MARTIN WILLING
Kevelaer und die NS-Zeit
Die „dunklen Jahre" in der Stadt, die Hitler zum Ehrenbürger ernannt
Der Anstoß, die Entwicklung Kevelaers während der
NS-Zeit aufarbeiten zu lassen, stammte von
Klaus Hölzle, dem
späteren SPD-Fraktionsvorsitzenden, und erfolgte anlässlich des 40.
Jahrestags des Zusammenbruchs der Hitler-Diktatur (8. Mai 1945). Als
sich der Kulturausschuss mit dem Vorschlag im Frühjahr 1985 befasste,
signalisierten die Vertreter aller Fraktionen grundsätzliche Zustimmung.
Ein anerkannter Historiker oder ein Doktorand solle mit der
Forschungsarbeit beauftragt werden.
Neujahrsrundgang
1986 (v.l.): Dezernent Edgar Zappe, Dr. Klaus Hölzle, Reinhard
Thoenissen und Hans
Broeckmann.
Anfang August publizierte ich im Kävels Bläche meine Fragen und Bedenken
zu dem Projekt. Sie wurden zum Teil missverstanden, so als wäre ich
gegen die Aufarbeitung. Ich hatte Sorge, dass das Projekt misslingen
würde: Weil es zur NS-Zeit in Kevelaer keinen Verbrecher von
monsterhaften Ausmaßen gegeben hat - das wüsste man längst, weil es
spätestens nach Kriegsende bekannt geworden wäre -, könnte ein Autor nur
die „kleinen Fälle“, das Handeln der Mitläufer, Schweiger und
unkritischen Vollzugsbeamten, darstellen. Das aber würde das Dritte
Reich eher verharmlosen als erhellen.
Ich habe mich später, als ich im Kevelaerer Blatt meine eigene Arbeit
über die NS-Zeit in vielen Fortsetzungen veröffentlichte und sie im
Sommer 1995 als Buch („Kevelaers dunkle Jahre“) herausgab, von diesen
Bedenken leiten lassen: Die Vorgänge in Kevelaer wurden nicht für sich
allein gelassen, sondern immer in den Kontext des Gesamten gestellt.
Zeitgleich mit den lokalen Ereignissen wurden die wichtigsten
Entwicklungsstufen des Hitler-Reichs geschildert, so dass der Leser am
Beispiel Kevelaers Einsichten in das Gesamte gewinnen konnte.
Meine Befürchtung, dass bei dem vom Stadtrat zu vergebenen Auftrag eine
auf Kevelaer beschränkte, im Stil und mit den Zwängen einer Doktorarbeit
geschriebene „lokale NS-Geschichte“ herauskommen könnte, wurde noch
größer, als der Kulturausschuss das Projekt im Herbst 1985 erneut
behandelte: Nun sollte sich die Arbeit nicht auf die NS-Jahre
beschränken, sondern das Reich unter Kaiser Wilhelm II. einschließen.
Die Stadt verhandelte inzwischen mit dem Institut für neuere Geschichte
an der Universität Duisburg. Dessen Leiter hatte angeboten, seinen
wissenschaftlichen Mitarbeiter, Dr. Johannes-Dieter Steinert (Jahrgang
1955), für die Aufgabe abzustellen. Der Auftrag wurde vergeben
(Honorarkosten: rund 70.000 Mark), und Steinert machte sich an die
Arbeit, bei der auf über 400 Seiten „Kevelaer - Eine niederrheinische
Region zwischen Kaiserreich und Drittem Reich“ beschrieben wurde.
Im Februar 1988 meldete das KB, dass das Manuskript von Steinert
vorliege. Der Kulturausschuss wolle sich mit dem Autor zusammensetzen,
das Manuskript mit ihm besprechen sowie Auflagenhöhe und
Gestaltungsfragen diskutieren. Das Buch sei „flüssig und lesbar
geschrieben“, äußerte sich Stadtdirektor
Heinz Paal.
Andere Rezensenten aus dem kleinen Kreis privilegierter Erstleser des
noch unveröffentlichten Buchmanuskripts waren weniger begeistert.
Projekt-Initiator Klaus Hölzle sprach sogar davon, er sei nach der
Lektüre „rundum enttäuscht“.
Das Buch war dürftiger ausgefallen als gehofft und
saftloser als befürchtet. Und dann sollte das Manuskript auch noch
hinter verschlossenen Türen besprochen werden.
