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Von
Martin Willing
Am 16. Juli berichtete die Staatsanwaltschaft über den Ermittlungsstand.
Die Untersuchungen seien nicht abgeschlossen und könnten sich noch
Monate hinziehen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte den Eingang von zehn
Strafanzeigen gegen den beschuldigten Arzt. Weitere Fälle waren bereits
verjährt.
Nach der Jahreswende gab die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in
Auftrag, um unabhängig prüfen zu lassen, ob die Methoden, die der
beschuldigte Arzt angewendet hatte und die von den Frauen als
erniedrigend und missbräuchlich empfunden worden waren, "medizinisch
indiziert" waren oder nicht.
Mitte März 2000 ging die Kassenärztliche Vereinigung - unabhängig von
den bis dahin bekannten Fällen - dem Verdacht auf Abrechnungsbetrug durch
den beschuldigten Arzt nach. Im Juli entzog die KV dem Mediziner die
vertragsärztliche Zulassung. Dr. F. legte Widerspruch ein und durfte
weiterhin auch Kassenpatienten behandeln.
Das von der Staatanwaltschaft in Auftrag gegebene Gutachten lag Anfang
Oktober vor. Damit war klar: Sie würde gegen den beschuldigten Arzt
Anklage erheben.
Auch die Bezirksregierung, zuständig für die Approbation des Arztes,
befasste sich mit dem Gutachten zu den Behandlungsmethoden des Dr. F. Ein
Pressesprecher sagte, Tenor des Gutachtens sei, dass keine der dem Arzt
vorgeworfenen Handlungen medizinisch indiziert gewesen sei; eher sei aus
dem Gutachten „Mutwilligkeit“ herauszulesen. - Der Arzt wies die
Vorwürfe von sich.
Am 2. Mai 2001 musste der Berufungsausschuss über den behaupteten
Abrechnungsbetrug und den Entzug der vertragsärztlichen Zulassung
entscheiden. Der Ausschuss gab dem Widerspruch des Arztes zu dessen
Gunsten statt. Am 20. Juni reichte die Kassenärztliche Vereinigung Klage
beim Sozialgericht ein. Ein KV-Sprecher: "Wir sind sicher, dass wir die
Falschabrechnung nachweisen können.“
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zu den Missbrauchsvorwürfen, die im Oktober 2001 vorlag, konzentrierte sich auf
acht Fälle - alle mit dem Vorwurf, Patientinnen misshandelt zu haben.
Am 29. April 2002 begann der Prozess vor dem Landgericht Kleve.
1. Verhandlungstag
Der Richter fragte nach dem Krankheitsbild „Pilzbefall“, auf den der
beschuldigte Arzt sämtliche Opfer behandelt hatte, und ließ sich erläutern, wie der Hautarzt
gewöhnlich eine Darmspülung durchgeführt habe. Wir schilderten in
unserem Zeitungsbericht auch solche Einzelheiten, damit sich die Leser
ein Bild davon machen konnten, worin sich eine "normale" Darmspülung von
der unterschied, die Dr. F. durchführte.
Vor Gericht spielte der Angeklagte mit den Gefühlen der Opfer. Als der
Richter geradeheraus den Arzt fragte, ob Sexualität bei der Behandlung
eine Rolle gespielt habe (und damit natürlich den Beschuldigten meinte),
antwortete Dr. F.: "Ich glaube nicht, dass die Patientinnen dabei
sexuelle Gefühle hatten.“ Und er fügte hinzu: „Ich meinte: negative
Sexualität!“
Dem KB wurde während der Prozessberichterstattung von Lesern
vorgeworfen, unnötig detailliert die Vorgänge in der Praxis, die vom
Gericht geprüft wurden, dargestellt zu haben. In Wirklichkeit war es von
großer Bedeutung, den Unterschied zwischen einem analen Abstrich mittels
sterilen Wattestäbchens, so wie er in jeder guten Hautarztpraxis
vorkommen kann, und der Beschaffung von "Untersuchungsmaterial" durch
den angeklagten Arzt zu verdeutlichen: Dr. F. fingerte herum und holte
so "Material" hervor - eine Behandlungsmethode, die, wie es ein
Medizinprofessor als Sachverständiger freundlich ausdrückte, "in der
Literatur nicht beschrieben ist".
