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Gesichter eines Gnadenortes: Der Rosenkranz

Was der Rosenkranz für Kevelaer bedeutet 

Gesichter eines GnadenortesEs ist später Abend im Februar. Dumpfer Kanonendonner rollt heran. Die alliierten Soldaten stehen bereits in Goch, und das wissen die Frauen in Kevelaer, die Nacht für Nacht durch die verdunkelte Stadt zum Kapellenplatz huschen.

An der Gnadenkapelle brennt eine rote Lampe. Die Frauen schützen sich gegen die Eiseskälte, so gut es geht. Durch ihre Finger zieht Perle für Perle. Einige Männer in Uniform treten hinzu und murmeln die Rosenkranzgebete mit. Seit Wochen an jedem Abend das gleiche Bild: Mit dem Rosenkranz beten die Frauen gegen Kanonen an. Anfang März 1945 wird das unzerstörte Kevelaer eingenommen, ohne dass ein Schuss fällt.

Auch in Schloss Wissen, wo im Keller eine Notgemeinschaft das Ende des Krieges erwartet, wird kein Tag ohne gemeinsames Rosenkranzgebet beschlossen. Und als die Briten nach schweren Verlusten Kervenheim einnehmen und am Dorfrand den Endtschenhof [Endschenhof] stürmen, halten Zivilisten in Todesangst den Rosenkranz in den erhobenen Händen. Den Menschen geschieht nichts.

Sie wird auf der ganzen Welt in der Hand gehalten, im Hinduismus, Brahmanismus, Buddhismus oder Islam - diese Gebetsschnur, die Kreuzritter im Orient kennengelernt und zu einem endlosen Rosenkranz geknüpft haben. Die Gebetsreise dauert fünfzig Ave Maria, und immer beginnt sie mit dem Kreuz, dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser. Besonders die Dominikaner setzen im ausgehenden Mittelalter auf die Kraft der Gesätze, von denen jeder Rosenkranz fünf hat. Rosenkranz-Bruderschaften - seit 1664 für Kevelaer dokumentiert - organisieren Wallfahrten zu den Gnadenorten.

Die Macht des Rosenkranzes hat auch der protestantische Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. einzuschätzen verstanden. Als er 1714 den niederrheinischen Marienwallfahrtsort besucht, kauft er für seine katholischen Soldaten in Potsdam Rosenkränze. Zwei militärische Siege über die Türken sind der äußere Anlass für das kirchliche Rosenkranzfest, das am 7. Oktober gefeiert wird.

Der Siegeszug des Rosenkranzes als stärkste Gebetswaffe erfasst die gesamte katholische Welt, und wer die Aussagen in den Gebeten verinnerlicht, versteht auch, warum: Der Beter hält das „gesamte Wissen“ der Kirche in seiner Hand und erfährt auf seiner Gebetsreise durch die fünf Gesätze des Rosenkranzes alle Geheimnisse des Glaubens. Was der Rosenkranz an „freudenreichen“, „schmerzhaften“ und „glorreichen“ Geheimnissen offenbart, ist praktisch die Bibel kompakt.

Die Gläubigen spüren, welche Kraft von den Gebetswiederholungen ausgehen kann, und nur in fremden Ohren klingt es, als würde heruntergeleiert. Es ist ganz anders: „Das Wort wird gleichsam zum Strombett, in welchem das Gebet läuft, und zur Kraft, die es in Bewegung hält. Die Wiederholung wird geradezu die äußere Form des Gebetes sein und den Zweck haben, dessen innere Bewegung immer ruhiger und voller werden zu lassen“ (> Richard Schulte Staade). „Im Grunde ist ja das Rosenkranzgebet ein Christusgebet. Es lädt dazu ein, das Leben Jesu zu betrachten und im wiederholten ´Ave` sein Erlösungswerk zu bedenken, das sich in der Menschwerdung, in Tod und Auferstehung vollzieht“ (> Heinrich Maria Janssen).

Das sehen nicht wenige Katholiken in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils anders. Eine starke Betonung Mariens, wie sie in ausgeprägten Formen marianischer Frömmigkeit insbesondere an Wallfahrtsorten zum Ausdruck komme, könne vom theologischen Kern ablenken. Maria als Beteiligte am Heilsgeschehen ja - mehr aber nicht. Solche formale „Akademisierung“ eines unveränderten Tatbestandes durch übereifrige Reformer im Gefolge der Konzilsbeschlüsse versetzt in den 1960er- und noch in den 70er-Jahren der Volksfrömmigkeit einen barschen Dämpfer.