Hölzle wehrte sich vergebens dagegen, dass das Publikum den Ratssaal
verlassen musste. Dafür bestünde nicht der geringste Grund. Zusammen mit
seinem Fraktionskollegen Winfried Janssen reichte er später beim
Verwaltungsgericht in Düsseldorf Feststellungsklage ein. Im Dezember
schlossen die Stadt und Klaus Hölzle allerdings einen Vergleich, teilten
sich die Kosten des Verfahrens und beendeten das Kapitel.
Warum sich die Türen des Ratsaals für die Öffentlichkeit geschlossen
hatten, war ungeklärt geblieben. Schmutzige Wäsche wurde in jener
Sitzung des Kulturausschusses nicht gewaschen, Skandalöses brachte das
Werk von Steinert auch nicht an den Tag - allenfalls Peinliches: Denn
das Auge des Lesers fiel auf viele Rechtschreibfehler.
Johannes-Dieter
Steinert, Kevelaer - Eine niederrheinische Region zwischen
Kaiserreich und Drittem Reich, erschienen 1988.
Steinerts Werk, das im Winter 1988 als Buch auf den Markt kam, war
gleichwohl eine nützliche Fleißarbeit, die aus den zugänglichen Archiven
schöpfte. Freilich - seitenlang befasste er sich mit dem Leben von
Schweinen und Kühen im Raum Kevelaer, aber die Frage, wie die Menschen
hier lebten, kam zu kurz. Wichtige Zusammenhänge blieben gerade für den
geschichtlichen Laien, der das Buch später lesen sollte, ungeklärt. In
Ermangelung ortsbezogener Dokumente spielte beispielsweise der Pogrom in
der Nacht im November 1938 („Reichskristallnacht“) nicht einmal eine
Nebenrolle in Steinerts Buch, obwohl die Synagogen-Brandschatzungen in
den Nachbarstädten Geldern und Goch zur gemeinsamen Geschichte am
Niederrhein zählen.
In dem Buch wurde außerdem unzureichend gewürdigt, dass der
Marienwallfahrtsort, anders als viele auswechselbare Kleinstädte und
trotz des auch hier nachzuweisenden Mitläufertums, in den „dunklen
Jahren“ eine Zufluchtstätte für viele Menschen im weiten Umkreis war.
Zwar bestand kaum ein Unterschied zu anderen Gemeinden dieser
Größenordnung darin, wie sich auf der politischen und administrativen
Ebene der braune Mief ausbreitete und die „kleinstädtische
Machtergreifung“ in den Rathäusern zuweilen so gar komische Züge annahm.
Aber als religiöses Zentrum für einen großen Einzugsbereich bot der
Marienwallfahrtsort in der NS-Zeit die Sicherheit einer letzten Insel.
Und hier gab es auch die Brand-Andachten, zu denen jeden Abend auf dem
dunklen Kapellenplatz Menschen kamen, die einer waffenstarrenden Umwelt
den Rosenkranz entgegenhielten. Wenn wir darüber hinaus an die
ungezählten Kopien des Kevelaerer Gnadenbildes denken, die in den
Uniformen der Soldaten an allen Fronten steckten, dann ahnt man, was für
eine stille und wichtige Rolle Kevelaer in den dunklen Jahren spielte.
Nicht nur für die Einheimischen, sondern für die ganze katholische
Kirche in Deutschland wuchs unserer Marienwallfahrtsort über Normalität
weit hinaus, indem Clemens August von Galen für die Zusammenkünfte von
Bischöfen häufig das Priesterhaus auswählte, wo sein Freund und
geistlicher Bruder Wilhelm Holtmann Hausherr war. Hier in Kevelaer wurde
während des Dritten Reichs Kirchengeschichte geschrieben, denn wie die
Geistlichkeit auf das Vordringen des Nazitums reagieren wollte, das
wurde hinter den verschlossenen Türen des ältesten Steinhauses am
Kapellenplatz bedacht und beschlossen.
Die Kevelaerer Gesellschaft der 1930er-Jahre bot
denkbar „schlechte“ Voraussetzungen für die nach Macht und Einfluß
strebenden Nationalsozialisten. Bis 1932 bekam hier gegen die
katholische Zentrumspartei niemand ein Bein auf die Erde. Auch 1933
erlangte das Zentrum in den Kreisen Kleve und Geldern die absolute
Mehrheit. Es beherrschte die politische Szene, die sich aber - schwer zu
greifen und zu beeinflussen - eher in lockeren Verbänden wie
Nachbarschaften, Stammtischen oder Kegelclubs entwickelte. Eine klar
überschaubare Organisation, die einfach zu beobachten und schließlich
„auf einen Schlag“ zu vernichten wäre, bildeten die ungezählten
Zentrum-Anhänger nicht.
