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Von
Martin Willing
Am 28. Oktober 2002 war das Museum Kevelaer gastlicher Ort einer
ungewöhnlichen Veranstaltung. Ausgezeichnet und geehrt wurde Delia für
ihre einfühlsamen Recherchen in der Hautarzt-Affäre und ihre mutige
Berichterstattung vor und nach dem Prozess. Ihr wurde der in Köln
gestiftete Dr.-Inge-von-Bönninghausen
Namensgeberin dieses Preises ist die Journalistin
Dr. Inge von
Bönninghausen, die im Museum Kevelaer die Laudatio auf Delia hielt.
Drei Preisträgerinnen - Die
ersten drei Trägerinnen des Preises vereint: Dr. Inge von Bönninghausen
(r.), die zweite: Ingund Mewes, Schauspielerin, Prinzipalin des
Piccolo-Theaters in Köln, Sprecherin beim WDR-Hörfunk (l.) und Delia
Evers.
Die Laudatorin sagte: "
Inge von Bönninghausen sprach einen in Kevelaer besonders heftig
diskutierten Punkt an: "Was und vor allem wie muss die Öffentlichkeit
erfahren, was scheinbar – aber eben nur scheinbar – außer den
Betroffenen niemanden etwas angeht?
Detail der Preiskette,
gestaltet aus unterschiedlichen Materialien, u.a. aus Lava, Bergkristall
und Dromedarknochen, entworfen und gearbeitet von Goldschmiedin
Christine Bruggmann Reck aus Köln.
Wo liegt die Grenze zwischen
Aufklärung und Voyeurismus? Diese Fragen hat Delia Evers, unterstützt
von Martin Willing, bei der Berichterstattung über die Anschuldigungen
gegen Dr. F. vorbildhaft im Interesse und zum Schutz vieler Frauen
beantwortet. Deshalb bekommt sie heute diesen Preis für Zivilcourage,
Unbestechlichkeit und feministisches Engagement."
Manche Leser in Kevelaer, fuhr die Laudatorin fort, hätten die ausgewählten
Detailbeschreibungen und selbst die notwendigen Begriffe als
Zumutung empfunden. "Sind die Worte schlimmer als die Taten? Nein. Das
werden auch Kritiker nicht behaupten. Aber, so mögen sie sagen, geht es
denn nicht auch anders, dezenter, weniger deutlich? Nein!"
Gabriele
Coenes sang: „Für dich soll’s
rote Rosen regnen!“ Und sie verteilte sie gleich auch.
Die Anzeige, das Sprechen bei der Polizei und dann
öffentlich im Gerichtssaal seien für die Opfer die einzige Chance, sich
aus ihrem Opferstatus zu befreien. Und genau deshalb dürfe, was sie
berichten, nicht in den Prozessprotokollen verschwinden, dürfe auch nicht
weich gezeichnet werden, sondern müsse in klarer Sprache zu lesen sein.
"Sich dafür zu entscheiden beweist Unbestechlichkeit. Sich nicht
bestechen zu lassen von der vorhersehbaren Kritik, vom massiven Tadel,
sondern dem eigenen Urteilsvermögen zu folgen, mit dem Blick auf Frauen,
die Gerechtigkeit suchen.
In einer Rede dankte Delia nicht nur für den Preis, sondern auch den
wunderbaren Rahmen, in dem die Verleihung stattfand. Sie sagte:
Nicht nur Frauen haben Mut! Und wenn wir heute viel davon gehört haben,
dass Frauen Frauen wert schätzen, dann schätzen Frauen selbstredend auch
Männer wert. Der Mann, der die Sache zum Wohl der missbrauchten Frauen
schließlich in‘s Rolle brachte, war kein Arzt, kein Politiker, kein
Polizist, niemand vom Jugendamt. Er war einfach einer, der Mitgefühl
hatte. Ich glaube, dass Menschen, die Mitgefühl haben, zugleich auch
beherzte und mutige Menschen sind. Sie nehmen die, die unser Mitgefühl
brauchen, genug wahr, um nicht gleichgültig - in falsch verstandener
Liberalität - daran vorbeizusehen.
Der Mann ging zunächst nur legale Wege: Es ist bedrückend, wie viele
offizielle Stellen er aufsuchte - ohne auf einen einzigen Menschen zu
stoßen, der ebenfalls genug Mitgefühl gehabt hätte. Als er sich nicht
mehr zu helfen wusste, verfasste er ein anonymes Flugblatt mit den
Anschuldigungen gegen den Arzt und verteilte es in der ganzen Stadt. Das
war - keine Frage - ungesetzlich.
