Pogromnacht
9./10. November 1938
►
Vernichtung der Synagogen | Radikalisierung der Menschen
Es
war die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, vom 9. zum 10.
November 1938. Das erste reichsweite Verbrechen gegen Leib und Leben,
Eigentum und wirtschaftliche Existenz Hunderttausender Menschen, gegen
ihre Gotteshäuser und Versammlungsstätten wurde von den Nazis zynisch
„Reichskristallnacht“ genannt. Auch die Synagogen in Geldern, Alpen,
Goch und Kleve wurden niedergebrannt.
Der Judenstern war bereits
ab September 1939 im besetzten Polen eingeführt. Ab dem 1. September
1941 wurden auch die Juden im Deutschen Reich stigmatisiert.
Im Kreis Geldern waren 1938 nur
zwölf jüdische Familien ansässig. Am 10. November 1938, dem Tag nach
der Reichspogromnacht, in der Gelderns Synogoge von SS-Leuten
niedergebrannt wurde, ließ der SS-Sturm 10/25 bis 11 Uhr die männlichen
Juden in Geldern und Umgegend im Alter von 15 bis 70 Jahren durch die
Polizei verhaften und in örtlichen Arrestlokalen vorläufig unterbringen.
Am Tag darauf beteiligten sich Angehörige des SS-Sturms daran, die
Häuser und Wohnungen der zwölf jüdischen Familien zu durchsuchen.
„Es wurden weder Waffen noch anderes Material gefunden“, berichtete der
Führer des SS-Sturms 10/25, ein SS-Obersturmführer, an den SS-Sturmbann
III/25. „Die Bevölkerung verhielt sich den Demonstrationen gegenüber
passiv. Der Brand der Synagoge hatte eine größere Zuschauermenge
angelockt, die diesem Schauspiel zusah. Da größere Geschäfte nicht
vorhanden waren, ist es nicht zu Plünderungen gekommen. Ein
Streifendienst zusammen mit der Polizei war deshalb nicht notwendig.“
In vielen Städten Deutschlands sah es schrecklich anders aus. Der blanke
Terror, angezettelt durch organisierte Nazis, war im gesamten Reich
ausgebrochen und steckte unzählige Menschen an, die sich an den
unglaublichen Exzessen gegen ihre jüdischen Mitbürger nur allzu gerne
beteiligten und selbst zu Tätern wurden. Wäre da nicht die alles
überschattende „Endlösung“ in den Konzentrationslagern, deren Dimension
die Vorstellungskraft übersteigt, dann könnte man den Pogrom vom
November 1938 das wohl schändlichste Massenverbrechen einer von
Unmenschlichkeit, Egoismus und Neid befallenen Gesellschaft in
Deutschland nennen.
Der Gnade der Zufälligkeit in der Stadtentwicklung hat
Kevelaer seine Bevorzugung zu verdanken, dass hier kein Anlass und keine
Möglichkeit bestanden, es „den anderen“ am 9. November 1938 gleich zu
tun: In Kevelaer wohnten keine Juden.
Aus der Wallfahrtsstadt ist in der Tat kein einziger „Zwischenfall“ in
der berüchtigten „Reichskristallnacht“ überliefert. Der Pogrom spielt in
der von der Stadt Kevelaer in Auftrag gegebenen Erforschung der
örtlichen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich - das Buch
erschien 1988 - in Ermangelung ortsbezogener Dokumente nicht einmal eine
Nebenrolle.
Auch das eben in Auszügen zitierte, entlarvende Schreiben des
SS-Obersturmführers, aus dem eindeutig hervorgeht, dass nicht
„aufgebrachte Bürger“, sondern SS-Leute die Gelderner Synagoge
niedergebrannt haben, wird in dem Kevelaer-Buch nicht erwähnt, obwohl
der Synagogenbrand in Geldern (und Goch) zur gemeinsamen Geschichte
zählt.
In dem Buch kommt außerdem zu kurz, dass der Marienwallfahrtsort, anders
als viele auswechselbare Kleinstädte und trotz des auch hier
nachzuweisenden Mitläufertums, in den „dunklen Jahren“ eine
Zufluchtstätte für viele Menschen im weiten Umkreis war. Zwar bestand
kaum ein Unterschied zu anderen Gemeinden dieser Größenordnung darin,
wie sich auf der politischen und administrativen Ebene der braune Mief
ausbreitete und die „kleinstädtische Machtergreifung“ in den Rathäusern
zuweilen sogar komische Züge annahm.
