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Kapitel 4 von 115

Januar 1950


Auf dem Bau läuft nichts mehr. Der im Januar einsetzende Frost macht Bauhandwerker arbeitslos. Das gesamte Gewerbe liegt buchstäblich auf Eis.

Am 2. Januar eröffnet Dr. Wilhelm Wolfgarten seine Praxis an der Hauptstr. 18. Der Arzt ist kurz zuvor aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Nun übernimmt er die Praxis seiner Frau Josefine.

Der Anteil der Flüchtlinge an der Bevölkerung im Kreis beträgt schon fast zwölf Prozent. Allerorten sind Heimatlose unterzubringen. Das Problem beginnt die junge Bundesrepublik zu überfordern. Bundespräsident Theodor Heuss bittet die westlichen Demokratien (2.1.), Deutschland beizustehen. Acht Millionen Deutsche seien seit Kriegsende aus dem Osten geflüchtet. Die Westmächte müssten ihre Haltung aufgeben, dass dies eine rein deutsche Angelegenheit sei.

Die Kreisverwaltung ist besorgt, weil von über 2.000 zugewiesenen Flüchtlingen im Jahr mehr als die Hälfte dauerhaft bleiben soll. Die meisten stammen aus Gebieten östlich der Oder-Neisse-Linie.

Sehnsüchtig warten die Familien auf die Freilassung der Kriegsgefangenen. In Köln fordert Kardinal Frings in einer Predigt die Welt auf, die deutschen Kriegsgefangenen zu amnestieren, die im Ausland unter Anklage von Kriegsverbrechen stehen.

Über ihre Verstrickung in das Nazi-Regime reden die Deutschen kaum. Wer mehr als nur Mitläufer war, projiziert die Schuld an der Katastrophe auf die oberste Führung des Dritten Reichs und speziell auf Adolf Hitler. Der habe die Deutschen verführt. Eine moralische oder auch nur politische Aufarbeitung der Nazi-Zeit findet nicht statt, erst recht nicht unter den 8,5 Millionen ehemaligen Mitgliedern der NSDAP. Die neuen Parteien meiden die Konfrontation mit ihnen. Erst viele Jahre später greift die Erkenntnis Raum, dass der Nationalsozialismus durch und durch verbrecherisch gewesen ist. Jetzt aber, in der noch jungen Nachkriegszeit, erliegen viele dem Trugbild, die NS-Ideen seien nicht im Ursprung, sondern in der Ausführung schlecht gewesen.

Die Appelle zur Freilassung der Kriegsgefangenen verhallen. John McCloy, der amerikanische Hochkommissar, betont, dass eine allgemeine Amnestie von Kriegsverbrechern nicht in Frage komme. Würde er einige Kriegsverbrecher frei lassen, wäre die Legalität der anstehenden Kriegsverbrecherprozesse in Frage gestellt. Gleichwohl werden vereinzelt Angeklagte amnestiert. Die Prozesse konzentrieren sich in den folgenden Jahren auf jene, denen monströse Taten vorgeworfen werden.

Mitte Januar kündigt der Leiter der Rechtsabteilung bei der sowjetischen Kontrollkommission die Freilassung von 8.000 Häftlingen aus den ehemaligen KZ-Lagern Sachsenhausen und Buchenwald an. Entlassen werden ausschließlich Personen, denen nicht mehr als Parteimitgliedschaft oder Tätigkeit im NS-Staatsdienst vorgehalten werden. Der Zentralvorstand der SED hat zuvor die Sowjetbehörden gebeten, die Internierungslager auf dem Gebiet der DDR aufzulösen.

Fast 500 Entlassene aus Kriegsgefangenschaft sind allein 1949 in den Kreis Geldern zurückgekommen - vor allem Russland-Heimkehrer. Sie erhalten ab 1950 eine Entlassungsbeihilfe von 50 Mark und ein Überbrückungsgeld von 250 Mark. Die Bevölkerung spendet zudem bei Haus- und Straßensammlungen von Hilfsorganisationen.

Das Deutsche Rote Kreuz organisiert ein Treffen für Heimkehrer im Amtsbezirk Kevelaer. Bürgermeister Peter Plümpe heißt sie in der Wallfahrtsstadt willkommen und wünscht ihnen, dass sie „nun, in die Heimat und die Familie wieder glücklich heimgekehrt, mutig ihr Leben neu gestalten“.

Kaplan Paul Güllmann, einer der Heimkehrer, weist auf die Verurteilungen von Soldaten in Russland hin. Es sei die besondere Pflicht aller Heimkehrer, „vor die Welt hinzutreten und flammenden Herzens Sturm zu laufen gegen die Schandurteile, durch die manche der Kameraden zu jahrelangen Freiheitsentziehungen verurteilt wurden“.