Schon die erste Zeugin, die aufgerufen wurde, brach in Weinen aus. Über
Monate habe sich ihre Behandlung hingezogen. „Er wollte unbedingt auf
Darmspülung hinaus“, erklärt die ehemalige Patientin. Sie sprach Dr. F.
im Gerichtssaal direkt an: „Sie haben mich systematisch zur Darmspülung
hingedrängt. Ich habe Ihnen vertraut und fühle mich missbraucht!“
Bei der Anhörung einer zweiten Zeugin drehte sich zwar wieder alles um
die Darmspülung, aber jetzt stand der Ort der "Behandlung" im
Blickpunkt: Dr. F. nahm sie nicht in der Praxis und während der
regulären Behandlungszeiten, sondern abends in seinen privaten
Kellerräumen vor, wo sich Sauna, Schwimmbad und ein kleines Badezimmer
befanden. Die junge Frau musste sich entkleiden. Das T-Shirt durfte sie
anbehalten, unten war sie nackt. Eine Praxishelferin war nicht dabei.
Die Frau musste sich hinknien und so nach vorne beugen, dass ihr Kopf
auf dem Wohnzimmerteppich lag. Der Arzt forderte sie auf, in dieser
Haltung das Gesäß möglichst hochzurecken. Dr. F. führte mit dem Klistier
das Mittel ein. Nach mehr als einstündiger "Behandlung" durfte die
Patientin ins private Badezimmer des Arztes, um sich zu entleeren. Dr.
F. kniete dabei vor ihr, während sie auf der Toilette saß. "Dann musste
ich meinen Hintern vor das Waschbecken halten, und er hat mich
gewaschen."
2. Verhandlungstag
Die nächste Zeugin war wieder eine junge, gut aussehende Frau, und so
langsam erkannte man ein Schema: Wegen einer Hauterkrankung - diesmal
war es eine leichte Akne - wurde der Arzt konsultiert, der es für
angezeigt hielt, mit dem Finger in Vagina und Anus einzudringen, auf
schlimmen Pilzbefall zu diagnostizieren, den Darm zu spülen, den Po zu
waschen und die Intimstellen zu dehnen, bevor er sie von innen
eincremte. Ein Richter fragte eindringlich den Sachverständigen: „Ist
bei einer solchen Behandlung Scheidendehnung üblich?“ - „Nein“,
antwortete der Professor. - „Hat das irgendeinen Sinn?“ - „Nein“. -„Hat
die Einsalbung einen Sinn?“ - „Wenn der Pilzbefall nachgewiesen ist,
ja“.
Bei den nächsten Zeuginnen das gleiche Bild. Immer wieder die
schamverletzende Körperhaltung, bei der die auf dem Boden kniende Frau
ihr nacktes Gesäß möglichst hochrecken musste - abends nach
Praxisschluss, ohne Helferin, außerhalb der Praxis, und Entleerung auf
dem Klo bei massiver Berührung durch den Arzt.
3. Verhandlungstag
Eine junge Frau wurde angehört, die zur Zeit ihrer "Behandlung" durch Dr.
F. 15 Jahre, also minderjährig, war.
Sie besuchte den Hautarzt wegen einer Pseudoakne an der Nase. Der Richter
forderte Dr. F. auf, sich zu erklären, warum er von einem Ausschlag an
der Nase zur Scheide des Mädchens überging, wo er Manipulationen
vornahm. Sie habe ein „derbes Jungfernhäutchen“ und eine sehr enge
Scheide gehabt, sagte der Arzt. Da sei zu erwarten gewesen, dass es
später bei Geschlechtsverkehr zu Problemen hätte kommen können. Die
Scheide hätte [durch Manipulation] geweitet werden müssen. Zugleich habe
er mehrfach Abstriche gemacht und das Mädchen im Schambereich rasiert.
Die Zeugin über den fünf Jahre zurückliegenden Fall: "Er hat mich
dreckig ausgenutzt. Ich war nicht seine Patientin, sondern sein
Nutzobjekt."
Auch hier wurde der Sachverständige befragt: Ob die Behandlung eines
„derben Hymens“ Aufgabe eines Hautarztes sei. Der Professor: „In der
Schulmedizin des Hautarztes kommt diese Methode nicht vor.“
Ob die Entfernung von Schamhaaren zur Behandlung gehöre? „Nein!“ - Ob
der Abstrich statt eines Fingers mit einem Tupfer zu machen gewesen
wäre. "Ja, sicher, wir machen das immer mit einem Tupfer.“
4. Verhandlungstag
Am vierten Verhandlungstag kam der Vorwurf auf, der Arzt habe die
Behandlungen nicht dokumentiert. Da entgegnete er, die Dokumentation sei
in einem speziellen Laborbuch vorgenommen worden. Die darin enthaltenen Daten
würden ihn entlasten.
