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Kevelaer - Nur ein Erscheinungsort zweiter Klasse?

1641/42 Ursprungsmirakel von Kevelaer:
Hörwunder (Audition des Hendrik Busmann)
Lichterscheinung (Vision der Mechel Schrouse, Busmanns Frau)
Aber keine Marienerscheinung  

Gnadenbild KevelaerDarüber wundern sich offenbar einige Journalisten, die heute über Kevelaer und den Ursprung des Marienwallfahrtsorts schreiben: Es könne doch nicht sein, dass eine so bekannte Gnadenstätte wie der größte Wallfahrtsort im nordwestlichen Europas "ohne eine richtige Marienerscheinung" entstanden sei.

Das Gnadenbild von Kevelaer.

So nehmen sie dankbar zur Kenntnis, was sich hartnäckig in den Archiven zum Beispiel der evangelischen und katholischen Nachrichtenagenturen epd und KNA hält - eine Falschinformation, die nun schon wieder (am 11. August 2013 im Zusammenhang mit einem Bericht über die Tamilenwallfahrt von Kevelaer) im weltweiten Internet-Netz verbreitet wurde, Zitat: "Kevelaer ist wegen Marienerscheinungen in den Jahren 1641/1642 Wallfahrtsort."

Aber das ist völlig falsch.

So falsch wie die Einschätzung, Kevelaer sei nur ein Marienwallfahrtsort "zweiter Klasse", weil hier im Ursprungsjahr 1642 keine Marienerscheinungen eingetreten seien.

In Wirklichkeit - das zeigt die Geschichte aller Wallfahrtsorte - hängen die Bedeutung sowie die Wirk- und Zugkräfte solcher Gnadenorte nicht vom Ursprungsmirakel ab. Es sind die Gläubigen, die durch ihre Taten und geistigen Zuwendungen letztlich über die Bedeutung "ihres" Wallfahrtsorts entscheiden. Und in manchen Zeiten brechen solche Bedürfnisse besonders stark hervor - wie im 19. Jahrhundert...

Das 19. Jahrhundert ist, aus Sicht von Marienverehrern, wie kein anderes von Marienvisionen (Marienerscheinungen) geprägt. Hierfür ist nicht die Anzahl der Visionen entscheidend: Für das 20. Jahrhundert werden ungleich mehr Ereignisse berichtet als für das 19. Jahrhundert (weltweit 427 zu 106); ausschlaggebend ist vielmehr ihre kirchliche Anerkennung.

Erscheinungsgrotte in LourdesNach den Visionen der stigmatisierten Mysterikerin Anna Katharina Emmerick (Dülmen, ab 1819) beginnt der Zyklus - der kirchlich anerkannten Erscheinungen - 1830 in Paris mit den Visionen der Cathérine Labouré. Seitdem wird auf der ganzen Welt eine kleine Medaille verbreitet, die Maria auf der Erdkugel als Überwinderin des Bösen zeigt.

Erscheinungsgrotte von Lourdes.

1846 berichten die Hirtenkinder Maximin Giraud und Mélanie Calvat von Marienerscheinungen in La Salette/Frankreich. 1858 ereignen sich die Erscheinungen von > Lourdes (Bernadette Soubirous). Wiederum in Frankreich - Pontmain - haben 1871 der Bauernjunge Eugen Berbedette (12) und sein Bruder (10) Marienvisionen. 1872 berichtet der Rechtsgelehrte Bartolo Longo in Valle di Pompei (Italien) von einer Marienerscheinung. 1877 haben die Kinder Justina Schaffrinski und Barbara Samulowski sowie zwei Erwachsene in > Dietrichswalde (Ermland, heute Polen) Marienvisionen. Für 1879 werden Erscheinungen in Cnoc Mhuire (Irland) berichtet.

Was bedeuten Marienerscheinungen und Privatoffenbarungen für die Gläubigen?

Heute diskutiert niemand mit Leidenschaft, ob das Kevelaerer Ursprungsmirakel wahr ist oder unwahr. Sein unspektakuläres Format im Vergleich zu einer Marienerscheinung provoziert den Widerspruch nicht. Auch potenzielle Ablehner lassen es gut sein und gestatten dem Kevelaer-Mirakel jene Unangreifbarkeit, die Erzählungen inne wohnt.
Nur eine einzige Streitschrift fand nennenswerten Bekanntheitsgrad, nämlich jene des kalvinistischen Predigers Bernhard Boomhof aus Sonsbeck, und die stammt von 1647:

Kefeler, das ist kurzer und notwendiger, schriftgemäßer Bericht von den Prozessionen und Miraculen zu Kefeler allen, so mutwillig nit wollen verführt und mit sehenden Augen blind seyn, zur treuherzigen Warnung gestellt.

