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Teil 52

Die Hautarzt-Affäre und der Prozess (1)

Logo für das nächste KapitelLogo für das vorige KapitelVon Martin Willing

Am 10. Januar 1999 tauchte im Stadtgebiet Kevelaer ein Flugblatt mit unglaublichen Vorwürfen gegen einen Kevelaerer Hautarzt auf. Es nannte keinen Verantwortlichen, bei dem wir hätten recherchieren können. Zwei Gründe veranlassten die KB-Redaktion, mit dem anonymen Schreiben nicht so zu verfahren wie üblicherweise (nämlich nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen). Der erste Grund war die Schwere der Vorhaltungen gegenüber dem Arzt, der zweite eine Erfahrungssache: Schon lange war in Kevelaer bekannt, dass über "merkwürdige Vorgänge" in der Hautarztpraxis offen oder hinter vorgehaltener Hand geredet wurde. Das Flugblatt brachte die Gerüchte auf den Punkt: Der Arzt, so der Vorwurf, vergreife sich sexuell an Patientinnen.

Bereits am folgenden Tag, 11. Januar, gingen in der KB-Redaktion erste Anrufe ein. Es meldeten sich ehemalige Patientinnen des Hautarztes, die beteuerten: Die Anschuldigungen seien wahr.

Am 15. Januar 1999 berichtete das KB zum ersten Mal über den Fall. Am selben Tag nahm die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen auf. Die Redaktion hatte vor der Veröffentlichung Kontakt zu einigen Frauen aufnehmen können, die sich als Missbrauchsopfer bezeichneten. Alle Frauen, so erkannte Delia Evers in den intensiven Gesprächen, waren glaubwürdig. Was in dem Flugblatt stand, war offenkundig nicht aus der Luft gegriffen. Nach Erscheinen des KB-Berichts meldeten sich weitere Opfer bei Delia Evers, und die Redakteurin ermunterte sie, sich der Staatsanwaltschaft anzuvertrauen. Am 19. Januar gaben wir dem beschuldigten Arzt Gelegenheit, sich zu äußern. In dem KB-Interview wies Dr. F. die Vorwürfe von sich.

Am selben Tag bekamen wir Kontakt zu dem Verfasser des anonymen Flugblatts. Er erläuterte uns seine Gründe und freute sich, dass nun Frauen den Mut gefunden hätten, den Arzt anzuzeigen. Auch die Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung äußerten sich zu den Vorgängen in Kevelaer. Vor weiteren Schritten seien allerdings die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abzuwarten.

Ein weiterer KB-Bericht mit neu bekannt gewordenen Fälle erschien am 22. Januar. Am Tag darauf ließ der Arzt in dem Anzeigenblatt "Niederrhein Nachrichten" ein Inserat erscheinen: Er setzte 5.000 Mark Belohnung aus für Hinweise, "die zur Ergreifung der Verfasser der anonymen Flugblätter führen“.

Inzwischen meldeten sich immer mehr Frauen, die unabhängig voneinander erklärten, sie seien missbraucht worden. Auf Empfehlung des KB wendeten sich alle an die ermittelnde Kriminalpolizei bzw. an die Staatsanwaltschaft. Andere Kevelaerer Ärzte äußerten sich, sie hörten seit Jahren Anschuldigungen gegen den Arzt, hätten aber keine Handhabe gesehen einzuschreiten.

Über seinen Anwalt versuchte am 2. Februar der Arzt, eine Einstweilige Verfügung bei der Zweiten Zivilkammer des Landgerichts Kleve gegen das Kevelaerer Blatt zu erwirken. Dem KB sollte unter Androhung einer Strafe von 30.000 Mark die Veröffentlichung bestimmter Äußerungen untersagt werden. Sofort schalteten wir den Deutschen Journalistenverband ein, um unsere Berichterstattung unabhängig prüfen zu lassen. Am Tag darauf bescheinigte der Journalistenverband dem KB einwandfreie Arbeit.

Das KB hinterlegte beim Landgericht in Kleve eine Schutzschrift, um eine Einstweilige Verfügung des Arztes gegen den Verlag zu verhindern. Zugleich lehnte die Redaktion es gegenüber dem Anwalt des Arztes ab, die strafbewehrte Unterlassungsverpflichtung zu unterzeichnen.

Der Anwalt versuchte daraufhin, die Verfügung zu erlangen, scheiterte damit aber am 5. Februar vor dem Landgericht Kleve. Die Zweite Zivilkammer des Landgerichts erklärte, alle Äußerungen im KB deckten sich mit der Pressefreiheit. Die Redaktion habe sich der Spekulation enthalten und über teilweise ohnehin bekannte Sachverhalte informiert. Die Berichterstattung sei sachlich gewesen. Es sei das angemessen Notwendige veröffentlicht worden.

Am 8. Februar bekamen wir die Aufforderung, uns der Kriminalpolizei für eine Zeugenvernehmung zur Verfügung zu stellen. In dem Schreiben hieß es: „U.m.A. der Kreispolizeibehörde Kleve - ZKB/KK II - Kalkar mit der Bitte übersandt, den Redakteur Martin Willing von der Zeitung 'Kevelaerer Blatt´ … als Zeugen zu vernehmen, welche der bei der Zeitung eingegangenen Hinweise auf den Verfasser und/oder Verbreiter des Flugblattes hinweisen könnten“. Mit Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht, das Journalisten zugebilligt wird, verweigerten wir jede Aussage.

In Kevelaer brach sich zunächst eine unerwartete Solidarität Bahn: Nicht den Opfern galt die Sorge, sondern dem beschuldigten Arzt. Kritiker, mit denen wir sprachen, wollten nicht den betroffenen Frauen, sondern dem Mediziner glauben. Ein Bürger kritisierte in einem Brief, wenn ein anonymes Flugblatt solche Auswirkungen haben könne, sei dem Rufmord Tür und Tor geöffnet.

Eine Frau dagegen, selbst Opfer, meinte dazu: Sie habe - teilweise aus Scham - jahrelang nicht darüber sprechen können, was ihr angetan worden sei. Nun komme es ans Tageslicht. In diesem Ausnahmefall "heiligt der Zweck die Mittel".

Eine weitere Briefschreiberin versuchte, Frauen Mut zu machen, sich Helfern anzuvertrauen. "Ich bin Überlebende einer Gewalttat mit sexuellem Hintergrund und weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, einen Weg aus dem Grauen, das einen nach so einer Tat umgibt, zu finden. Bei mir hat es fast ein Jahrzehnt gebraucht, bis ich überhaupt darüber sprechen konnte. (…) Als hilfreich empfand ich den Besuch einer Selbsthilfegruppe von betroffenen Frauen. Hier mußte ich nichts 'beweisen' und lernte nach und nach, über das Erlebte zu sprechen. Außerdem lernte ich viele Frauen kennen, die Ähnliches erfahren mußten. Ich war also nicht mehr allein."

Nach wochenlangen Recherchen hatte Delia Evers ein klares Bild gewonnen: In der Praxis des Kevelaerer Hautarztes waren, so sah es aus, jahrelang Frauen auf übelste Art und Weise auf sexuelle Weise erniedrigt worden.

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