Voraussetzungen für das Riesenprojekt fehlten.
* Ab 1995 in diesem
Zusammenhang: die Enteignungs-Affaire, bei der Hauseigentümer auf der
Hüls mit Wissen der Stadt und der Wallfahrtsleitung von einem
angeblichen Makler unter Druck gesetzt wurden, um ihr Land für das
geplante Kurzentrum zu verkaufen.
* Ab 1995 über viele
Jahre die Affaire Klinkenberg, bei der Politiker Insiderwissen nutzten,
um einen Landeigentümer um seinen Grund zu prellen und selbst Nutzen aus
dem Boden zu ziehen.
* Ab 1996 die
Traberpark-Affaire, in deren Verlauf es zu „amtlichen“ Lügen und einer
unseligen Verquickung zwischen Politik, Rathaus und Unternehmertum kam.
* Ab 1999 die
Missbrauchs-Affaire, in deren Folge ein Kevelaerer Arzt überführt wurde,
sich jahrelang an Patientinnen vergangen zu haben.
* Ab 2000 die
Koch-Affaire, bei der das Kevelaerer Rathaus auf einen Betrüger
hereinfiel und, als ginge es um ein Monopoly-Spiel, irre Geldsummen
verschob.
* Ab 2000 die Mobbing-Affaire, bei der Verwaltung und Politik versuchten,
den schon lange ungeliebten Beigeordneten Karl-Ulrich Braasch zu
entsorgen.
* Ab 2001 über viele
Jahre die Affaire Landraub, bei der Verwaltungsmitarbeiter und Politiker
sich – auch hier mit Insiderwissen - gegen die Interessen der Eigentümer
Land am Schravelner Niersweg einverleiben wollten, um von einem
Neubaugebiet zu profitieren.
* Ab 2003 die
Bespitzelungs-Affaire, bei der in der Verwaltung mit gezinkten
Unterlagen gearbeitet wurde, um vermeintlich untreue Mitarbeiter zu
überführen.
Unser Vorgehen war immer gleich. Heikle Informationen mussten durch
mindestens zwei unabhängige Quellen gesichert sein (wir hatten sehr gute
und mutige Informanten). Sonst blieben die Hinweise im Archiv. Dieses
Vorgehen half uns durch alle Gerichtsprozesse, in einem Fall durch drei
Instanzen, wenn Politiker oder Stadtverwaltung wieder einmal versucht
hatten, die freche kleine Zeitung in die Knie zu zwingen.
Darum bemühte sich erfolglos auch der Stadtrat 1995. Er war drauf und
dran, uns unseren größten Anzeigenauftrag streitig zu machen: die
Veröffentlichung der Amtlichen Mitteilungen der Stadt Kevelaer. Wir
sollten willfähriger schreiben, sonst, so wurde uns offen gedroht,
könnten wir die „Amtlichen“ in den Wind schreiben. Martin zögerte keine
Sekunde und machte postwendend der Stadt das Recht streitig, die
Amtlichen weiterhin im KB zu veröffentlichen. Die Entscheidung brach dem
KB wirtschaftlich fast das Genick. Aber wir hatten unsere
journalistische Unabhängigkeit gewahrt.
Die einzige „Affaire“, die wir nicht abschließend klären konnten, drehte
sich um das Finanzverhalten des langjährigen Wallfahrtsleiters Richard
Schulte Staade, der mit einem dritten geheimen Haushalt auf merkwürdige
Weise frei schaltete und waltete, bis Münster – das bis dahin mehr oder
weniger weggesehen hatte – nach Schulte Staades Abgang mit Stefan Zekorn
die vorgesehenen Strukturen einsetzte. Hinweise auf ungutes
Finanzverhalten gibt es zuhauf. Doch manche Information bekamen wir nur
von einer Quelle verifiziert. Das Problem: Richard Schulte Staade hatte
Menschen um sich geschart, die er auf sich persönlich verpflichtet
hatte. Das ist mehrfach belegt – ebenso wie die Tatsache, dass sie Angst
hatten, gegen den ehemaligen Wallfahrtsleiter auszusagen.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte lange gegen Richard Schulte Staade.
Auch sie kannte eine Fülle von potentiellen Zeugen, stieß aber wie wir
auf eine Mauer des Schweigens. Eine Frau, die lange im Priesterhaus
gearbeitet hatte und mit internen Vorgängen vertraut gewesen war, hatte
bei unseren Recherchen am Telefon sofort abgewehrt. „Um Gottes Willen.
Ich sage nichts. Ich darf nichts sagen.“ Sie bat wie andere darum, in
Ruhe gelassen zu werden. Sie müsse die Dinge mit sich selbst ausmachen.
Es passte zur damaligen Politik, Richard Schulte Staade, der auch wegen
anderer Vorkommnisse in unsere Schlagzeilen geraten war, zum krönenden
Abschluss seiner Amtszeit mit der Ehrenbürgerschaft zu dekorieren.