Übliches Urteil für deutsche Soldaten in russischen Lagern: 25 Jahre Zwangsarbeit.

In Wetten feiert anlässlich der Heimkehr des letzten Kriegsgefangenen - Heinz Weymanns - das ganze Dorf.

Der Wallfahrtsort bereitet sich derweil auf ein anderes Fest vor: 60 Jahre ist der Sportverein TuS Kevelaer nun alt. Die Stadt gibt einen Empfang im Sitzungssaal des Rathauses, bei dem Bürgermeister Peter Plümpe dem Vereinsvorsitzenden Willy Probst gratuliert. In der Turnhalle an der Kroatenstraße werden Turnübungen gezeigt. Der Tag schließt mit einem rauschenden Fest im Saal des Hotels Dreikönige. Hier werden die noch lebenden TuS-Mitgründer Hermann van Straelen, Heinrich Heyden, Gerhard van Gisteren und Matthias Laermann zu Ehrenmitgliedern ernannt.

In der Zeitung, die darüber berichtet, ist auch diese Meldung zu lesen: Die sterblichen Überreste von Grete van Vorst aus Twisteden, Hausangestellte bei einer Familie an der Bahnhofstraße in Geldern, sind bei Aufräumungsarbeiten gefunden worden. Die Frau ist seit einem Bombenangriff Anfang 1945 auf Geldern vermisst gewesen.

Ende Januar ist es vorbei mit der Bewirtschaftung von Lebensmitteln. Mit Ausnahme von Zucker gibt es keine Rationierungen mehr. Jetzt darf auch jeder schlachten, der was zum Schlachten besitzt. Mangels Arbeit wird das Kreisernährungsamt aufgelöst - zwei Monate vor dem landesweit verfügten Ende der Bewirtschaftung. Auch die besonderen Bezugsscheine für Krankenhäuser werden eingestampft. Sie wurden zuletzt nicht mehr abgerufen, weil der freie Markt bereits funktionierte. Und noch etwas wird eingestellt: Die Kreisverwaltung lässt noch laufende Straf- oder Bußgeldverfahren aus der Zeit der Lebensmittel-Bewirtschaftung auf sich beruhen.

Die britische Dienststelle der Besatzungsmacht für den Kreis Geldern wird Ende Januar stillgelegt. Trotzdem bleiben die Briten vor Ort: In Twisteden wird zum Entsetzen vieler Einwohner ein riesiges Waldgelände konfisziert. Der gezahlte finanzielle Ausgleich wird vom Twistedener Gemeinderat für einen etwaigen späteren Rückkauf des Geländes zweckgebunden geparkt.

„Es herrschte Bestürzung“, erinnert sich der Twistedener Karl van de Braak. „Ohnmächtig sahen wir dem weiteren Schicksal des Waldes entgegen.“ Gerodete Flächen werden zu Munitionsdepots ausgebaut. „Tatenlos und fassungslos mußten wir Bürger zusehen, wie endlose Kolonnen großer Lastwagen unseren Wald, in etwa zwei Meter lange Stammstücke zersägt, abtransportierten. Was übrig blieb, war im wahrsten Sinne ein Verbrechen an der Natur. Wo vor ein paar Jahren noch eine gesunde, lebendige Natur war, ist jetzt alles öd und tot.“ Nicht von den Briten, sondern von den Amerikanern werden auf dem Gelände Jahre danach über 300 Munitionsbunker gebaut werden, die heute den Grundstock für das dort angesiedelte Unternehmen Traberpark Den Heyberg bilden.

Militärische Einrichtungen bleiben nicht auf Twisteden beschränkt. Für Weeze ist bereits 1950 ein Flughafen in Gespräch, dessen Planungen die Gemeinderverwaltung in den folgenden zwei Jahren beschäftigen, bis das Airport-Projekt Anfang 1953 konkret wird. Für die heimische Bauindustrie sind die Großbaustellen ein Segen. Paul-Peter Tebartz, Bauunternehmer in Kevelaer, erinnert sich, dass erst mit diesen Großaufträgen ein „Aufschwung nach harten Jahren“ eintritt.

Bescheiden sind die Fortschritte, die das Büchereiwesen im Kreis Geldern macht. Der Hauptausschuss des Kreises genehmigt weitere 1.850 Mark für die Anschaffung von neuen Büchern, so dass insgesamt knapp 12.000 Mark für diesen Zweck zur Verfügung stehen. Die Bücher sollen in den beiden Ortsbüchereien Kevelaer und Weeze sowie in der Kreisstützpunktbücherei in Geldern ausgeliehen werden. Jede dieser Einrichtungen bekommt für den Anfang 500 Bücher. Die Eröffnung der Bücherei in Kevelaer verzögert sich, weil die vorgesehenen Räume noch von Flüchtlingen bewohnt werden.