Beeinflusst wurde der politische Meinungsbildungsprozess durch das auf
die katholische Partei ausgerichtete „Kevelaerer Volksblatt“, das Kävels
Bläche, das noch 1933 - da hatte die NSDAP bei Kommunalwahlen immerhin
schon 31 Prozent der Stimmen erobert - in bemerkenswerter Deutlichkeit
gegen die Nazis anschrieb. Aber auch das Kävels Bläche wurde mit Druck
„angepasst“. Diese erzwungene Radikalisierung der Zeitung des Kevelaerer
Verlegers, der in der zweiten Generation das Verlags- und Druckhaus in
der Marienstadt führte, war die folgenschwerste Untat der Nazis in
Kevelaer und Umgebung der 1930er-Jahre. Auf diese Zäsur für die
Meinungsbildung der Kevelaerer Bürger ging Steinert in seinem Buch aber
kaum ein.
Sechs Jahre nach der Buchveröffentlichung begann das
Kevelaerer Blatt mit der Veröffentlichung seiner Serie „Kevelaer
1933-1948 - Kevelaers dunkle Jahre“, in der ich sämtliche verfügbaren
Dokumente und Veröffentlichungen zum Thema heranzog, verarbeitete und um
eigene Forschungen ergänzte. Vor allem war sie eine lückenlose
Chronologie aller Ereignisse von 1933 bis 1948 - eine Datenfülle, die
bei vergleichbarem Satz dreimal soviel Umfang hatte wie das
Steinert-Buch über einen sehr viel größeren Zeitraum.
Fakten waren also vorhanden. Vor allem wurden sie in einer Sprache
dargeboten, die Zugang zu den Kevelaerern fand. Der überwältigende
Zuspruch zu dieser zweijährigen Serie und dem anschließend erschienenen
Buch zeigte sich in vielen dankbaren Äußerungen. Die Leser stellten
immer wieder einen besonderen Punkt heraus, nämlich endlich einmal
erfahren zu haben, was in den Kriegsjahren, als die meisten Männer an
der Front waren, in der Heimat geschehen ist.
Das
Echo war überaus stark: Zu keiner Zeit in der langen Geschichte des
Kävels Bläche wurden mehr KB-Exemplare verkauft als während dieser
Periode. Die Serie, gedruckt auf 112 Zeitungsseiten im halben Format
(DIN A 4), wurde anschließend gebunden als Buch herausgegeben. Es war
nach wenigen Wochen vergriffen.
Martin Willing, Kevelaer
1933 - 1948 - Kevelaers dunkle 15 Jahre, erschienen 1995 im KB-Verlag.
Die Reaktionen auf die Serie waren bewegend. In Briefen, Anrufen und
Gesprächen unter vier Augen schilderten Kevelaerer ihre
Kriegserlebnisse. Sie erzählten von Gesprächen, die nun in ihren
Familien aufgekommen seien. Manche räumten ein, dass sie zum ersten Mal
seit dem Krieg über ihre persönlichen Erfahrungen vor Dritten sprachen.
Unter den Anrufern war ein alter Mann. Er sagte, dass er bis zum Beginn
der Serie nicht gewusst habe, wie das Leben während der „dunklen Jahre„
in seiner Heimatstadt Kevelaer abgelaufen sei. Nach seiner Rückkehr habe
niemand mehr über die vergangenen Schrecken sprechen wollen; heute seien
die Schilderungen in der Serie für ihn wie eine späte Befreiung.
Ich hatte jahrelang für diese Serie recherchiert und meterweise
Fachliteratur gelesen. Für die Sammlung und Auswertung des immer
umfangreicher werdenden Materials programmierte ich mit Hilfe einer
Datenbank ein digitales Archiv, aus dem schließlich mein Kevelaer-Archiv
entstand, das heute so umfangreich ist wie kein zweites.
In den folgenden Jahren stieß ich auf so viele neue, noch nicht
veröffentlichte Informationen aus jener Zeit, dass ich dem Stoff ein
zweites Mal eine große Arbeit widmen wollte. Im März 2003, fast zehn
Jahre nach dem Start der ersten Serie, begann ich im Kevelaerer Blatt
mit dem Werk „Kevelaers dunkle Jahre“, das von der ersten bis zur
letzten Zeile neu geschrieben war. Nach 142 Teilen endete die zweite
Serie im Dezember 2005.