Eine lebendige Streitkultur zum Mirakel von Kevelaer entwickelte sich vor allem deswegen nicht, weil der Fall bereits 1647 entschieden wurde - mit der kirchlichen Anerkennung auf der Synode zu Venlo. Dadurch besitzen das Stimmenwunder für > Hendrik Busmann (Hier sollst du mir ein Kapellchen bauen) und die nächtliche Erscheinung für seine Frau Mechel (ein Kapellchen mit dem späteren Gnadenbild von Kevelaer) schon länger als drei Jahrhunderte den Status von Glaubwürdigkeit.

Diese nachhaltige Bevorzugung Kevelaers gegenüber etlichen anderen Marienwallfahrtsorten kann einschläfern, so dass Fragen nicht gestellt werden, die bei Primärwundern wie einer Marienerscheinung in allen Generationen gegenwärtig bleiben. Denken wir an die Marienerscheinung von > Fatima (1917), die ebenfalls kirchlich approbiert und einschließlich des dritten Geheimnisses in allen Einzelheiten bekannt ist: Wer nach Fatima in Portugal pilgert, muss sich im Bekanntenkreis auf die Frage gefasst machen: „Glaubst du wirklich daran?“

Wer nach Kevelaer pilgert, wird heute so nicht gefragt.

Dabei ist Kevelaer qualitativ nicht flacher oder anders, sondern nur anstrengender als Fatima oder Lourdes: Hier tritt nämlich für die Menschen unserer Zeit nicht mehr offenherzig zu Tage, dass sich auch über unseren Ort „der Himmel aufgetan hat“, wie es ein Priester ausdrückte, als er eine Marienerscheinung umschrieb.

Allerdings fällt die kurze Botschaft der Gottesmutter, nämlich eine kleine Kapelle zu bauen, hinter den anhaltenden, umfangreichen Botschaften, die in Fatima oder Lourdes zu hören waren, stark zurück. Gleichwohl handelt es sich auch im Fall Kevelaer um Privatoffenbarung, also eine Offenbarung gegenüber einem Einzelnen.

Solche privaten Offenbarungen (die Bezeichnung privat wird nicht abschätzig gebraucht, sondern soll zur biblischen Offenbarung, die abgeschlossen ist, abgrenzen) haben in keinem Fall die seit 2000 Jahren verbindlichen Glaubensinhalte ergänzt oder gar verändert. Meist handelt es sich um Einladungen zum Gebet und Mahnungen zur Umkehr - mit segensreichen Folgen für die Gläubigen, die am Gnadenort besonders intensiv fühlen, wie nah ihnen der Himmel ist.

Dadurch können Offenbarungen, die einzelnen Menschen zugekommen sind, Bedeutung für einen großen Kreis und die ganze Kirche gewinnen, so wie es für Kevelaer, Fatima und andere eingetreten ist. Dann wird statt von privater eher von prophetischer Offenbarung gesprochen (K. Rahner).

Für einen Gnadenort ist nicht das Format des Ursprungsmirakels entscheidend, sondern seine Auswirkung, nämlich, dass Menschen aus dem, was sie am Ort des Geschehens hören, sehen und fühlen, neue Kraft für ihren Glauben schöpfen. Nirgendwo treten Bekehrungen und Gebetserhörungen häufiger ein als an Gnadenorten, wo sich die Herzen weiter öffnen können.

Zu allen Zeiten war das so, aber erst in der so genannten Moderne ist eine Antwort gefunden worden, die zwischen jenen Menschen, die übernatürliche Vorgänge wie Erscheinungen oder Heilungswunder rundweg verneinen („So etwas gibt es nicht“), und jenen, die unter einer Marienerscheinung die geistkörperliche Präsenz der Gottesmutter auf Erden verstehen, ausgleichen kann. Die früher bevorzugte Beschreibung einer Marienerscheinung, bei der die Gottesmutter leibhaftig zugegen und dem Seher räumlich ganz nahe ist, wird zunehmend ersetzt durch die Annahme, dass sich in vielen Fällen die Erscheinung in der Vorstellungskraft des Sehers verwirklicht. Damit wird dem Seher nicht von vornherein unterstellt, die Erscheinung sei das Produkt seiner Phantasie und nur eingebildet.

Vielmehr kann zum Tragen kommen, was bei Kindern, seltener bei Erwachsenen, als eidetische Begabung erkannt wird: Sie können etwas sehen und beschreiben, was nicht in ihrem körperlichen Blickfeld liegt. Ein mit dieser Fähigkeit ausgestatteter Seher lügt nicht, wenn er von einer Erscheinung berichtet, sondern er sieht sie in seiner Gedankenwelt tatsächlich. Als theologisch überirdisch werden solche Erscheinungen freilich nicht gewertet.

