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INHALTSVERZEICHNIS

MARTIN WILLING

Heiße Eisen

Die Zeit bei der RP in Geldern

Wenige Tage vor meinem Antritt in Geldern als neuer Lokalchef der „Rheinischen Post" stattete ich meinen Kollegen in der Gelderner Hartstraße einen Besuch ab, um ein paar Details für meinen ersten Arbeitstag - 1. Juli 1973 - zu besprechen. Es hatte mächtig geregnet, und weil mein Motorrad, eine BMW R 75, kein Dach besaß, sah ich aus wie ein begossener Pudel. Ich stand mit triefenden Hosen im Türrahmen zur Gelderner Redaktion. Meine fast schulterlangen Haare schmiegten sich an, als hätte ich gerade geduscht. Das war nicht weiter schlimm, denn meinen neuen Kollegen in der Gelderner Redaktion war ich schon früher begegnet. Sie kannten mich auch im trockenen Zustand.

Die Kreisredaktion breitete sich im ersten Obergeschoss zusammen mit der Bezirksredaktion aus. Eigentlich war alles klar: Während die Lokalredaktion die Zeitung für den Kreis Geldern machte, sorgte die Bezirksredaktion als Schlussredaktion für die Koordinierung aller bei Schaffrath gedruckten Lokalausgaben. Nun war es aber so, dass ich nicht nur für die Lokalredaktion, sondern auch für die Schlussredaktion verantwortlich war; jedenfalls war mir das von der Chefredaktion aufgetragen worden, und zwar mit der Präzisierung, dass ich die Verantwortung eines Bezirkschefs hätte, ohne einer zu sein.

Alles ließ sich noch steigern. Ich saß auf der Redaktionsetage im letzten Büro, mein Vorgänger im Amt im mittleren und mein Vorvorgänger im ersten. Beide Redakteure waren zwar inzwischen froh darüber, die Redaktionsleitung nicht mehr zu haben, aber das war das nicht unbedingt ihre eigene Entscheidung gewesen.

Ich ließ nicht zu, dass die problematische Gemengelage in der Redaktion aus meinem Sessel einen dampfenden Feuerstuhl machte, sondern begegnete den beiden Vorgängern im Redaktionsalltag mit Freundlichkeit und Kollegialität. Schon nach wenigen Monaten herrschte in der gesamten Etage ein normales, gutes Arbeitsklima, und meine Erfahrungen mit den Redakteurinnen und Redakteuren, die in den knapp sieben Jahren meiner Redaktionsleitung bis zum „Knall„ Ende 1980 Dienst taten, waren durchweg gut und oft sogar erfreulich. Die Teamarbeit funktionierte, und wir machten, obschon die RP die einzige Tageszeitung mit Lokalteil in Geldern war, ein engagiertes und aktuelles Blatt, so als säße uns Konkurrenz im Nacken.

Mitte 1978 wurde eine Volontärin im Rahmen ihrer Ausbildung nach Geldern versetzt: Delia Evers, Tochter des RP-Sportredakteurs > Hanns Evers (Kleve). In den sieben Monaten, die sie in meiner Redaktion als Volontärin arbeitete, überzeugte sie mich mit ihrem Talent und ihrer beruflichen Einsatzfreude.

Delia EversAls sie Anfang 1979 dabei war, ihre Ausbildung in der Zentralredaktion Düsseldorf abzuschließen, forderte ich Delia Evers als Redakteurin für Geldern an.

Delia Evers als Volontärin in Geldern.

Das passte zu dem, was Delia Evers geantwortet hatte, als sie von ihren Vorgesetzten nach der Ausbildung gefragt wurde, in welcher Redaktion sie arbeiten wolle. Sie hatte „Geldern" gesagt.

Am 1. April 1979 stieß Delia Evers zu uns als RP-Redakteurin.

Mein Ansehen in Düsseldorf, bei meinen Vorgesetzten, war pffenbar vorzüglich. Selbst meine langen Haare konnten den guten Eindruck nicht ernsthaft trüben. Als mich Verlagsdirektor Dr. Max Nitzsche zu Hause in Geldern besuchte, wo ich mich nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt ein paar Tage erholte, sprach er mich auf meinen Haarschopf an: „Lang, aber gepflegt", sagte er, und ich verstand:

Das war kein Dispens, das war eine Absolution!