Schulte
Staade, der Martin in seinen ersten Kevelaer-Jahren Mitte der 70er
beinahe wöchentlich ein wichtiger und inspirierender Gesprächspartner
gewesen war, hatte mit den Jahren begonnen, sich selbst im Zentrum zu
sehen.
Martin Mitte der 70er-Jahre als junger Lokalchef
der Rheinischen Post in Geldern.
Sein Kevelaer-Bild passte nicht mehr zu Martins Vorstellung von dem
Gnadenort, der 1641 erwählt worden war und dem Martin sich– auch dank
Richard Schulte Staade – innig verbunden fühlte.
Viele Reisen in die Marienwallfahrtsorte Europas mit tiefen Erlebnissen
stifteten Martin 1984 zur Gründung der Motorradfahrerwallfahrt und 1998
zur Gründung der Patronatsbewegung „Maria Kevelaer“ an. Sie mündete am
31. Mai 2000 in das Versprechen mehrerer Tausend Kevelaerer Bürgerinnen
und Bürger auf dem Kapellenplatz, ihren Gnadenort zu hüten und zu
schützen. Da war Martin längst selbst zu einem Hüter des Gnadenorts
geworden.
2002 zog er nach einer persönlichen Neuorientierung aus dem
niederrheinischen Winnekendonk ins ostfriesische Großheide.
Martin malte in seinem Atelier, das zugleich sein
Arbeitszimmer war.
2008 verkauften wir das Kävels Bläche nach 27 „Dienstjahren“ an die
Funke-Medien-Gruppe. Über Jahre betreute Martin die
„Heimatseiten“ weiter – Alleinstellungsmerkmal des KB.
2010
heirateten wir - Martin und ich (Bild). Spätestens da hatte bei uns eine
neue Lebensqualität Einzug gehalten – mit vielen Reisen in unserem
Bulli, mit Pilgerfahrten nach Israel und Lourdes, mit Freundschaften,
die sich immer weiter vertieften und zum Vorschein brachten, was Martin
lange nicht hatte nutzen können: sein Gesprächstalent, das weit mehr
„drauf“ hatte als gute Interviews zu führen. Bei oberflächlichem
Geplänkel, wo jeder nur noch Stichwortgeber für den Beitrag des nächsten
ist und wo mancher vorführt, was er zu wissen meint, schwieg er ohne
Vorwurf. Manch ein Vielredner hielt ihn daher für einen langweiligen
Gesellschafter. Er war das Gegenteil: Da, wo Martin bei anderen echtes
Interesse fühlte, wo sie gespannt auf Hintergründe waren und nicht nur
die eigene Haltung und Bildung reproduzierten, redete und stritt Martin
mit reichem Wissen, viel Herzblut und druckreifer Sprache.
Die Gabe, seinen Geist einzusetzen, nutzte er bis kurz vor seinem Tod am
Pfingstmontag.
Martins letzte Begegnung mit „Kevelaer“ hatte er vier Tage zuvor gehabt.
Ihm blieb zwischen den Morphinspritzen auch an diesem Donnerstag nur ein
schmaler Zeit-Korridor, an dem er mit der ganzen Palette und Pracht
seiner journalistischen Profession durchkommen konnte – Martin, ein
Kevelaer-Freund und Kenner mit klarer analytischer Kraft, mit Überblick
und Offenheit, mit Mut und inspirierender Weitsicht.
Zwei Besucherinnen waren gekommen - zum rechten Augenblick, genau im
beschriebenen Korridor. Was war das für eine kostbare Zeit, bis er
sagte: „Jetzt bin ich müde. Jetzt schmeiß‘ ich euch raus.“ Martin
erzählte von dem Kevelaer, das ihm wichtig war, sprach vom Gnadenbild
und seinem unscheinbaren Äußeren und von der Einfachheit der Magd, auf
die der Herr geschaut hatte. Martin fand fast poetische, bildreiche
Worte für die Aufgabe, das schlichteste Gnadenbild der Welt in seiner
Aussage zu vermitteln.
Er stellte das prunkvoll gefeierte Priesterjubiläum von Wallfahrtsleiter
Rolf Lohmann daneben und sagte: „Da hat Kevelaer sich selbst gefeiert.“
Er betonte, dass seine Kritik zufällig Rolf Lohmann treffe - den er sehr
schätze -, weil sein Jubiläum frisch zurückliege. Es sei nur ein
Beispiel für das, was in Kevelaer seit den 70ern über weite Strecken zum
Alltag geworden sei: an der Unscheinbarkeit dessen vorbeizusehen, was
1642 eingesetzt worden ist. Immer werde davon gesprochen, all das
Kostbare, das Kevelaer über die Jahre angesammelt habe, diene der Ehre
des Höchsten. Er stelle sich nicht vor, dass der Höchste mit solch einem
Aufwand geehrt werden wolle, wenn zugleich – wie vor Jahren geschehen -
die Bettler von den Basilika-Stufen vertrieben würden.
