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Das
tragische Scheitern
mit einem großen Projekt
Von Martin
Willing
Politiker und Verwaltungsleute riefen in den 1980er- und 1990er-Jahren ständig nach einem „zweiten Bein“, auf dem die Wirtschaft Kevelaers stehen sollte. Wenn es mal nicht mehr so gut liefe mit der Wallfahrt und dem Zuspruch der vielen Stadtbesucher, müsste Kevelaer trotzdem attraktiv bleiben.
Es kam wie gerufen, das „zweite Bein“. Stadtdirektor Heinz Paal präsentierte es an einem Montag im Juli 1989, und zwar auf einer Zusammenkunft der Stadt- und Gemeindedirektoren des Kreises Kleve.
Auf diesem Meeting der Verwaltungschefs wurde eine Prioritätenliste außergewöhnlicher Vorhaben erarbeitet, die im Rahmen eines frisch aufgelegten Förderprogramms des Landes Nordrhein-Westfalen mit Millionenbeträgen unterstützt werden könnten.
Für Kevelaer stellte Paal ein Projekt vor, von dem in Kevelaer noch niemand eine Ahnung hatte und das seinen Verwaltungskollegen Staunen abrang: Paal schlug für den Wallfahrtsort ein „Balnearisches Kur- und Erholungszentrum“ vor und sagte auch, wie er auf diese Idee gekommen war: In dem von der Stadt bezahlten Steinert-Buch zur Stadtgeschichte im Kaiser- und Nazi-Reich habe ihn eine scheinbar belanglose Nachricht elektrisiert. Anfang des 20. Jahrhunderts sei in der Marienstadt bei Bohrungen salzhaltiges Wasser hervorgesprudelt. Steinert hatte dazu aus einen zeitgenössischen Bericht des Kävels Bläche zitiert.
Seine Recherchen beim geologischen Landesamt, so berichtete Paal weiter, hätten ergeben, dass unter der Stadt tatsächliche solche Quellen schlummern. Und er gab die Einschätzung von Fachleuten wieder: Es könne als hochwahrscheinlich angenommen werden, dass dieses Wasser kurmedizinisch einsetzbar sei. Seitdem schwebe ihm ein Kur- und Erholungszentrum als Pendant zur Wallfahrt vor. Erste Standortüberlegungen hätten die Blicke der wenigen Eingeweihten nach Schravelen wandern lassen. Aber das geologische Landesamt habe abgewinkt: Der Westen der Stadt sei für Bohrungen besser geeignet. So sei das Gelände westlich vom Hülspark in den Blick genommen worden.
Was könnte hier zwischen Wember-/Twistedener Straße und Hoogemittagsweg entstehen? Paal skizzierte seinen Traum von einem 68 Hektar umfassenden Park, etwa so groß wie ein 18-Loch-Golfplatz, einen Park, der zum einen europäische Landschaften mit ihren typischen Reizen darstelle und zum andern durch die Versorgungsgebäude architektonische Epochen dokumentiere. Kurmedizinische Facheinrichtungen wie eine Klinik sollten durch private Träger betrieben werden („Kontaktgespräche laufen bereits“), die Stadt hingegen stelle alle Einrichtungen für Kurzzeiterholungen: Tret-, Schwimmbecken, Salinen und Wandelhallen. Das sei zunächst schier unfinanzierbar erschienen - bis das Land vor wenigen Tagen das neue Förderprogramm mit insgesamt 362 Millionen Mark aufgelegt habe. Zunächst brauche die Stadt aus dem Fördertopf fünf Millionen Mark, um im kommenden Jahr Tiefenbohrungen, Analysen und - bei erfolgversprechenden Ergebnissen - erste Planungen durchführen zu können.
Das Kävels Bläche brachte die Story exklusiv unmittelbar nach dem Treffen der Verwaltungschefs. Es war der Anfang einer unendlichen Geschichte, die auch 20 Jahre danach noch in den Köpfen steckt - und in der Erde. Denn das Loch einer fast eine Million Mark teuren Tiefenbohrung gibt es noch. Und der „Traum vom Kurzentrum“ ist bis heute nicht ausgeträumt.
Eine der erste Reaktionen auf das Paal‘sche Projekt war ein Angebot des in Kevelaer beheimateten SPD-Bundestagsabgeordneten Helmut Esters, eines in Wirtschaftsfragen außerordentlich erfahrenen Politikers. In vertraulicher Runde empfahl Esters dem Stadtdirektor dringend, externen Sachverstand hinzuzuziehen, und nannte dabei den Namen eines Experten aus Bad Laaspe, der dort ein vergleichbares Projekt aufgebaut habe. Von diesem Profi habe er, Esters, die Information, dass es ganz wichtig sei, Investor und Betreiber des Kurzentrums von vornherein an einem Tisch zu haben, sonst habe man später Abstimmungsprobleme, da jeder eigene Vorstellungen habe, wie das Projekt zu realisieren sei. Esters bot in dem Gespräch ferner an, sich um einen Finanzier zu bemühen, nämlich die WestLB, mit der er auf hochrangiger Ebene bereits ein Vorgespräch geführt habe. Die Projektentwicklung stehe unter Zeitdruck, drängte Esters, denn sie könnte sonst mit den Planungen für den Zivilflughafen im benachbarten Weeze kollidieren oder mit anderen Kurprojekten im Land in Konkurrenz geraten. Darum wolle er mit der WestLB im Rücken bei der Landesregierung „schnell grünes Licht bekommen“.
Bei dem Gespräch am Biertisch blieb es. Esters‘ Rat und Verbindungen waren nicht gefragt. In den folgenden vier Jahren verging in Kevelaer kaum eine politische Sitzung, in der das „Kurzentrum“ nicht angesprochen wurde. Aber das Projekt kam nicht voran, weil dem Stadtdirektor die Finanzmittel für die unerlässliche Tiefenbohrung fehlten.
Ein Zufall kam ihm zu Hilfe. Der Stromlieferant RWE, der mit der Stadt langfristige Konzessionsverträge abgeschlossen hatte, bedankte sich bei der Stadt mit einem sechsstelligen D-Mark-Betrag, der nach Gutdünken eingesetzt werden durfte. Mit ihm wollte Paal einen Teil der Rechnung für die Tiefenbohrung (Kosten: rund 800.000 Mark) bezahlen, die er 1993 anleiern ließ. Die Gesamt- und Detailplanung des ersten Bauabschnittes solle 1994 in Angriff genommen werden. Weitere Detailplanung sei 1996 vorzunehmen. Die Realisierung aller folgenden Abschnitte habe sich „den finanzwirtschaftlichen Möglichkeiten unterzuordnen“.
Paal schlug „angesichts des Finanzbedarfs, der Chancen und Risiken“ die Gründung einer Eigengesellschaft unter Einbeziehung vieler Partner vor. In zehn bis 15 Jahren solle das Gesamtprojekt vollendet sein.
© Martin Willing 2012, 2013