Die wurde mir für einen anderen Sündenfall zunächst vorenthalten. Mein erster Außentermin in Geldern hatte mich zu den Notunterkünften der Kreisstadt geführt - in die berüchtigte Kaserne. Mit einem ungeplanten Paukenschlag schreckte ich das politische Geldern auf: Ich war so was von entsetzt über die Zustände, unter denen Menschen dort hausten, dass ich dem, wie ich erst später herausfand, liebenswürdigen Stadtdirektor Norbert Becker einen zornigen Leitartikel um die Ohren haute und ihm eine Dienstaufsichtsbeschwerde ankündigte.

Norbert Becker, Paul Heßler
Gelderns Stadtdirektor Norbert Becker (l.) und der spätere hauptamtliche Bürgermeister der Herzogstadt, Paul Heßler - hier mit seiner Frau.

Becker und der damalige Oberkreisdirektor Franz-Josef Ebbert waren sich in der besorgten Frage einig: „Was haben wir uns denn da für einen Vogel eingehandelt?“ Die Gemüter beruhigten sich bald, denn die aufgefrischte, Klartext schreibende Zeitung fahndete nicht nach knalligen Knüllern, sondern war das Produkt von gründlich recherchierenden, parteipolitisch unabhängigen Journalisten. Daraus erwuchs das vorzügliche Rennomé der Gelderner RP-Ausgabe, das die spontane Entscheidung von Hunderten Lesern im Herbst 1980, für den plötzlich zwangsbeurlaubten Redaktionsleiter Martin Willing auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, erklärbar machte.

Ich hatte, wie konnte es auch anders sein, meine Karriere in Geldern mit einem Fehler begonnen. Statt erst einmal den neuen Laden auf mich einwirken zu lassen und über einige Wochen und Monate langsam ein Gesamtbild zu erarbeiten, um dann mit klaren Entscheidungen zu zeigen, wo's lang ging, linderte ich vom ersten Arbeitstag an die chronische Not der Redaktion, alle wichtigen Termine besetzen zu können. Ich übernahm einen Außentermin nach dem anderen und redete mir ein, dass das in der Anfangszeit zum Kennenlernen auch sehr sinnvoll sei.

Bald merkte ich, dass mein starker Einsatz vor Ort das Engagement der Kollegen bremste. Erst als ich die Zuständigkeiten neu ordnete, war die mich für hektische, für die Kollegen lethargische Startphase beendet.

An meinem Stellvertreter Hajo Hentze schätzte ich die Präzision seiner Formulierungen. Er brachte den Sachverhalt, über den er zu schreiben hatte, klar auf den Punkt. Er war alles andere als pflegeleicht, hatte seinen eigenen, scharfsinnig denkenden Kopf und nervte schon zu meiner Zeit, vor allem aber auch danach seine Vorgesetzten in Düsseldorf mit seinen Ansinnen.

Nach meinem unfreiwilligen Ausscheiden 1980 sprach und traf ich ihn nie wieder. Seine Rolle während des stürmischen Herbstes in der Redaktion blieb mir teilweise verschlossen. Ich war betroffen, als ich am 16. Februar 2008 in einer Todesanzeige auf seinen Namen stieß. Willi Loos, > Dr. Wilhelm Cuypers und Helmar Kurat, meine älteren Kollegen von damals, waren bereits gestorben. Nun also auch Hajo Hentze, der jünger war als ich. Seine Schwester hatte die Anzeige aufgegeben:

Ich bin unsagbar traurig

Hajo Hentze

hat am 10. Februar 2008 seine letzte Reise angetreten. Ich bitte alle, die mit Hajo in irgendeiner Weise verbunden sind, ihm in einer stillen Minute zu gedenken. Die Gespräche mit ihm werden nicht nur mir sehr fehlen.