Aber als religiöses Zentrum für einen großen Einzugsbereich bot der
Marienwallfahrtsort in der NS-Zeit die Sicherheit einer letzten Insel.
Es waren regelrechte Kampf-Andachten, zu denen jeden Abend auf dem
dunklen Kapellenplatz Menschen kamen, die einer waffenstarrenden Umwelt
den Rosenkranz entgegenhielten. Wenn wir darüber hinaus an die
ungezählten Kopien des Kevelaerer Gnadenbildes denken, die in den
Uniformen der Soldaten an allen Fronten steckten, dann ahnt man, was für
eine stille und wichtige Rolle Kevelaer in den dunklen Jahren spielte.
Nicht nur für die Einheimischen, sondern für die ganze katholische
Kirche in Deutschland wuchs unser Marienwallfahrtsort über die
Normalität weit hinaus, indem Clemens August von Galen für die
Zusammenkünfte von Bischöfen häufig das Priesterhaus wählte, wo sein
Freund und geistlicher Bruder
Wilhelm Holtmann Hausherr war. Hier in
Kevelaer wurde während des Dritten Reichs Kirchengeschichte geschrieben,
denn wie die Geistlichkeit auf das Vordringen des Nazitums reagieren
wollte, das wurde hinter den verschlossenen Türen des ältesten
Steinhauses am Kapellenplatz bedacht und beschlossen.
Die Kevelaerer Gesellschaft der 1930er-Jahre bot
denkbar „schlechte“ Voraussetzungen für die nach Macht und Einfluss
strebenden Nationalsozialisten. Bis 1932 bekam hier gegen die
katholische Zentrumspartei niemand ein Bein auf die Erde. Auch 1933
erlangte das Zentrum in den Kreisen Kleve und Geldern die absolute
Mehrheit. Es beherrschte die politische Szene, die sich aber - schwer zu
greifen und zu beeinflussen - eher in lockeren Verbänden wie
Nachbarschaften, Stammtischen oder Kegelclubs entwickelte. Eine klar
überschaubare Organisation, die einfach zu beobachten und schließlich
„auf einen Schlag“ zu vernichten wäre, bildeten die ungezählten
Zentrum-Anhänger nicht.
Beeinflusst wurde der politische Meinungsbildungsprozess durch das auf
die katholische Partei ausgerichtete „Kevelaerer Volksblatt“, das noch
1933 - da hatte die NSDAP bei Kommunalwahlen immerhin schon 31 Prozent
der Stimmen erobert - in bemerkenswerter Deutlichkeit gegen die Nazis
anschrieb. Diese Zeitung war 1879 als Organ „für Thron und Altar“ und
damit als Kampfblatt des katholischen Kevelaer ins Leben gerufen worden
und stemmte sich wie zahlreiche andere, meist früher gegründete
Zeitungen gegen den Druck des Preußenstaates im ausgehenden Kulturkampf.
Das geschah keineswegs nur auf lokaler Ebene, wie der Zeitungstitel
vermuten lassen könnte.
Als in der Ausgabe vom 15. November 1938 den Lesern des „Kevelaerer
Volksblatts“ die üble Schlagzeile „Deutschland und die Judenfrage“
entgegensprang, war Verleger Jakob Köster bereits "entmachtet". Die
Schriftleitung lag nun in den Händen der NSDAP. In dem Artikel standen
die gleichen bösartigen Verleumdungen gegen jüdische Menschen wie in den
meisten Zeitungen, die inzwischen von der NSDAP „angepasst“ worden
waren.
Diese erzwungene Radikalisierung der Zeitung des Kevelaerer Verlegers,
der in der zweiten Generation das Verlags- und Druckhaus in der
Marienstadt führte, war die folgenschwerste Untat der Nazis in Kevelaer
und Umgebung der 1930er-Jahre.
Im Jahr der Reichspogromnacht gab es in Kevelaer weitere andere Opfer.
Neben dem in Winnekendonk arbeitenden Amtsbürgermeister
Karl Heinrich Janssen wurde
sein Kollege in Kevelaer,
Bernhard Widmann, aus dem Amt getrieben. Die NSDAP-Fraktion im
Kevelaerer Stadtrat sammelte gegen Widmann „belastendes Material“ und
schaltete „ihre“ Regierung in Düsseldorf ein. Die legte dem
Bürgermeister „nahe“, sich beurlauben zu lassen.
