März 1952
Westberlin ist eine Insel. Sie liegt mitten im Ostblock und gehört nicht
zur Bundesrepublik. Die Berliner erfahren hautnah, was der Kalte Krieg
bedeutet, der sich zwischen Ost und West aufschaukelt. Es sind nicht nur
Nadelstiche wie jener am 4. März, als die Behörden der sowjetisch
besetzten Zone die Stromlieferung nach Westberlin einstellen.
Tief im Westen, so in Kevelaer, bekommt man von dem Geschachere auf der
politischen Bühne um gesamtdeutsche Wahlen und einen Friedensvertrag
kaum etwas mit. Die scheinbare Chance einer frühen Wiedervereinigung
Deutschlands hat einen sehr hohen Preis: Stalin, der den Westmächten und
dem deutschen Kanzler am 10. März einen gesamtdeutschen Friedensvertrag
vorschlägt, verlangt dafür den Abzug aller ausländischen Truppen und die
Neutralisierung Deutschlands. Nicht nur die Bonner Regierung, auch die
Westmächte lehnen das durchsichtige Angebot ab.
Statt dass ausländische Truppen abziehen, kommen weitere: Am
Niederrhein, auf einem rund 650 Hektar großen Areal bei Weeze, soll ein
militärischer Flughafen der Nato angelegt werden. Dagegen wehren sich
der Kreis Geldern und die unmittelbar betroffene Gemeinde Weeze, aber
letztendlich müssen sie die Verfügung der Regierung vom 1. März
hinnehmen. Der Bau eines Nato-Flughafens auf Laarbruch ist nicht
aufzuhalten.
An der Hauptstraße Kevelaers verwindet Ende März die letzte Hausruine -
das einzige noch verbliebene Zeichen des Bombenkriegs. Es geht um das
Haus Nr. 49, dessen Steine vorsichtig in Handarbeit - mit Hammer und
Meißel - abgetragen werden, weil Gefahr besteht, dass die Mauern
zusammenfallen. Über eine Feuerwehrleiter klettert ein Arbeiter auf die
wackelige Ruine und trägt sie Stein für Stein ab. Derweil hält die
Polizei Passanten und Schaulustige von der Gefahrenstelle fern.
Am Sonntag, 30. März, erlebt Kevelaer eine Premiere: Es wird zum ersten
Mal in der Wallfahrtsstadt Konfirmation gefeiert. Sieben Mädchen und
sieben Jungen der evangelischen Gemeinde werden konfirmiert.
April 1952
Hermann Toonen
(* 1937, † 1998) beginnt am 1. April seine Maurerlehre bei der
Bauunternehmung Paul Tebartz. Länger als 40 Jahre wird er in diesem
Betrieb arbeiten und 1989 für die St.-Antonius-Gilde die Festkette
tragen.
Am 3. April stirbt Rektor i. R. Franz Bourgeois. Er war 1913 nach
Kevelaer gekommen. 37 Jahre arbeitete er an der Marktschule und war
zusätzlich an der gewerblichen und ländlichen Berufsschule tätig. Franz
Bourgeois hatte das Glück, nicht eingezogen zu werden, so dass er
während der gesamten Kriegszeit Schule und Schüler betreuen konnte.
Unmittelbar nach der Befreiung leistete Bourgeois erste Aufbauarbeiten
an der schwer beschädigten Schule. 1947 wurde er zum Rektor der
Knabenschule I ernannt. 1950 trat er in den Ruhestand. Er war zuletzt
damit beschäftigt, die im Krieg verlorenen Schulchroniken neu
zusammenzustellen, bis ihn „eine heimtückische Krankheit ans Bett
fesselte“, wie es in einem Zeitungsbericht heißt. Franz Bourgeois wird
nur 67 Jahre alt und hinterlässt Frau und Kinder.
Vor geladenen Gästen wird im Filmhof der von der Stadt in Auftrag
gegebene Film „Kevelaer - Stadt des Trostes“ uraufgeführt. Man spricht
von einer „Meisterleistung“. Der Streifen stellt Gewerbe und
Kunsthandwerk in Kevelaer vor und schildert einen typischen Pilgertag.
Peter Girmes eröffnet - ebenfalls Anfang des Monats - sein
Lebensmittelgeschäft an der Amsterdamer Str. 33. Und am 8. April sichert
der Zimmererbetrieb van Aaken, eines der ältesten Unternehmungen, seine
Zukunft: Heinz-Josef van Aaken, der heutige Chef des Betriebs, erblickt
das Licht der Welt.