Seine Anwälte
waren vom Auftauchen einer solchen Datensammlung ebenso überrascht wie die
Richter. Die ließen nicht locker und wollten noch während der
Verhandlung die Polizei das Laborbuch aus der Praxis holen
lassen, weil das Gericht Zweifel daran hatte, ob das Buch überhaupt
existierte. Das wollte der Angeklagte nicht, worauf der Vorsitzende
Richter sich dazu ermuntert sah, nun im Detail alle
Patientenkarteikarten der Zeuginnen durchzugehen.
5. Verhandlungstag
Eine Arzthelferin von Dr. F. wurde in den Zeugenstand gerufen. Eine
Richterin kam auf das Laborbuch zu sprechen, das Dr. F. entlasten
sollte. "Was wird eigentlich im Laborbuch vermerkt?“, fragte sie Dr. F.'s
Angestellte. Die 25-Jährige antwortete: „Ein Laborbuch haben wir nicht!“
Verblüfftes Schweigen im Saal. Da hätte die Polizei in der Praxis von F. lange suchen
müssen.
Schließlich beendete das Gericht die Beweisaufnahme, und der Staatsanwalt
hielt sein Plädoyer. Es gehe nicht darum, die Darmspülung zu verteufeln,
bei der es sich um eine alternative Behandlungsmethode mit ungeklärter
Nützlichkeit handele. Es gehe darum, „was der Angeklagte konkret gemacht
hat“. Der Anklagevertreter fasste zusammen, was den Aussagen aller
Zeuginnen gemeinsam war, und schälte heraus, was die Fälle voneinander
unterschied.
Er schilderte, wie Zeuginnen vom Angeklagten über die angeblich unter
dem Mikroskop sichtbaren Pilze getäuscht worden seien, wie er sich damit
ohne gesicherte Diagnose ihre Zustimmung zu den Spülungen erschlichen
habe, um in Vagina und Anus zu manipulieren. Der Gutachter habe
bestätigt, dass die Art der Pilze und ihre Anzahl unter einem Mikroskop
überhaupt nicht auszumachen seien, dass Pilzkulturen anzulegen gewesen wären und
dass die Patientinnen ein entsprechendes Beschwerdebild hätten haben
müssen. Bei den meisten sei dies nicht der Fall gewesen.
Zudem habe Dr. F. die Zeuginnen auf intime Themen angesprochen und
Schamhaare abrasiert. „Eine Notwendigkeit gab es nicht. All das gehört
nicht zum Aufgabenbereich eines Hautarztes.“ Die Abstriche habe er mit
dem Finger durchgeführt. Von so einer Methode „hat der Gutachter noch
nie gehört!“
Der Staatsanwalt weiter: „Das einzige, was man sich hier vorstellen
kann, [ist,] dass sexuelle Absichten dahinter standen.“. Das lasse sich
auch aus den späten Terminen und der Toilette im Keller schließen, die
F. genutzt habe, obwohl die Patiententoilette in den Praxisräumen mit
einem Vorraum viel besser geeignet gewesen sei. „Es müssen sexuelle
Absichten dahinter gestanden haben“.
Der Angeklagte sei wegen Missbrauch einer Minderjährigen sowie bei
sieben Frauen wegen
Körperverletzung in zwölf Fällen [Abstriche und Darmspülungen zählte er
separat] und Beleidigung zu bestrafen. Er forderte, die Taten mit einem
Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung zu ahnden - auf
Bewährung, da er in der Sozialprognose davon ausgehe, dass der Arzt sich
künftig keine Übergriffe mehr zu schulden kommen lasse. Es sei eine
Geldstrafe von 15.000 Euro zu verhängen. Ein Berufsverbot fordere er
wegen der genannten Sozialprognose nicht.