Von einer geistkörperlichen Erscheinung wie jener in Lourdes oder Fatima kann man erst sprechen, wenn der Seher nicht in seiner Vorstellungswelt, sondern außerhalb seines eigenen Körpers etwas Übernatürliches mit seinen Sinnesorganen wahrnehmen kann. Auch heute noch hält die Kirche es für möglich, dass sich solche extrakorporalen Erscheinungen auf Erden ereignen. Aber erheblich zurückhaltender als früher geht sie mit ihrer offiziellen Anerkennung solcher Phänomene um.

Die u.a. aus der Eidetik gewonnenen Erklärungsmöglichkeiten für - wertfrei - „einbildliche“ Erscheinungen machen es der Kirche noch schwerer als in der Vergangenheit, „echte“ Erscheinungen herauszufinden. Ohnehin hat sie schon immer nur sehr wenige der berichteten Marienerscheinungen nach gründlicher Prüfung als glaubwürdig eingestuft - immer mit der Einschränkung, dass es unfehlbare Gewissheit hier nicht geben könne. Erst recht ist für die nähere Zukunft nicht davon auszugehen, dass die berichteten Marienerscheinungen von > Marpingen (1876 und 1999), > Mettenbuch (1877), > Heede (1937), > Marienfried (1940) oder > Heroldsbach (1949) - allesamt deutsche Orte - kirchlich anerkannt werden.

Auch Erklärungen aus der Eidetik (die Erscheinung findet im Kopf statt) versagen zuweilen. Denn wenn mehrere Personen gemeinsam eine Erscheinung erleben, ist man mit seinem Latein am Ende. Auch Phänomene wie das Sonnenwunder von Fatima, das Hunderte von Menschen, zum Teil an verschiedenen Orten, gesehen haben, lassen sich mit Hinweisen auf die Kraft der Phantasie nicht ergründen. Mit diesem Sonnenwunder wurde die Hürde überwunden, die für eine kirchliche Anerkennung immer höher gelegt wurde. Die Glaubwürdigkeit einer prophetischen Erscheinung (wie Fatima) wird nämlich nur dann bestätigt, wenn sich ein Wunder ereignet, das angekündigt wurde.

Innerhalb der katholischen Kirche steht es den Gläubigen in allen Fällen frei, das Ursprungsgeschehen am Gnadenort für wahr zu halten oder nicht. Die Frage nach der „Echtheit“ hat für Gläubige und ihre Gebete nicht die gleiche Bedeutung wie für den Wallfahrtsort, der in der Regel nur dann zu einem Großwallfahrtsort aufblühen kann, wenn die „Zertifizierung“ vorliegt.

Medjugorje - GroßkreuzDie bekannteste Ausnahme von dieser Regel ist der Marienwallfahrtsort > Medjugorje im ehemaligen Jugoslawien. Zwar ist eine Anerkennung der dortigen Marienerscheinungen nicht in Sicht (die Phänomene von Medjugorje sind nicht beendet und finden fortwährend statt), aber dass der seit Jahrzehnten von Millionen von Pilgern aufgesuchte Wallfahrtsort in Bedeutungslosigkeit zurückfallen könnte, ist unvorstellbar. Medjugorje könnte das eindrucksvollste Beispiel in Europa dafür werden, wie entscheidend wichtig für einen Gnadenort die Reaktion der Pilger auf das himmlische Geschehen ist. Die „Bewährung“ eines Gnadenorts hängt nie vom Mirakel, sondern von den Menschen ab.

Großkreuz in Medjugorje.

Wer die Intensität des Betens auch an Orten mit nicht anerkannten Marienerscheinungen erfährt, kommt zu der Einsicht, dass es für das religiöse Erlebnis nicht auf verliehene Attribute ankommt - ebenso wenig wie auf das Format des Ursprungsmirakels.

Völlig unabhängig davon kann der Gläubige beim Beten die Nähe Gottes spüren, kann Antworten auf Fragen hören und Hinweise für rechtes Handeln vernehmen. Solche Gotterfahrungen stehen denen, die Seher bei Erscheinungen machen und die Pilger später nachempfinden können, in nichts nach. Sie werden auch von denen gemacht, die geistkörperliche Erscheinungen für nicht möglich halten.

So sind auch die alten Kevelaer-Fragen der Forscher, ob Busmann wirklich etwas gehört hat, ob es die Gottesmutter war, die gesprochen hat, und ob Frau Mechel ein Traumbild oder tatsächlich eine Erscheinung erlebt hat, immer interessant, aber nicht existenziell wichtig. Von entscheidender Bedeutung bleibt, was wir über den "ungläubigen Thomas" im Evangelium gelernt haben: Glauben ohne den Beweis, den die Berührung der Wunde mit dem Finger liefert. Daran glauben, dass hier in Kevelaer der kleine Mensch Hendrik Busmann eine Berührung mit dem Himmel hatte, ohne dass wir das jemals beweisen könnten - das motiviert auch Jahrhunderte danach gläubige Menschen zu einer Begegnung mit der Gottesmutter im Gebet an dem Ort, an dem "es damals geschehen ist".