Februar 1950

Die Arbeitslosenquote steigt auf 14 Prozent. In Bonn wird Bundeskanzler Adenauer nachgesagt, er denke an eine Ablösung seines Wirtschaftsministers Erhard. Dazu kommt es nicht.

In Kevelaer nimmt Rektor Franz Bourgeois seinen Abschied. Der 65-jährige Leiter der Marktschule tritt in den Ruhestand - nach 37 Schuljahren in Kevelaer. Der Pädagoge hat neben dem Schuldienst das Jugendwandern belebt und maßgeblich zur Errichtung der Jugendherberge beigetragen; ihm haben nicht nur seine Schüler, sondern auch Handwerker am Herzen gelegen. Er hat sie in der gewerblichen Schule Kevelaers, einer Vorgängerin der Kreisberufsschule, unterrichtet. Und bis zu ihrer Auflösung 1949 ist er Leiter der ländlichen Berufsschule Kevelaer gewesen.

In der Kerzenkapelle heiraten Johanna und Willi Kocken. Pfarrer Heinrich Maria Janssen segnet das Brautpaar.

Galen-PlatzWann denn endlich mit dem Schild gerechnet werden dürfe, fragt Ratsmitglied Brauers (CDU) in einer Sitzung des Stadtrats: Der neue Name des Bahnhofsvorplatzes, „Kardinal-von-Galen-Platz“, soll durch ein künstlerisches Schild kenntlich gemacht werden. So hat es der Rat beschlossen. Aber Geld ist keines vorhanden. Die Anschaffung wird aufs folgende Jahr verschoben.

Das geschnitzte Schild "Graf-von-Galen-Platz". Es wird erst 1951 aufgestellt werden.

Energisch wird dagegen ein sehr viel größeres Projekt durchgezogen: Kevelaers Handwerker, die Mitglieder der St.-Josef-Bruderschaft von 1750 sind, haben die im Krieg zerbombte, von Friedrich Stummel gezeichnete Josefskapelle an der Ecke Twis-tedener/Kroatenstraße mit eigenen Mitteln neu aufgebaut. Im Jahr des 200-jährigen Bestehens ihrer christlichen Bruderschaft ist unter der Präsidentschaft von Karl Daniels eine neue Kapelle entstanden, die am 12. Februar geweiht wird. Treibende Kraft ist vor allem Schreinermeister Johann Willems gewesen, der einen großen Teil der notwendigen Vorbereitungen übernommen hat.

Der Festtag beginnt mit einer heiligen Messe in der Kerzenkapelle; dann tragen vier Schreinermeister in Berufskleidung die Josef-Statue zur neuen Kapelle. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung weiht Pastor Heinrich Maria Janssen das Gotteshaus.

Einige Tage nach diesem Ereignis heiraten Hildegard Bergmann und der Unternehmer Siegfried Schreiner. Am 16. Februar stirbt Wettens Hauptlehrer Hermann Alders im Alter von 67 Jahren. 38 Jahre lang hat er an der Volksschule in Wetten gearbeitet. Bürgermeister Verheyen, Amtsbürgermeister Plümpe und Amtsdirektor Holtmann danken in einem Nachruf dem verdienstvollen Lehrer für seine Arbeit im Dorf. Ehemalige Schüler schreiben: „Seine vorbildliche Pflichtauffassung, sein hervorragendes Können und seine große Herzensgüte waren die tiefen Quellen, aus denen er uns das geistige Rüstzeug für unser Leben vermittelte.“

„Noch nie zuvor hat Wetten einen solchen Trauerzug erlebt“, heißt es wenige Tage später in der „Rheinischen Post“. Bei der Trauerfeier würdigt Kreisschulrat van Treeck den Verstorbenen als „Vorbild eines wahrhaft christlichen Lehrers“.

Dann wird mit gemischten Gefühlen in Weeze eine Premiere gefeiert: Kein einziges Verkehrsschild hat es bis dahin an den Straßen der Nachbargemeinde gegeben; alle sind im Krieg verloren gegangen. Nun sollen neue aufgestellt werden, „um den Verkehrsbedürfnissen Rechnung zu tragen“.

Auf Nummer Sicher geht auch der Kreistag Geldern, als er Ende Februar den neuen Kreisbrandmeister bestellt: Es ist der bisherige - Franz Steckelbruck aus Aldekerk. Er bekommt einen neuen zweiten Mann zur Seite. Stellvertretender Kreisbrandmeister wird Brandmeister und Amtsbürgermeister Peter Plümpe aus Kevelaer.
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© Martin Willing 2012, 2013