Die Wallfahrtsorte, gerade auch Kevelaer, spüren das an den Besucherzahlen deutlich. Die nach den Erscheinungswundern von Lourdes und Fatima aufgeblühte und bis zum Konzil ungebrochene Rosenkranz-Bewegung fällt zurück. Es braucht Jahre, bis die Irritationen überwunden sind und die Pilgerzahlen wieder ansteigen. Und in der Rückschau sagt Kardinal Meisner, die Konzils-Gedanken seien in Deutschland nicht immer so umgesetzt worden, wie sie angelegt gewesen seien.

Die Ermutigungen, die besonders durch Papst Johannes Paul II. ausgesprochen werden, geben der marianischen Frömmigkeit wieder gebührenden Raum. Der Papst besucht alle großen Wallfahrtsorte in Europa und bestärkt die Pilger, die im Gepäck stets einen Rosenkranz haben.

Nach wie vor steht die Rosenkranz-Madonna von > Fatima auf der ganzen Welt im Mittelpunkt, wenn Katholiken um Frieden und Versöhnung bitten. 1983, beim Fatima-Sühne- und Gebetstag in Kevelaer, ist Papst Johannes Paul II. über´s Radio zugeschaltet und betet mit den hier Versammelten den Rosenkranz.

Der heilige > Arnold Janssen, ein großer Kevelaer-Freund, greift 1865 die französische Idee des „Lebendigen Rosenkranzes“ auf, bei dem sich Gruppen von jeweils 15 Personen verpflichten, täglich wenigstens ein Gesätz (also ein Vaterunser und zehn Gegrüßet seist Du, Maria) und außerdem ein dazu passendes zweites Gebet zu sprechen. Janssen schenkt später in dem von ihm gegründeten Missionshaus Steyl jedem Exerzitienteilnehmer einen Rosenkranz und zusätzlich welche zum Weiterverschenken.

Das ist zwar nicht ganz im Sinne der zahlreichen Rosenkranz-Hersteller in Kevelaer und der damals 26 Rosenkranzbuden rund um den Kevelaerer Kapellenplatz (um 1920 waren es 58); gleichwohl zählt der Rosenkranz bis heute zu den am meisten gefragten Devotionalien am Wallfahrtsort: Der schlichte, preiswerte „Gebrauchs-Rosenkranz“, der kostbare aus geknüpftem Silberdraht mit Lapislazuli-Perlen, die einige Hundert kosten, oder der Daumen-Rosenkranz aus Blech für ein paar Groschen. Den billigsten Rosenkranz besitzt in den 1950er-Jahren der Moerser Geistliche Ferdinand Peus: Er benutzt die Lenkrad-Noppen seines VW-Käfers zum Zählen seiner Gebete. Es sei nicht verschwiegen, daß Peus bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.

Die vielleicht größte Sammlung verschiedener Rosenkränze am Niederrhein ist die von Weihbischof > Heinrich Janssen, der zu jedem Kranz eine Geschichte erzählen kann. Diese Sammlung des emeritierten Weihbischofs befindet sich heute im Museum Kevelaer.

Das Rosenkranz-Gebet fördern will auch der Internationale Mariologische Arbeitskreis Kevelaer (IMAK), dessen Vorsitzender German Rovira beim Marianischen Weltkongreß 1987 ein Ziel formuliert: Katholiken mögen den Rosenkranz bei sich tragen und beten.

Täglich um 17 Uhr wird in der Kevelaerer > Sakramentskapelle der Rosenkranz gebetet. Damit werden die Stunden des ewigen Gebets beschlossen. Die tägliche Zusammenkunft würde nicht durchgehalten, wenn da nicht eine kleine, aber zuverlässige Gruppe wäre, die das Rosenkranzgebet trägt und für einen Vorbeter sorgt.

„Solche kleinen Gemeinschaften geben der Marienstadt das Gepräge, ein Ort des Gebetes zu sein“ (Richard Schulte Staade). „Vielleicht könnte der eine oder andere von uns sich dies an einem Tag in der Woche zur Aufgabe machen: ´Um 17 Uhr bin ich in der Sakramentskapelle mit dabei`“.

Der Rosenkranz ist ständiger Begleiter auch von > Mutter Teresa gewesen. Bischof > Reinhard Lettmann erinnert sich an das gemeinsame Rosenkranzgebet mit der Ordensschwester beim Weltgebetstag der Jugend in Kevelaer: „Ihr Beten und Wirken gehören für mich untrennbar zusammen“.

Das wird auch auf > Heinrich Maria Janssen zutreffen, den ersten Pastor von St. Marien und Ehrenbürger Kevelaers, dem die marianische Frömmigkeit und der Rosenkranz am Herzen gelegen haben. Er stirbt am 7. Oktober 1988, am Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz.

© Martin Willing 2012, 2013