Schlangestehen beim Eintrag
ins Gästebuch: Dr. Rainer Killich, Geschäftsführer des Priesterhauses,
Ruth Kerkhoff, Frauenbeauftragte der Stadt Kevelaer, Marianne Heutgens,
Stadtführerin, Dr. Markus Birkhoff, Gitarrenvirtuose, und Michael
Gewald, liturgischer Begleiter von Weihbischof Heinrich Janssen.
In unserer Redaktion wandern anonyme Schreiben normalerweise sofort in
den Papierkorb. Doch kaum war das Blatt in der ganzen Stadt verteilt,
riefen bei uns betroffene Frauen an.
Ich weiß bis heute nicht, was ihnen
das Vertrauen gab, mit mir über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ich erfuhr,
dass auch der Verfasser des Flugblattes solche Gespräche geführt hatte.
Und mir wurde klar, dass es manchmal wertvoller ist, mutig aus Mitgefühl
etwas Ungesetzliches zu tun, als mit kaltem Herzen ein gesetzestreuer
Bürger zu bleiben. Auch der Verfasser des Briefes ist heute hier. Und
wenn´s eine männliche Sternschnuppe gäbe, würde ich sie ihm von Herzen
gönnen. Ich möchte Sie noch einmal um Applaus bitten.
Ich komme zum dritten und letzten Aspekt, den die Preisverleihung für
mich hat: Journalismus in einer Kleinstadt zu machen, ist selten lustig.
Irgendwann kennen Sie Ihre Stadt bis in die Eingeweide. Aber wer lässt
sich schon gern in die Eingeweide schauen. Zwangsläufige Folge: Im Laufe
von weit mehr als 20 Dienstjahren haben Sie potentiell jedem einmal auf
die Füße getreten, manchen mehrfach. Auch in Zusammenhang mit der
Berichterstattung über den bewussten Arzt gab es eine unköstliche Fülle
an Beschimpfungen, wie wir uns erdreisten könnten, einen angesehenen
Arzt usw... Kritische Berichte machen durchaus einsam.
Die Preisverleihung hat mir auf eine schöne Art und Weise gezeigt, dass
Menschen am eigenen Schicksal mitstricken, von denen wir erst viel
später erfahren. Sie zeigen, dass wir nicht einsam sind, sondern darauf
vertrauen dürfen, dass andernorts Menschen in unserem Sinne für uns
zugange sind. So hat mir der Preis - und hat mir insbesondere Frau Dr.
von Bönninghausen - wieder bewusst gemacht, dass ich in ein Netz
eingebunden bin und dass ich überhaupt mit Spannung erwarten darf, wo
überall daran gestrickt wird, ohne dass ich darüber Bescheid weiß. Für
eine neugierige Journalistin eigentlich ein unhaltbarer Zustand!
Ich habe mir - zur Feier des Tages - einen besonderen Luxus gegönnt. Ich
bin fast ausschließlich von Menschen umgeben, mit denen ich gerne
feiere. Sie alle gehören zu meinem Netz. Jeder von Ihnen war, ist für
mein Leben von Bedeutung. Manche und mancher wird sich darüber wundern.
Aber ich bin sicher: Jeder und jedem fällt dazu ein Ereignis, eine
Erfahrung oder auch ein ganzer Lebensabschnitt ein, der mindestens eine
tragfähige Masche mitgestrickt hat. Ich glaube, dass wir alle viel zu
wenig darauf sehen, in welchem Menschen wir möglicherweise etwas
auslösen, das ihn bereichert und ein Stück nach vorn trägt. Wenn wir
dies ahnten, wären wir vielleicht achtsamer.
Dabei ist nicht die Länge der Zeit entscheidend, sondern die Intensität
in der Zeit; in einem Fall war es ein einziger Anruf. Als Martin Willing,
mein mutiger Lehrmeister und Compagnon, nach der Verurteilung des
bewussten Arztes in einem Kommentar schrieb, dass es lange zum Wohl der
misshandelten Frauen an mutigen Menschen gefehlt habe, rief einer, der
sich angesprochen fühlte, in der Redaktion an. Er sagte Martin Willing
sinngemäß: "Sie haben recht. Ich bin kein mutiger Mann!" Aber dieser
Mann hatte den Mut, dies zu sagen. Das hat mich bewegt, auch bewegt, ihn
einzuladen.
So wünsche ich uns allen Mut genau hinzusehen, achtsam und mitfühlend zu
sein. Dann kommen wir vielleicht sogar mit den bestehenden Gesetzen aus.
© Martin Willing 2012, 2013