Die Urnenbeisetzung ist zu einem späteren Zeitpunkt in Tübingen. Statt Blumen werde ich Spenden weiterleiten an den Mukoviszidose e.V.
In großer Dankbarkeit

Ina-Marie Länge, geb. Hentze

Im redaktionellen Teil der RP erschien keine Zeile; offenbar wollte das Hajo Hentzes Schwester nicht. Um das Verhältnis zwischen ihm und seinem früheren Arbeitgeber hatte es wohl nicht zum Besten gestanden. Aber Hajo Hentze bekam dennoch einen kleinen Nachruf. Ich veröffentlichte ihn am 21. Februar 2008 im Kevelaerer Blatt:

Hajo Hentze gestorben

Man wird später, wenn für die Gelderner Zeitgeschichte in Archiven geforscht wird, zahlreiche Artikel finden, die aus der Feder von Hajo Hentze (Kürzel: hh) stammen. Und man wird sich darauf verlassen können, dass die Fakten stimmen. Es war das Markenzeichen des Gelderner Journalisten, sorgfältig zu recherchieren und das zu berichten, was er belegen konnte. Hajo Hentze war in den 1970er-Jahren mein Stellvertreter in der Leitung der Gelderner Lokalredaktion der Rheinischen Post, die am 8. Oktober 1980 mit dem zweiten Journalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (für „mutige kommunalpolitische Berichterstattung, die in kritischer Distanz zu Interessenvertretungen auch heiße Eisen anpackt“) ausgezeichnet wurde. Im Zeitungsjahrgang 2002 sind seine letzten Berichte zu finden. Am 10. Februar 2008 ist Hajo Hentze gestorben.

Seine Schwester rief nach Erscheinen des kleinen Beitrags über ihren Bruder bei mir an und bedankte sich.

Die politisch spannendste Zeit waren die Jahre, in denen die Kreisreform griff und aus den Kreisen Geldern und Kleve sowie dem Norden des Kreises Rees (Emmerich/Rees) ein neues Gebilde geschmiedet werden sollte und, als das Werk mit Bildung des „Großkreises" Kleve 1975 vollendet war, die bisherige Kreisstadt Geldern um den Verbleib möglichst vieler Kreiseinrichtungen kämpfte.

Ich schaltete mich mehr und mehr in die Kreispolitik ein, der zuvor nicht mein erstes Interesse gegolten hatte, und verschaffte der Stadt Geldern und den Politikern aus dem Südkreis Gehör. Zwischen den beiden Lokalredaktionen der RP in Geldern und Kleve entstand ein regelrechter Wettbewerb um die besseren Argumente. Aloys Puyn, der inzwischen verstorbene Lokalchef der RP in Kleve, und ich tauschten uns in jener Zeit besonders häufig aus - in Gesprächen, nicht unbedingt in den jeweiligen Ausgaben. Denn seine Berichterstattung fußte auf Klever, meine auf Gelderner Positionen. Die jeweiligen Leserkreise nahmen unseren Lokalpatriotismus durchaus mit Wohlwollen zur Kenntnis.

Foto zeigt Zeitungsausschnitt von der PreisverleihungDie aufregendste Zeit stand aber noch bevor.

Lokaljournalistenpreis für die Gelderner RP-Redaktion: Im Hauptteil der „Rheinischen Post" erschien am 27. September 1980 dieser Bildbericht. Das Foto zeigt v.l. Martin Willing, Delia Evers (ab 1978 Mitglied der Redaktion), Hajo Hentze und Helmar Kurat.

Meine Redaktion war gerade mit dem 2. Preis des Lokaljournalistenpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre „mutige kommunalpolitische Berichterstattung, die in kritischer Distanz zu Interessenvertretungen auch heiße Eisen anpackt" ausgezeichnet worden, da sorgte ein sogar siedendheißes Eisen für Aufsehen und Aufregung.

Eine Mitarbeiterin meiner Redaktion war bei der „Miss Niederrhein"-Wahl in einer Gelderner Diskothek Augen- und Ohrenzeugin gewesen und hatte mich mit den nötigen Fakten versorgt, aus denen ich eine ätzende Kritik formulierte, die am 8. November 1980 in der Gelderner RP erschien.