Auch das zweite Werk „Kevelaers dunkle Jahre“ war so konzipiert, dass
die Leser über die lokalen Ereignisse hinaus stets auch den großen
historischen Kontext, in dem sie sich ereigneten, nachvollziehen
konnten. Mein Ziel war es, dass der Leser mit Hilfe von „Kevelaers
dunkle Jahre“ auch die größeren Zusammenhänge im nationalsozialistischen
Deutschland verstand.
Dass die Aufarbeitung der NS-Zeit noch lange nicht abgeschlossen ist,
erfuhren die Kevelaerer am 16. Mai 2003 aus dem Kävels Bläche: Ich
veröffentlichte den Bericht „Adolf Hitler - Ehrenbürger der Stadt
Kevelaer seit 1933 - Eine Aberkennung des Ehrenbürgerrechts hat nie
stattgefunden“. Nicht alle, aber viele Städte hatten 1933 Adolf Hitler
die Ehrenbürgerrechte verliehen. Dass Hitler auch in Kevelaer zum
Ehrenbürger ernannt worden war, hätte in dem Steinert-Buch „Kevelaer -
Eine niederrheinische Region zwischen Kaiserreich und Drittem Reich“
erstmals nach dem Krieg publiziert werden können. Aber dieser Teil des
Ratsbeschlusses vom 11. April 1933 war in dem 1988 von der Stadt
herausgegebenen Buch unterschlagen worden, wie ich nun belegen konnte.
Der vom Rathaus bezahlte Autor musste um die Ehrenbürgerschaft Hitlers
gewusst haben: Er verfügte über die entscheidende Quelle, nämlich die
Niederschrift der Sitzung vom 11. April 1933; außerdem bezog sich der
Wissenschaftler auf einen Artikel des Kävels Bläche vom 14. April 1933,
in dem über die einstimmig beschlossene Verleihung der Ehrenbürgerrechte
an Hindenburg und Hitler dezidiert berichtet wurde. Steinert zitierte
einiges aus diesem KB-Bericht, aber nicht den Passus mit der
Ehrenbürgerschaft - eine schwerwiegende Weglassung, von wem auch immer
verursacht oder veranlasst.
Ausdrücklich hatte der Stadtrat wissenschaftlichen Anspruch an das
Buchprojekt reklamiert - und führte ihn gleichzeitig ad absurdum, indem
er ein Redaktionsgremium Einfluss auf Struktur und Inhalt des
Historiker-Werks hatte nehmen lassen. So verschenkte Kevelaer die
Chance, noch vor der etwa 1990 einsetzenden Welle von Ratsbeschlüssen in
deutschen Rathäusern, Hitler die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen, tätig
zu werden. Kevelaer hätte sich dann im Vergleich zu anderen Städten
„früh“ distanziert, nachdem es 1933 eine der ersten Gemeinden gewesen
war, die Hindenburg und Hitler mit dem Ehrenbürgerrecht ausstatteten.
Eine Ehrenbürgerschaft erledigt sich nicht mit dem Tod des Inhabers von
selbst. Der Verleihung liegt immer ein förmlicher Beschluss zu Grunde,
der ebenso wie die Ehrenbürgerliste eine historische Tatsache bleibt,
die sich auch nach dem Tod des Ehrenbürgers einer kulturhistorischen
Würdigung nicht einfach entziehen kann. Weil mit dem Tod keineswegs
„alles erledigt“ ist, gibt es in mancher kommunalen Satzung Richtlinien,
die regeln, in welchen Fällen das Ehrenbürgerrecht aberkannt werden
kann. Gehandelt hatten zum Zeitpunkt meiner Veröffentlichung der
Hitler-Ehrenbürgerschaft u.a. Berlin, Bitterfeld, Hamburg und
Braunschweig: Sie hatten Hitler die Ehrenbürgerschaft förmlich
aberkannt.
Die Nachricht von Hitlers Ehrenbürgerschaft war nach Erscheinen des
Kävels Bläche Stadtgespräch. „Das kann doch nicht wahr sein!“ - so
hörten wir immer wieder. Mir verschlug etwas anderes die Sprache:
Bürgermeister Heinz Paal hatte nach eigenen Angaben davon gewusst, es
aber nicht für wichtig genug gehalten, um tätig zu werden. Das machte
den historischen Fehlgriff von 1933 im Nachhinein noch schlimmer.
Andere Politiker wussten davon nichts und reagierten betroffen.