In Winnekendonk wurde Janssen kurzerhand zwangspensioniert - ebenfalls
mit an den Haaren herbeigezogenen Begründungen. Für Widmann übernahm
kommissarisch dessen Aufgaben der NSDAP-Chef, womit der erste Schritt
zur „Machtübernahme“ in Kevelaer - mit einiger Verspätung gegenüber
anderen Regionen - getan war. An Karl Heinrich Janssen als Opfer der
Nazi-Willkür erinnert inzwischen eine Gedenkplakette in Winnekendonk,
wofür einer Privatinitiative zu danken ist.
An der Klimavergiftung der 1930er-Jahre beteiligte sich auch der
Schriftleiter des
Geldrischen Heimatkalenders, Lothar Werner.
Er besaß bereits die angepasste Sprache, freilich ohne die Befähigung
zum richtigen Deutsch:
► „Die Macht Judas ist im Wanken, aber
um so verzweifelter sucht er es noch einmal in seinem Interesse die
Völker gegeneinander aufzuputschen. Das neue Jahr [gemeint ist 1939]
wird dieses Treiben in aller Stärke widerspiegeln, bis allenthalben
einsichtige Staatsmänner und Volksführer sich zusammentun und ungeachtet
des jüdischen Geschreis und bolschewistischer Haßausbrüche den Weg
zueinander finden und damit dem wahren Frieden der Völker dienen, wozu
das Großdeutsche Reich Adolf Hitlers wie stets seine Hand bieten wird.“
(Geldrischer Heimatkalender 1939, S. 36)
Während jedermann im Gelderland dieses tumbe Elaborat lesen konnte,
musste die Presse, auch das „Kevelaerer Volksblatt“, die Nachricht von
der Wahl des Kevelaerer Pastors Wilhelm Holtmann zum Bischof von Aachen
und seiner Ablehnung durch die Regierung unterdrücken. Ab 1938
funktionierte auch in Kevelaer die Übermittlung von Informationen ohne
„braunen Segen“ nur von Mund zu Mund.
Was sich während des ersten großen Pogroms gegen die Juden im November
1938 entlud, dieser Hass auf Fremdländisches und vor allem Jüdisches,
konnte im Kreis Geldern in keinem direkten Zusammenhang mit
tatsächlichem Einfluss von Juden stehen; der war - zwölf Familien,
wenige jüdische Geschäfte, ein Warenhaus in Geldern - geradezu
unbedeutend. Ein unmittelbar gelebtes und wie auch immer begründetes
Hassverhältnis zu Juden hätte sich hier nicht aufbauen können.
Dass die Brandschatzung der Gelderner Synagoge zweifelsfrei eine
geplante Tat von SS-Leuten und keine Reaktion „aufgebrachter Bürger“
war, machte sie zwar nicht weniger verwerflich, und auch das tatenlose
Zuschauen herbeigeeilter Menschen kann heute noch bedrücken; aber der
Fall kennzeichnet nicht das Denken und Fühlen der Bürger dieses
Landstrichs im ausgehenden dritten Jahrzehnt.
Es muss die Leser des „Kevelaerer Volksblatts“, die bis in die zeitliche
Nähe zur „Reichskristallnacht“ einen kämpferisch gegen
nationalsozialistische Tendenzen anschreibenden Zeitungsverleger gewohnt
waren, wie ein Hammerschlag getroffen haben, als plötzlich, etwa ab
Spätsommer 1938, auch in ihrer Zeitung NS-Parolen der übelsten Sorte
verbreitet wurden. Natürlich sprach sich bei interessierten Kevelaerern
herum, dass Köster die Schriftleitung entzogen worden war, aber die
Nichteingeweihten, und das dürften die meisten Leser gewesen sein,
erfuhren für den radikalen Umschwung keine weitere Erklärung. Er hatte
„einfach stattgefunden“, so wie so vieles in jener Zeit „einfach
eintrat“ wie ein angeblich nicht zu änderndes Schicksal.
Dass es nur dann nicht zu ändern ist, wenn ihm zugeschaut statt
widersprochen wird, ist eine der Lehren aus dem 9./10. November 1938
►
Kevelaer und
die Judenverfolgung
►
Kevelaer und die NS-Zeit