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Teil 55

Die Hautarzt-Affäre und der Prozess (4)

Logo für das nächste KapitelLogo für das vorige KapitelVon Martin Willing

Am 28. Oktober 2002 war das Museum Kevelaer gastlicher Ort einer ungewöhnlichen Veranstaltung. Ausgezeichnet und geehrt wurde Delia für ihre einfühlsamen Recherchen in der Hautarzt-Affäre und ihre mutige Berichterstattung vor und nach dem Prozess. Ihr wurde der in Köln gestiftete Dr.-Inge-von-Bönninghausen-Preis verliehen.

Foto zeigt die ersten drei PreisträgerinnenNamensgeberin dieses Preises ist die Journalistin Dr. Inge von Bönninghausen, die im Museum Kevelaer die Laudatio auf Delia hielt.

Drei Preisträgerinnen - Die ersten drei Trägerinnen des Preises vereint: Dr. Inge von Bönninghausen (r.), die zweite: Ingund Mewes, Schauspielerin, Prinzipalin des Piccolo-Theaters in Köln, Sprecherin beim WDR-Hörfunk (l.) und Delia Evers.

Die Laudatorin sagte: "
Ganz besonders groß ist meine Freude, dass der Preis diesmal an eine Journalistin geht, von deren Integrität, Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein ich großen Respekt habe. Delia Evers zeigt seit über 20 Jahren, was es heißt, Verantwortung zu haben für eine Zeitung, und zwar sowohl als Unternehmerin für deren wirtschaftliches Wohlergehen wie als Chefredakteurin für deren Inhalt. Diese Verantwortung stellt an eine Lokalzeitung – oder vielleicht besser gesagt an eine 'Heimatzeitung' im besten Sinn des Wortes – ganz besondere Herausforderungen."

Foto zeigt die PreisträgerinnenketteInge von Bönninghausen sprach einen in Kevelaer besonders heftig diskutierten Punkt an: "Was und vor allem wie muss die Öffentlichkeit erfahren, was scheinbar – aber eben nur scheinbar – außer den Betroffenen niemanden etwas angeht?

Detail der Preiskette, gestaltet aus unterschiedlichen Materialien, u.a. aus Lava, Bergkristall und Dromedarknochen, entworfen und gearbeitet von Goldschmiedin Christine Bruggmann Reck aus Köln.

Wo liegt die Grenze zwischen Aufklärung und Voyeurismus? Diese Fragen hat Delia Evers, unterstützt von Martin Willing, bei der Berichterstattung über die Anschuldigungen gegen Dr. F. vorbildhaft im Interesse und zum Schutz vieler Frauen beantwortet. Deshalb bekommt sie heute diesen Preis für Zivilcourage, Unbestechlichkeit und feministisches Engagement."

Gabi Coenes beim Verteilen von RosenManche Leser in Kevelaer, fuhr die Laudatorin fort, hätten die ausgewählten Detailbeschreibungen und selbst die notwendigen Begriffe als Zumutung empfunden. "Sind die Worte schlimmer als die Taten? Nein. Das werden auch Kritiker nicht behaupten. Aber, so mögen sie sagen, geht es denn nicht auch anders, dezenter, weniger deutlich? Nein!"

Gabriele Coenes sang: „Für dich soll’s rote Rosen regnen!“ Und sie verteilte sie gleich auch.

Die Anzeige, das Sprechen bei der Polizei und dann öffentlich im Gerichtssaal seien für die Opfer die einzige Chance, sich aus ihrem Opferstatus zu befreien. Und genau deshalb dürfe, was sie berichten, nicht in den Prozessprotokollen verschwinden, dürfe auch nicht weich gezeichnet werden, sondern müsse in klarer Sprache zu lesen sein. "Sich dafür zu entscheiden beweist Unbestechlichkeit. Sich nicht bestechen zu lassen von der vorhersehbaren Kritik, vom massiven Tadel, sondern dem eigenen Urteilsvermögen zu folgen, mit dem Blick auf Frauen, die Gerechtigkeit suchen."