• Norbert
Killewald (SPD): „Als ich im KB von der Ehrenbürgerwürde für Hitler las,
war ich schockiert. 58 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs -
und immer noch Ehrenbürger, das ist eine Schande; die Ehrenbürgerschaft
muss schleunigst aberkannt werden!“ Er plädiere dafür, weder in eine
Diskussion einzusteigen, noch spitzfindige Rechtsfragen zu debattieren,
die doch nur vom Thema ablenkten und in Dutzenden Kommunen längst
durchgekaut seien. „Es kommt jetzt darauf an, ein klares, politisches
Signal zu setzen und zu sagen: Weg mit der Ehrenbürgerschaft!“
• CDU-Fraktionschef Franz Wustmans sagte: „Für mich ist der Sachverhalt
vollkommen neu.“ Er habe noch keine Vorstellung, wie man das faktisch
aus der Welt schaffen könne. Dass es aus der Welt müsse, sei
unzweifelhaft. Der Gedanke, dass Bürger, die im Inneren „braun“
geblieben seien, eine Ehrenbürgerschaft für Hitler missbrauchen könnten,
sei ihm unerträglich: „Den Ewiggestrigen dürfen wir keine Plattform
bieten!“
• Heinz-Josef van Aaken (KBV) meinte: „Wenn Sie nicht über die
Ehrenbürgerschaft berichtet hätten, hätte keiner danach gefragt. Ich
hätte es besser gefunden, wenn Sie nichts geschrieben hätten.“ -
„Warum?“ - „Da kommen jetzt Dinge in die Welt, mit denen die
Gesellschaft längst ihren Frieden geschlossen hat. Ich persönlich würde
auch keinen Antrag einbringen, die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen.“
•
Karl-Heinz Kandolf (Bündnis-Grüne) sagte: „Ich war völlig überrascht von
der Nachricht. Die Ehrenbürgerschaft war mir gänzlich unbekannt. Es ist
klar, dass das keinen Bestand haben darf.“ Das müsse unabhängig von
rechtlichen Fragen rückgängig gemacht werden. Es gehe um ein eindeutiges
politisches Signal.
• Klaus Sadowski, Sprecher der FDP-Fraktion, sagte:
„Für mich stellt sich die Frage, ob die Informationen zur
Ehrenbürgerschaft von Hitler im von der Stadt bezahlten Steinert-Buch
absichtlich ausgelassen worden ist. Das wäre starker Tobak.“ Er plädiere
dafür, Hitler die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen: „Eine Begründung
erübrigt sich“. Einen entsprechenden Antrag habe er bereits gestellt.
Bürgermeister Paal hielt dagegen: „Die Ehrenbürgerschaft erlischt mit
dem Tod.“ Darum seien die KB-Berichterstattung und eine Aberkennung der
Ehrenbürgerschaft für ihn eigentlich kein Thema. Er arbeite aber daran,
die Sache im kommenden Hauptausschuss mittels „der Formulierung
abzuschließen, dass sich die Stadt davon distanziert. Ich habe die
Hoffnung, dass es keine große Debatte gibt, damit das möglichst schnell
vom Tisch kommt“. Einen Ratsbeschluss oder eine Resolution brauche man
nicht, da nichts rückgängig zu machen sei: „Mit dem Ableben sind die
Ehrenbürgerrechte weg. Das hat eine gewisse Logik.“ Und: „Als Ende der
90er-Jahre eine regelrechte Welle durch die Republik ging und Dutzende
von Gemeinden diese Fälle aufgerollt haben, da haben wir das auch für
Kevelaer prüfen lassen.“
Das KB hakte nach:
KB
„Sie wussten, dass Hitler zum Ehrenbürger ernannt worden ist?“
PAAL
„Ja, aber wir hatten keine Veranlassung, uns weiter mit dem Thema zu
beschäftigen. Nach meiner Aufassung war Adolf Hitler ja kein Ehrenbürger
mehr.“
KB
„War das Thema bekannt, als Steinert Mitte der 80er-Jahre sein Buch
schrieb?“
PAAL
„Meines Wissens nicht. Warum hätten wir die Information weglassen
sollen?“
KB
„Und warum ist das Thema Ehrenbürgerschaft für Adolf Hitler dann Ende
der 90er-Jahre ‘weggelassen’ worden?“
PAAL
„Es wurde so entschieden.“
KB
„Wer hat das entschieden? Der Rat oder ein anderes Gremium?“
PAAL
„Das wurde intern entschieden.“
KB
„Verwaltungsintern?“
PAAL
„Ja.“
Hitlers Macht lebte davon, dass er Informationswege systematisch
zerstörte. Um so dringlicher, selbstverständlicher hätte es für
Kevelaers Bürgermeister sein müssen, gerade zu diesem faschistischen
Verbrecher alle Informationswege zu öffnen. Es wäre ein Signal
demokratischer Sensibilität gewesen.