Karl van Betteraey (* 1886, † 1976), seit 42 Jahren engagiert in der
Feuerwehr Kevelaer, wird als Hauptbrandmeister in den Ruhestand
verabschiedet. 28 Jahre lang hat er die Freiwillige Feuerwehr in
Kevelaer geleitet. Zu seinem Nachfolger wählen die Wehrmänner einstimmig
Stellvertreter
Peter Plümpe. Später wird der Sohn des Hauptbrandmeisters,
Karl van
Betteraey (* 1921, † 1998), dieses Amt übernehmen.
Mitte April wird Richtfest der neuen St.-Antonius-Pfarrkirche gefeiert.
Franz Dickmanns von der Zimmerei van Aaken verkündet den Richtspruch.
Hunderte von Bürgern wohnen dem Festakt bei. Für die beteiligten
Handwerker gibt es im Fahnensaal des Priesterhauses einen Imbiss. Schon
Ende Juni soll der erste Gottesdienst in der neuen Kirche gefeiert
werden.
Während des Richtfests erregt Johannes Kamps von der Nachbarschaft
Alt Derp mit einer Klage Aufmerksamkeit: Es sei doch traurig, dass
bei Beerdigungen keine Glocke mehr läute; ‚St. Antonius‘ brauche
dringend eine Glocke. Da macht
Heinrich
Maria Janssen einen überraschenden Vorschlag: Die Nachbarschaft soll
sich doch einfach eine Glocke aus dem Turm der Basilika besorgen…
Natürlich hat der Dechant eine bestimmte Glocke im Auge - jene kleine
von 1432 aus der St.-Hubertus-Kapelle, die 1472 in die damals
fertiggestellte St.-Antonius-Kirche wechselte. Die Glocke hing dort im
kleinen Turm bis zum Neubau im Jahr 1903. Später wanderte sie in den
großen Turm, wo sie bis Kriegsende blieb. 1945 wurde das vier Zentner
schwere Geläut in den Basilikaturm gebracht.
Dort musste die Glocke später verstummen, weil ihr Klang nicht zum neuen
Geläut der Basilika passen wollte.
Um diese Glocke geht es also, als Dechant Janssen die Nachbarschaft
Alt Derp ermuntert, das „Glöckchen“ heimzuholen.
Das lässt sich die Nachbarschaft Alt Derp nicht zweimal sagen. Starke
Männer klettern in den Basilikaturm und hieven das Klöckske bis in den
Innenhof der Basilika. Dort bleibt es zunächst, um am 1. Mai in einem
festlichen Zug aus seiner Evakuierung heimgeführt zu werden.
Die alte Glocke soll vorerst provisorisch vor der Pfarrkirche, also am
Außenmauerwerk, so tief aufgehängt werden, dass jeder sie mit einem
bereit liegenden Hammer zum Klingen bringen kann. Wer schlägt, zahlt ein
paar Münzen für den Wiederaufbau der Pfarrkirche. „Hoffen wir, daß das
Glöckchen recht oft klingt“, schreibt das Kävels Bläche. „Es klingt für
seine Heimat und für das Vaterhaus der Pfarrfamilie Kevelaer.“
Am 25. April wächst die Familie auf dem Bauernhof von Theo Leuker an der
Walbecker Straße: Christel Leuker wird geboren. Sie wird später mit
ihrem Mann Theo Janßen ein Fleischerfachgeschäft an der Biegstraße
führen und eine zeitlich kurz bemessene, aber wichtige Rolle in der
Kevelaerer Kommunalpolitik spielen.
Ende April wird - mal wieder - über das Schicksal der
Badeanstalt
debattiert. Die Kevelaerer wollen das schwer in Mitleidenschaft gezogene
Freibad, den früheren Tummelplatz für Jung und Alt, nicht aufgeben. Zwar
hat Schwimmmeister
Michael Gey sein Bestes getan, um das Freibad immerhin benutzbar zu
machen, und die Besucher können sich wenigstens in Notkabinen umkleiden;
aber „selbst das schönste Badewetter kann nicht darüber wegtäuschen, daß
vieles mangelt und fehlt“, schreibt das KB.
Die Stadtvertretung hat zugestimmt, 20 neue Umkleidekabinen aufstellen
zu lassen, aber bis zur Saisoneröffnung werden die Zellen nicht stehen.
Von „vernünftigen Umkleidemöglichkeiten“ verspricht sich die Stadt
wieder mehr Besucher - vielleicht sogar 50.000, wie sie vor dem Krieg
pro Saison gezählt wurden.
