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Von
Martin Willing
Am 10. Januar 1999 tauchte im Stadtgebiet Kevelaer ein Flugblatt mit
unglaublichen Vorwürfen gegen einen Kevelaerer Hautarzt auf. Es nannte
keinen Verantwortlichen, bei dem wir hätten recherchieren können. Zwei
Gründe veranlassten die KB-Redaktion, mit dem anonymen Schreiben nicht
so zu verfahren wie üblicherweise (nämlich nicht weiter zur Kenntnis zu
nehmen). Der erste Grund war die Schwere der Vorhaltungen gegenüber dem
Arzt, der zweite eine Erfahrungssache: Schon lange war in Kevelaer bekannt, dass
über "merkwürdige Vorgänge" in der Hautarztpraxis offen oder
hinter vorgehaltener Hand geredet wurde. Das Flugblatt brachte die
Gerüchte auf den Punkt: Der Arzt, so der Vorwurf, vergreife sich sexuell
an Patientinnen.
Bereits am folgenden Tag, 11. Januar, gingen in der KB-Redaktion erste
Anrufe ein. Es meldeten sich ehemalige Patientinnen des Hautarztes, die
beteuerten: Die Anschuldigungen seien wahr.
Am 15. Januar 1999 berichtete das KB zum ersten Mal über den Fall. Am
selben Tag nahm die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen auf. Die
Redaktion hatte vor der Veröffentlichung Kontakt zu einigen Frauen
aufnehmen können, die sich als Missbrauchsopfer bezeichneten. Alle
Frauen, so erkannte Delia Evers in den intensiven Gesprächen, waren
glaubwürdig. Was in dem Flugblatt stand, war offenkundig nicht aus der
Luft gegriffen. Nach Erscheinen des KB-Berichts meldeten sich weitere
Opfer bei Delia Evers, und die Redakteurin ermunterte sie, sich der
Staatsanwaltschaft anzuvertrauen. Am 19. Januar gaben wir dem
beschuldigten Arzt Gelegenheit, sich zu äußern. In dem KB-Interview wies
Dr. F. die Vorwürfe von sich.
Am selben Tag bekamen wir Kontakt zu dem Verfasser des anonymen
Flugblatts. Er erläuterte uns seine Gründe und freute sich, dass nun
Frauen den Mut gefunden hätten, den Arzt anzuzeigen. Auch die
Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung äußerten sich zu den Vorgängen
in Kevelaer. Vor weiteren Schritten seien allerdings die Ermittlungen
der Staatsanwaltschaft abzuwarten.
Ein weiterer KB-Bericht mit neu bekannt gewordenen Fälle erschien am 22.
Januar. Am Tag darauf ließ der Arzt in dem Anzeigenblatt "Niederrhein
Nachrichten" ein Inserat erscheinen: Er setzte 5.000 Mark Belohnung aus
für Hinweise, "die zur Ergreifung der Verfasser der anonymen Flugblätter
führen“.
Inzwischen meldeten sich immer mehr Frauen, die unabhängig voneinander
erklärten, sie seien missbraucht worden. Auf Empfehlung des KB wendeten
sich alle an die ermittelnde Kriminalpolizei bzw. an die
Staatsanwaltschaft. Andere Kevelaerer Ärzte äußerten sich, sie hörten seit
Jahren Anschuldigungen gegen den Arzt, hätten aber keine Handhabe
gesehen einzuschreiten.
Über seinen Anwalt versuchte am 2. Februar der Arzt, eine Einstweilige
Verfügung bei der Zweiten Zivilkammer des Landgerichts Kleve gegen das
Kevelaerer Blatt zu erwirken. Dem KB sollte unter Androhung einer Strafe
von 30.000 Mark die Veröffentlichung bestimmter Äußerungen untersagt
werden. Sofort schalteten wir den Deutschen Journalistenverband ein, um
unsere Berichterstattung unabhängig prüfen zu lassen. Am Tag darauf
bescheinigte der Journalistenverband dem KB einwandfreie Arbeit.
Das KB hinterlegte beim Landgericht in Kleve eine Schutzschrift, um eine
Einstweilige Verfügung des Arztes gegen den Verlag zu verhindern.
Zugleich lehnte die Redaktion es gegenüber dem Anwalt des Arztes ab,
die strafbewehrte Unterlassungsverpflichtung zu unterzeichnen.
Der Anwalt versuchte daraufhin, die Verfügung zu erlangen, scheiterte
damit aber am 5. Februar vor dem Landgericht Kleve. Die Zweite
Zivilkammer des Landgerichts erklärte, alle Äußerungen im KB deckten
sich mit der Pressefreiheit. Die Redaktion habe sich der Spekulation
enthalten und über teilweise ohnehin bekannte Sachverhalte informiert.
Die Berichterstattung sei sachlich gewesen. Es sei das angemessen
Notwendige veröffentlicht worden.
Am 8. Februar bekamen wir die Aufforderung, uns der Kriminalpolizei für
eine Zeugenvernehmung zur Verfügung zu stellen. In dem Schreiben hieß
es: „U.m.A. der Kreispolizeibehörde Kleve - ZKB/KK II - Kalkar mit der
Bitte übersandt, den Redakteur Martin Willing von der Zeitung
'Kevelaerer Blatt´ … als Zeugen zu vernehmen, welche der bei der Zeitung
eingegangenen Hinweise auf den Verfasser und/oder Verbreiter des
Flugblattes hinweisen könnten“. Mit Berufung auf das
Zeugnisverweigerungsrecht, das Journalisten zugebilligt wird,
verweigerten wir jede Aussage.
In Kevelaer brach sich zunächst eine unerwartete Solidarität Bahn: Nicht
den Opfern galt die Sorge, sondern dem beschuldigten Arzt. Kritiker, mit
denen wir sprachen, wollten nicht den betroffenen Frauen, sondern dem
Mediziner glauben. Ein Bürger kritisierte in einem Brief, wenn ein
anonymes Flugblatt solche Auswirkungen haben könne, sei dem Rufmord Tür
und Tor geöffnet.
Eine Frau dagegen, selbst Opfer, meinte dazu: Sie habe - teilweise aus
Scham - jahrelang nicht darüber sprechen können, was ihr angetan worden
sei. Nun komme es ans Tageslicht. In diesem Ausnahmefall "heiligt der
Zweck die Mittel".
Eine weitere Briefschreiberin versuchte, Frauen Mut zu machen, sich
Helfern anzuvertrauen. "Ich bin Überlebende einer Gewalttat mit
sexuellem Hintergrund und weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, einen
Weg aus dem Grauen, das einen nach so einer Tat umgibt, zu finden. Bei
mir hat es fast ein Jahrzehnt gebraucht, bis ich überhaupt darüber
sprechen konnte. (…) Als hilfreich empfand ich den Besuch einer
Selbsthilfegruppe von betroffenen Frauen. Hier mußte ich nichts
'beweisen' und lernte nach und nach, über das Erlebte zu sprechen.
Außerdem lernte ich viele Frauen kennen, die Ähnliches erfahren mußten.
Ich war also nicht mehr allein."
Nach wochenlangen Recherchen hatte Delia Evers ein klares Bild gewonnen:
In der Praxis des Kevelaerer Hautarztes waren, so sah es aus, jahrelang Frauen auf
übelste Art und Weise auf sexuelle Weise erniedrigt worden.
© Martin Willing 2012, 2013