Das erste Nachspiel fand am 27. Mai 2003 in der Sitzung des Haupt- und
Finanzausschusses statt. Die Niederschrift notierte:
►
„Die FDP-Fraktion hat mit Schreiben vom 17.05.2003 zu dem Bericht im
‚Kevelaerer Blatt‘ vom 16.05.2003 betr. Ernennung von Adolf Hitler zum
Ehrenbürger der Gemeinde Kevelaer im Jahre 1933 die nachstehenden Fragen
gestellt, die wie folgt beantwortet werden:
1. Gibt es seitens der Verwaltung Erkenntnisse, dass dies so stimmt und
wann erfolgte ggf. die Ernennung?
Antwort: Der Rat der Gemeinde Kevelaer
hat in seiner Sitzung am 11.04.1933 beschlossen, Adolf Hitler das
Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Aus der Niederschrift über diese Sitzung
ergibt sich, dass der Beschluss Adolf Hitler sofort telegrafisch
mitgeteilt worden ist.
2. Ist die heutige Stadt Kevelaer (Stadtrechte seit 1949)
Rechtsnachfolgerin der früheren Gemeinde Kevelaer und ist diese Person
dadurch auch Ehrenbürger unserer Stadt geworden?
Antwort: Die heutige
Stadt Kevelaer ist Rechtsnachfolgerin der früheren Stadt Kevelaer. Eine
rechtliche Prüfung, ob Adolf Hitler dadurch Ehrenbürger der ‚neuen‘
Stadt Kevelaer geworden ist, dürfte sich im Hinblick auf die Antwort zur
Frage 3 erübrigen.
3. Erlöscht das Ehrenbürgerrecht automatisch durch Ableben der geehrten
Person oder bedarf es zur Aberkennung eines förmlichen Beschlusses?
Antwort: Da das Ehrenbürgerrecht mit dem Tode des Ehrenbürgers erlischt,
ist eine Entziehung des Ehrenbürgerrechts nur so lange möglich, wie der
Betreffende lebt (vgl. Kommentar Rehn/ Cronauge/von Lennep) zu § 34
Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen). Im Übrigen nimmt die
Stadt Kevelaer die in Teilen der Öffentlichkeit zu diesem Thema geführte
Diskussion zum Anlass, sich von der durch die Gemeinde Kevelaer im Jahre
1933 ausgesprochene Ehrung des Adolf Hitler ausdrücklich zu
distanzieren.“
Sigrid Ehrentraut (SPD) vertrat in der Sitzung die Auffassung, dass die
Ausführungen der Verwaltung nicht weitreichend genug seien. Eine
Distanzierung reiche nicht aus, da es sich 1933 um einen Ratsbeschluss
gehandelt habe. Dieser Beschluss solle aufgehoben werden. Als Zeichen
des Rates der Stadt Kevelaer sei das erforderlich.
Franz Wustmans (CDU) betrachtete es als unvernünftig, lange Diskussionen
zu dem Thema zu führen. Die Ausführungen der Verwaltung seien juristisch
abgesichert. Er empfehle, dem Rat die Gelegenheit zu geben, sich zu
äußern. Mehr als sich zu distanzieren, könne man nicht tun. Es mache
keinen Sinn, etwas, das mit dem Tod beendet sei, aufzuheben. Wustmans
stellte den Antrag, der Rat solle sich von dem Beschluss des Rates der
Gemeinde Kevelaer im Jahre 1933 über die Verleihung des
Ehrenbürgerrechts an Adolf Hitler distanzieren. Alle stimmten zu.
Am 11. Juni 2003 tagte dann der Stadtrat, der auf Antrag von Sigrid
Ehrentraut dann doch noch für klare Verhältnisse sorgte: Da ihm eine
Distanzierung nicht weitreichend genug war, hob der Stadtrat einstimmig
den Ratsbeschluss von 1933 auf. Damit war Hitler die Ehrenbürgerschaft
aberkannt, sein Name aus der Liste der Ehrenbürger getilgt.
►
Kevelaer und die Reichspogromnacht
►
Kevelaer und die Judenverfolgung