Sogar der Restzweifel, ob die Abschriften oder Wiedergaben des nicht mehr im Original vorhandenen Synodenprotokolls von 1647 „korrekt“ sind, kann niemals die Tatsache einholen, dass die Gläubigen seit 1642 eine abschließende Antwort geben, indem sie das Bild der Consolatrix afflictorum als Gnadenbild erkennen.

Sie werden, und nur das zählt, am Gnadenort vom weihnachtlichen Wunder der Menschwerdung, das in Maria geschehen ist, berührt.

Marienerscheinungen

19. Jahrhundert

1819 Dülmen (Deutschland): Anna Katharina Emmerick
1846 La Salette (Frankreich): Zwei Hirtenkinder
1850 Lichen (Polen): Dorfhirt
1858 Lourdes (Frankreich): Bernadette Soubirous
1871 Pontmain (Frankreich): Eugen Berbedette (12)
1872 Valle di Pempei (Italien): Rechtsgelehrter Bartolo Longo
1876 Marpingen (Deutschland): Drei achtjährige Mädchen
1876 Mettenbuch (Deutschland): Einige Kinder
1877 Dietrichswalde (heute Polen): 2 Kinder, 2 Erwachsene (erst durch die Kardinäle Wyszynski und Wojtyla - den heutigen Papst - zwischen 1967 und 1977 anerkannt)
1879 Cnoc Mhuire (Irland): 15 Menschen

20. Jahrhundert

1900 Lucca (Italien): Gemma Galgani
1917 Fatima (Portugal): Lucia, Francisco und Jacinta
1925 Pontevedra (Spanien): Lucia (Seherin von Fatima)
1926 Konnersreuth (Deutschland): Therese Neumann
1932 Beauraing (Belgien): Fünf Kinder
1933 Banneux (Belgien): Mariette Beco (12)
1936 Heede (Deutschland): Vier Seherkinder
1938 Wigratzbad (Deutschland): Frau Geyer
1939 Kecskemét (Ungarn): Sr. Maria Nathalie Kovacsics
1945 Amsterdam (Niederlande): Ida Peerdeman (bis 1959)
1946 Montichiari-Fontanelle (Italien): Pierina Gilli (Rosa Mystica)
1946 Marienfried (Deutschland): Bärbl Rueß
1947 Tre Fontane/Rom (Italien): Bruno Cornacchiola
1949 Düren (Deutschland): Näherin G. Fink
1949 Heroldsbach (Deutschland): Vier Seherkinder
1953 Syrakus (Szilien, Italien): Antonia und Angelo Iannusco (keine Erscheinung, sondern weinende Marienstatue)
1955 Eisenberg a. d. Raab (Österreich): Aloisia Lex
1960 Neuweier (Deutschland): Drei Erwachsene
1961 Garabandál (Spanien): Vier Seherkinder
1966 Porto San Stefano (Italien): Landwirt Enzo Alocci
1968 Zeitgoun/Kairo (Ägypten): Große Menschenmenge
1970 Bayside/New York (USA): Veronika Lueken
1972 Klagenfurt (Österreich): Antonia Lamberger
1973 Akita (Japan): Sasagawa Katsuko
1975 Mendoza (Argentinien): Angel Amelio
(keine Erscheinung, sondern blutende Lourdes-Statue)
1976 Cua (Venezuela): Maria Esperanza Medrano de Bianchini
1979 Ottobeuren (Deutschland): Maresa Merschenmoser
(keine Erscheinung, sondern Botschaften)
1981 Medjugorje (Jugoslawien): Sechs Seherkinder (Erscheinungszyklus noch nicht abgeschlossen)
1983 Marpingen (Deutschland): Bauer
1984 Jall-El-Dib/Beirut (Libanon): Jeanne d’Arc Farage
1984 Remisch (Libanon) (keine Erscheinung, sondern weinende Statue)
1984 Tumbes (Peru) (keine Erscheinung, sondern weinende Statue)
1985 Ballinspittle (England) (keine Erscheinung, sondern sich bewegende Statue)
1985 Melleray (Irland): Eltern mit vier Kindern
1985 Schio (Italien): Renato Baron
1987 Grushew (Russland): Marina Kisyn (11)
1989 Itatiba (Brasilien): Große Menschenmenge
1999 Marpingen (Deutschland): Drei Frauen

© Martin Willing 2012, 2013