Knapp 20 Mädchen im Durchschnittsalter von 17 Jahren, ausgesucht unter fast 400 Bewerberinnen, wollten „Miss Niederrhein" werden. „So begehrt muß dieser schwachköpfige Titel sein", schrieb ich, „daß sich die Mädchen sehr anstrengten, genommen zu werden, eines sogar mit einem Großfoto 'unten ohne', das im Laufe des Abends vom Disco-Kasper vor die Videokamera gehalten wurde, die Bilder bis in die entlegenste Ecke der weitläufigen Diskothek transportierte."

Am Tag darauf schrieb mir Horst Morgenbrod, mein Chef vom Dienst: „Danke für die köstliche und meisterlich geschriebene Geschichte von 'Miß Niederrhein'".

Nun war jener „Disco-Kasper" im Hauptberuf der führende Redakteur eines Anzeigenblattes, das am 19. November 1980 mit der Geschichte groß aufmachte, allerdings völlig anders: „Weil es ein 'Unten-ohne'-Foto bei der Miss-Wahl nicht gab: Droht der RP eine Einstweilige Verfügung?". Unter dieser Überschrift ließ der Redakteur, unser Kasper, die Leser wissen: „Daran ist inzwischen nicht mehr ernsthaft zu rütteln: Ein 'Unten-ohne'-Foto wurde im Verlauf der 'Miss-Niederrhein'-Wahl nicht vor die Videokamera gehalten". Ein Mitinhaber der Diskothek habe beim Gericht eine „Einstweilige Verfügung„ beantragt, die „der 'Rheinischen Post' untersagen soll, weiter diese unwahren Behauptungen in der Öffentlichkeit aufzustellen".

In dem Text wurde ich niedergemacht als „geschickter Manipulateur„, über den die Eltern der Mädchen „den Kopf schütteln„, als einer, „der eine so schöne Sache in den Dreck zog".

Als dieser Bericht erschien, am 19. November, war ich bereits vier Tage 'raus aus dem Geschäft. Da die „Rheinische Post" über meine Zwangsbeurlaubung und über die Leserinitiativen zu meiner Wiedereinsetzung nicht oder nur überaus spärlich berichtete, entstand zunächst in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, der Aufsehen erregende Artikel über die „Miss Niederrhein"-Wahl sei der Grund für meine Beurlaubung gewesen. In Wirklichkeit hatte dieser Vorgang nichts damit zu tun.

Die am 20. November 1980 beantragte „einstweilige Verfügung", die den Abdruck einer Gegendarstellung erzwingen sollte, richtete sich nicht nur gegen den Verleger der RP, sondern auch gegen den verantwortlichen Redakteur. Ich wurde also von den Schritten, die das Verfahren nahm, unterrichtet, obschon ich de facto nicht mehr zur RP gehörte. Zu mehreren Punkten wollte der Diskothekenbetreiber gegendarstellen, vor allem auch zum Foto: „Nur Fotos von Damen in ordentlicher Freizeit- und Strandbekleidung" seien in die Videokamera gehalten worden.

Am 12. Dezember 1980 verkündete das Landgericht Kleve sein Urteil: „Der Antrag des Verfügungsklägers auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen."

Am 2. Februar 1981 legte die Gegenseite Berufung gegen das Urteil ein. Wie die Geschichte ausgegangen ist, weiß ich nicht. Inzwischen war ich Herausgeber und Journalist des Kevelaerer Blatts geworden und gehörte auch arbeitsrechtlich nicht mehr zum RP-Verlag, der mich inzwischen abgefunden hatte.

1980 war ich im zehnten Jahr Redakteur der „Rheinischen Post" gewesen. Ich wurde vom Verlag für den 4. Dezember zu einer Jubilarehrung mit anschließendem Mittagessen in die „Rheinterrasse" in Düsseldorf eingeladen. Die Einladung war kurz vor meiner Beurlaubung ausgesprochen worden.

Ich blieb höflich und schrieb zurück:

„Für die Einladung zur Jubilarfeier danke ich. An dieser Feier kann ich nicht teilnehmen."

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