Jetzt soll das Becken erst einmal entschlammt werden. Tagelang arbeiten
die Pumpen, bis Aalfänger einsteigen können. Sie versinken bis zu den
Knien im Morast. Sie fangen teils armdicke, ein Meter lange Aale. Es ist
die erste große Säuberungsaktion der Badeanstalt seit ihrem Bau im Jahr
1928.
Ende
April konsekriert Weihbischof Heinrich Baaken die neue Achterhoeker
St.-Josef-Kapelle. Das kleine Gotteshaus war zwar nach dem ersten
Spatenstich Anfang 1949 zügig errichtet und 1949 von Pfarrer Joseph
Reiners geweiht worden, aber erst jetzt kann ein Bischof die
Amtshandlung vornehmen.
Josef-Kapelle in Achterhoek.
Diese Kapelle „führt Menschen in besonderer Weise zusammen und hält sie
zusammen“, wird 50 Jahre danach zum Goldenen Kirchweihfest Weihbischof
Heinrich Janssen während eines Pontifikalamts sagen und die Achterhoeker
ermutigen, an ihrer Gemeinschaft festzuhalten: „Glaube lebt aus der
unmittelbaren Beziehung zu Eltern, Verwandten, Nachbarn und Freunden.“
Die Achterhoeker Kapelle soll das geistliche Zuhause für viele Gläubige
werden, deren bevorzugte Kirchen in Winnekendonk, Kapellen und Sonsbeck
zerstört sind. Die Bürger haben für den Kirchbau weder finanzielle
Opfer, noch Arbeitsdienste gescheut. 35.000 Mark sind durch Spenden und
Sammlungen erwirtschaftet worden, und den Bau selbst haben die Bürger in
Eigenleistung errichtet, geschickt organisiert durch Lehrer Josef
Kiefmann sowie die Kirchenvorsteher Gerhard Stenmans und Jakob Boll. Am
Ende hat jeder Bürger auf seine Weise an diesem Gotteshaus mitgebaut.
Das Werk gelingt ohne Zuschüsse des Bistums, aber mit dem Segen der
Kirchenleitung. Nun ist der Tag der Kirchweihe da - ein Tag der Freude.
Mai 1952
Tausende Schützen ziehen in Kevelaer ein. Zum ersten Mal nach dem Krieg
feiern die Mitglieder der historischen Bruderschaften einen
Bekenntnistag der Schützen aus den Dekanaten Kevelaer und Geldern sowie
aus dem Ortsbund Straelen. Der Tag beginnt mit einem Pontifikalamt in
der Basilika. Von dort marschiert ein nicht enden wollender Zug von
Schützen zum Marienpark.
Premiere auch bei der St.-Sebastianus-Bruderschaft: Als am 10. Mai im
Vorfeld des Königsschießens König
Johann Willems
an seinem Haus abgeholt wird, zeigen die Sebastianer zum erstenmal
öffentlich ein Fahnenschwenken. Neuer König der Seb wird übrigens Hubert
Schülter.
In Wetten läuft die Schnapsbrennerei von Lambert Deselaers (Maashof)
wieder an. Er inseriert Ende Mai im Kävels Bläche: „Den seit jeher
bekannt guten Moosbur-Korn kann ich Ihnen nach Inbetriebnahme meiner
Brennerei wieder empfehlen.“
Auch schlichtes Trinkwasser ist kostbar. In Kevelaer wird wiederholt das
Wassernetz abgesperrt. Der Redakteur des KB besucht deshalb Ende Mai die
Pumpstation, interviewt Rohrmeister Sürgers und fragt nach dem Grund.
„Wenn jeder vernünftig wäre und sparsam mit dem Wasser umgehen würde,
wären Absperrungen nicht nötig“, sagt der Rohrmeister.
Ursache für den Wassermangel sei vor allem die Trockenheit. Der Brunnen
gebe nicht so viel her wie nötig und außerdem werde viel mehr verbraucht
als früher. Die beiden alten Pumpen arbeiten pausenlos, aber mehr als
zusammen etwa 100 Kubikmeter Wasser in der Stunde schaffen sie nicht.
Was durch das 16 Kilometer lange Rohrnetz fließt, schmeckt und riecht
nicht gut: Das Trinkwasser muss auf Anordnung der Besatzungsbehörden
gechlort werden.
Demnächst soll eine neue Anlage mit zwei leistungsfähigen Pumpen gebaut
werden, erfährt das KB. Zusätzlich werde bald ein zweiter Brunnen
gebohrt.
Kapitel 21 von 115
- wird fortgesetzt - |