Die Vertreter der Nebenklage verlangten hingegen ein Berufsverbot für den Arzt. Was F. sich
geleistet habe, sei mit dem Bild des Arztes, der den hippokratischen Eid
abgelegt habe, nicht zu vereinbaren. „Die Menschen sind ihm
ausgeliefert. Wenn er es nicht im Griff hat, seine Machtposition nicht
zu missbrauchen, ist er für diesen Beruf nicht geeignet.“
Die Verteidiger des Angeklagten baten, Dr. F. freizusprechen. Als
Letzter sprach der Angeklagte: "Ich kann nur sagen, dass ich alle
Behandlungen nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe“. Nun zeigte
Dr. F. Nerven - er weinte.
Tag des Urteils
Die Strafkammer ging mit ihrem Urteil weit über das hinaus, was der
Staatsanwalt beantragt hatte. Sie verurteilte den Kevelaerer Hautarzt
Dr. F. zu vier Jahren Freiheitsentzug und vier Jahren Berufsverbot. Der
Arzt hatte eine Minderjährige (15) sexuell missbraucht. Bei sieben
weiteren Patientinnen machte er sich - in insgesamt neun Fällen - der
Körperverletzung und der Beleidigung schuldig.
Der Mediziner wurde noch im Gerichtssaal verhaftet.
Die Urteilsbegründung hatte es auf den Punkt gebracht: „Nach dem
Ergebnis der Hauptverhandlung steht unsere Überzeugung fest, dass Sie
acht Patientinnen in massiver Art und Weise gedemütigt, beleidigt,
erniedrigt und in ihrer Gesundheit geschädigt haben“. Dies sei „unter
bewusster und konsequenter Ausnutzung als Arzt“ geschehen. F. habe vor
Gericht erklärt, er habe helfen wollen, doch sei genau das Gegenteil der
Fall.
„Wir haben acht Frauen gehört. Sie haben alle ganz eindeutig und
zweifelsfrei ein vernichtendes Bild [von dem] gezeigt, was Sie mit ihnen
angestellt haben. Die Patientinnen haben deutlich gemacht, dass Sie sie
missbraucht haben“. Dabei seien keinerlei Belastungstendenzen zu
erkennen gewesen: „Niemand hat Ihre Qualifikation als Arzt in Abrede
gestellt.“ Doch habe er die Grenzen eines Arztes eindeutig
überschritten.
Er habe dem Gericht von einem Laborbuch erzählt. Seine Arzthelferin habe
jedoch ausgesagt, dass es gar kein Laborbuch gebe. „Wir haben Sie da bei
einer außerordentlich plumpen Lüge ertappt.“ Er habe die „Behandlung“
bewusst in die Abendstunden und in seine Privaträume gelegt. Es falle
verschärfend ins Gewicht, dass er für die Taten das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient missbraucht habe. „Wer zu einem Arzt geht,
gibt sich voll und ganz in dessen Hände. Er vertraut darauf, dass der
Arzt alle Grenzen einhält. Das Vertrauen ist nahezu unbegrenzt.“ F.
jedoch habe dieses „Vertrauen völlig eindeutig missbraucht“.
Die Folgen seien gravierend: „Die Frauen haben sich über Jahre hinweg
abquälen müssen mit dem, was Sie ihnen angetan haben“.
Der Richter zog Vergleiche zu Vergewaltigungen. Die körperlichen
Verletzungen seien oft gering, manchmal bleibe nicht mehr als eine
leichte Rötung. Viel gravierender sei der seelische Schaden. Auch im
Fall des Dr. F. seien die körperlichen Verletzungen nicht das
Wesentliche. Der Richter betonte jedes Wort: „Die Frauen leiden
jahrelang!“
Dann folgte, womit niemand gerechnet hatte. „Es ergeht Haftbefehl gegen
Sie.“ Es werde Untersuchungshaft angeordnet, denn es bestehe die Gefahr,
dass er sich ins Ausland absetze, da er vermögend, als Unverheirateter
familiär nicht gebunden und sein „Ruf in der Kleinstadt Kevelaer
nachhaltig beeinträchtigt“ sei.
Dr. F. wurde nach den Ausführungen des Richters in die
Justizvollzugsanstalt Kleve überführt.
Am 10. Juni wurde die Inhaftierung von Dr. F. gegen eine
Sicherheitsleistung von 500.000 Euro außer Vollzug gesetzt. Damit
beschied die Große Strafkammer des Landgerichts in Kleve den zweiten
Haftprüfungsantrag des Mediziners positiv. Das Urteil gegen Dr. F. war
wegen der von ihm angestrengten Revision nicht rechtskräftig. Die
Sicherheitsleistung musste bar hinterlegt werden.
© Martin Willing 2012, 2013