In einer Rede dankte Delia nicht nur für den Preis, sondern auch den wunderbaren Rahmen, in dem die Verleihung stattfand. Sie sagte:

Der Preis selbst ist mir aus drei Gründen kostbar. Zum einen: Ich halte nicht viel von einem kühlen, distanzierten Journalismus, der sich aus allem heraushält. Wir haben heute einen Begriff des Liberalen, der viel mehr mit Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen zu tun hat als mit Freiheit. Und wenn wir denn schon in Bezug auf andere Menschen liberal sein wollen, dann nehmen wir uns oft allenfalls die Freiheit, sie nicht wahrzunehmen. Unsere Liberalität besteht darin, Täter und Opfer nicht mehr zu benennen, sie gleich zu behandeln. Das schützt uns davor, Stellung beziehen und Verantwortung tragen zu müssen.

Im vorliegenden Fall haben wir es mit vielen Menschen zu tun, die nicht Stellung bezogen haben. Jahrelang war es einem Arzt möglich, in seinem privaten Keller Frauen zu misshandeln. Sie haben sich keiner öffentlichen Stelle anvertraut. Und wir dürfen uns kritisch fragen, warum sie nicht das Vertrauen hatten, den Missbrauch anzuzeigen. Die Anfeindungen gegen die Frauen während des Prozesses, der dann doch ins Rollen kam, haben gezeigt, dass ihre Befürchtungen zu Recht bestanden.

Doch Frauen haben sehr viel Mut. Und das ist es, was mir den Preis als zweites kostbar macht: Er ist nicht nur Erinnerung an so viele erschütternde Hintergrundgespräche mit den Frauen; er ist auch wie ein Sinnbild dafür, dass Frauen sich wehren. Es gibt nichts, was ich in Zusammenhang mit den Ereignissen so sehr bewundere wie den Mut der betroffenen Frauen, den Arzt bewusst in öffentlicher Verhandlung mit ihren Erlebnissen zu beschuldigen. Einige der Frauen, die diesen Mut bewiesen haben, sind heute hier. Ich möchte sie nicht identifizieren. Aber ich möchte Sie alle ermuntern, diesen Frauen zu applaudieren.

Nicht nur Frauen haben Mut! Und wenn wir heute viel davon gehört haben, dass Frauen Frauen wert schätzen, dann schätzen Frauen selbstredend auch Männer wert. Der Mann, der die Sache zum Wohl der missbrauchten Frauen schließlich in‘s Rolle brachte, war kein Arzt, kein Politiker, kein Polizist, niemand vom Jugendamt. Er war einfach einer, der Mitgefühl hatte. Ich glaube, dass Menschen, die Mitgefühl haben, zugleich auch beherzte und mutige Menschen sind. Sie nehmen die, die unser Mitgefühl brauchen, genug wahr, um nicht gleichgültig - in falsch verstandener Liberalität - daran vorbeizusehen.

Der Mann ging zunächst nur legale Wege: Es ist bedrückend, wie viele offizielle Stellen er aufsuchte - ohne auf einen einzigen Menschen zu stoßen, der ebenfalls genug Mitgefühl gehabt hätte. Als er sich nicht mehr zu helfen wusste, verfasste er ein anonymes Flugblatt mit den Anschuldigungen gegen den Arzt und verteilte es in der ganzen Stadt. Das war - keine Frage - ungesetzlich.

Schlangestehen beim Eintrag ins Gästebuch: Dr. Rainer Killich, Geschäftsführer des Priesterhauses, Ruth Kerkhoff, Frauenbeauftragte der Stadt Kevelaer, Marianne Heutgens, Stadtführerin, Dr. Markus Birkhoff, Gitarrenvirtuose, und Michael Gewald, liturgischer Begleiter von Weihbischof Heinrich Janssen.