Da sahen wir drei, die wir an seinem Bett saßen, ganz den „alten Martin
Willing“ – hart und milde, kompromisslos und vermittelnd, mutig und
empfindlich, im Jetzt und zugleich in der Verantwortung für Morgen.
Martin war mit sich im Reinen. Er hatte ein Jahr lang Zeit gehabt, in
seinem Leben „aufzuräumen“. Damit hatte er gleich nach der Erstdiagnose
im Mai 2013 begonnen. Wo Unklares im Raum stand, bat er um Klärung oder
Versöhnung. Wer sich auf ihn einließ, wurde mit unvergesslichen
Gesprächen beschenkt.
Je
schwieriger seine Lage wurde, desto umfassender wurde das Freundschafts-
und Familiennetz, in dem er sich geborgen fühlte und dessen Größe,
Dichte und Tragkraft ihn immer wieder ins Staunen setzten und bewegten.
Martin im Frühjahr 2013 während der Diagnose-Woche
im Garten der Ubbo-Emmius-Klinik in Aurich.
Er durchlief seine letzten Monate ohne Angst und Klagen mit dem, was die
behandelnden Ärzte für richtig erachteten – nicht im verbissenen Kampf
gegen die Krankheit: Sie hatte lediglich die Prioritäten und die
Möglichkeiten des Alltags verschoben. Martin erfuhr das Jahr als die
dichteste, intensivste und schönste Zeit seines Lebens, in der
Nebensächlichkeiten kaum noch Platz hatten.
Weihbischof Heinrich Janssen hatte 2003 in einer Würdigung zu Martins
60. Geburtstag geschrieben: „Willings Liebe zu Kevelaer und zur
Wallfahrt prägen seine journalistische Arbeit.“ Dann hatte Janssen
trocken verständnisvoll angefügt: „Wer liebt, darf kritisch sein. Und
das ist er fast immer.“
Viele haben es nicht gemerkt. Martin Willing war stark in der Liebe –
wie Janssen schrieb: in der kritischen Liebe – in der eigenwilligen,
mitunter spröden, uneitlen, nicht vereinnahmbaren Liebe an den
Gnadenort, seine Menschen und an Freunde und Angehörige. Martin mochte
keine „Liebes-Beweise“ nach gesellschaftlicher Konvention, die
irgendetwas herzeigen sollten. Auf seine Liebe musste man vertrauen.
Dann wurde man reich beschenkt.
Er
war der freieste Mensch, den ich je kennen lernen durfte: Wenn er mit
Schlapphut, Pfeife und langen Haaren unterwegs war, lag darin nicht die
mindeste Provokation.
Martin bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen:
im eigenen Garten ernten und genießen.
Er ging so, wie er sich wohl fühlte, nicht uniformiert wie die meisten,
die sich in kneifenden Zwirn zwängten und Martins Aufzug bespöttelten
(„Herr Willing, heute wieder ganz schick!“)
Seit Februar 2014 trug Martin keinen Schlapphut mehr. Das Gutachten des
Medizinischen Dienstes nannte ihn einen Schwerstpflegefall. Er ließ sich
einen Bart stehen. Seine Begründung: "Auf dem Kopf bin ich kahl und
kämpf' seit der Chemotherapie um jedes Haar; da werde ich sie mir da, wo
sie freiwillig sprießen, nicht abrasieren."
In den
letzten Wochen konnte Martin nur noch Kopf und Arme bewegen. Tadellos
arbeiteten sein Geist und sein Herz. Er sah mit Freude und Zuversicht
dem „Geburtstag für das ewige Leben“ entgegen.
Genau eine Woche vor seinem Tod sagte er seinem Freund aus frühester
Jugend, Wolfhard Schirrmacher, wie Martin einer der jungen wilden
RP-Lokalchefs der 70er-Jahre: „Ich habe mit Delia das glücklichste halbe Jahr meines
Lebens hinter mir.“
Stunden vor seinem Tod wurde er von großer Luftnot geplagt. Er sagte:
„Scheiße“ – und unmittelbar darauf: „Wenn das jetzt mein letztes Wort
war…“ Ich schlug ihm vor zu beten, so wie wir zuletzt jeden Abend gemeinsam
gebetet hatten. Es war kurz nach Mitternacht. Er flüsterte, um nicht zu
viel Luft zu verbrauchen: „Ich kann nur im Geiste mitbeten.“ Ich sprach
die Gebete vor und beendete sie, ebenfalls wie an allen Abenden zuvor:
„Der Friede sei mit dir.“ Er sagte: „Dank sei Gott dem Herrn.“ Das war
sein letzter Satz.
Er starb am Pfingstmontag, 9. Juni 2014, im Alter von 70 Jahren daheim
in dem Haus, das er bei seinem Einzug „Maria Felixhusen“ genannt hatte –
seine Hand in meiner Hand.
Martin, daheim aufgebahrt wie er es sich gewünscht
hatte: in seinem Atelier und Arbeitszimmer inmitten seiner Bilder und Bücher und mit
Sicht in
den mit Sommerpracht gesegneten Garten.