In unserer Redaktion wandern anonyme Schreiben normalerweise sofort in den Papierkorb. Doch kaum war das Blatt in der ganzen Stadt verteilt, riefen bei uns betroffene Frauen an.

Ich weiß bis heute nicht, was ihnen das Vertrauen gab, mit mir über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ich erfuhr, dass auch der Verfasser des Flugblattes solche Gespräche geführt hatte. Und mir wurde klar, dass es manchmal wertvoller ist, mutig aus Mitgefühl etwas Ungesetzliches zu tun, als mit kaltem Herzen ein gesetzestreuer Bürger zu bleiben. Auch der Verfasser des Briefes ist heute hier. Und wenn´s eine männliche Sternschnuppe gäbe, würde ich sie ihm von Herzen gönnen. Ich möchte Sie noch einmal um Applaus bitten.

Ich komme zum dritten und letzten Aspekt, den die Preisverleihung für mich hat: Journalismus in einer Kleinstadt zu machen, ist selten lustig. Irgendwann kennen Sie Ihre Stadt bis in die Eingeweide. Aber wer lässt sich schon gern in die Eingeweide schauen. Zwangsläufige Folge: Im Laufe von weit mehr als 20 Dienstjahren haben Sie potentiell jedem einmal auf die Füße getreten, manchen mehrfach. Auch in Zusammenhang mit der Berichterstattung über den bewussten Arzt gab es eine unköstliche Fülle an Beschimpfungen, wie wir uns erdreisten könnten, einen angesehenen Arzt usw... Kritische Berichte machen durchaus einsam.

Die Preisverleihung hat mir auf eine schöne Art und Weise gezeigt, dass Menschen am eigenen Schicksal mitstricken, von denen wir erst viel später erfahren. Sie zeigen, dass wir nicht einsam sind, sondern darauf vertrauen dürfen, dass andernorts Menschen in unserem Sinne für uns zugange sind. So hat mir der Preis - und hat mir insbesondere Frau Dr. von Bönninghausen - wieder bewusst gemacht, dass ich in ein Netz eingebunden bin und dass ich überhaupt mit Spannung erwarten darf, wo überall daran gestrickt wird, ohne dass ich darüber Bescheid weiß. Für eine neugierige Journalistin eigentlich ein unhaltbarer Zustand!

Ich habe mir - zur Feier des Tages - einen besonderen Luxus gegönnt. Ich bin fast ausschließlich von Menschen umgeben, mit denen ich gerne feiere. Sie alle gehören zu meinem Netz. Jeder von Ihnen war, ist für mein Leben von Bedeutung. Manche und mancher wird sich darüber wundern. Aber ich bin sicher: Jeder und jedem fällt dazu ein Ereignis, eine Erfahrung oder auch ein ganzer Lebensabschnitt ein, der mindestens eine tragfähige Masche mitgestrickt hat. Ich glaube, dass wir alle viel zu wenig darauf sehen, in welchem Menschen wir möglicherweise etwas auslösen, das ihn bereichert und ein Stück nach vorn trägt. Wenn wir dies ahnten, wären wir vielleicht achtsamer.

Dabei ist nicht die Länge der Zeit entscheidend, sondern die Intensität in der Zeit; in einem Fall war es ein einziger Anruf. Als Martin Willing, mein mutiger Lehrmeister und Compagnon, nach der Verurteilung des bewussten Arztes in einem Kommentar schrieb, dass es lange zum Wohl der misshandelten Frauen an mutigen Menschen gefehlt habe, rief einer, der sich angesprochen fühlte, in der Redaktion an. Er sagte Martin Willing sinngemäß: "Sie haben recht. Ich bin kein mutiger Mann!" Aber dieser Mann hatte den Mut, dies zu sagen. Das hat mich bewegt, auch bewegt, ihn einzuladen.

So wünsche ich uns allen Mut genau hinzusehen, achtsam und mitfühlend zu sein. Dann kommen wir vielleicht sogar mit den bestehenden Gesetzen aus.

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© Martin Willing 2012, 2013