Logo für Blattus Martini

Titelbutton
logo INHALTSVERZEICHNIS

linie

Kapitel 13 von 115

Februar 1951


Am Niederrhein geht Existenzangst um - ausgerechnet unter denen, die viel besitzen. Seit Mitte 1949 ist im Land Nordrhein-Westfalen ein Gesetz über die Bodenreform in Kraft, das den Grundbesitz begrenzt. Die Höchstmarke liegt entweder bei 100 Hektar ohne Rücksicht auf den Einheitswert oder bei einem Einheitswert von 130.000 bzw. 200.000 DM, wenn es sich um reine Waldgüter handelt. Der Besitzer kann entscheiden, nach welchem Maßstab sein Besitz berechnet werden soll. Ist sein Besitz größer als im Gesetz begrenzt, muss er den Teil, der die Obergrenze übersteigt, verkaufen. Oder er wird enteignet.

Der Gesetzgeber übt Druck aus: Wer freiwillig anbietet, bekommt als Entschädigung 33,5 Prozent mehr als im Enteignungsverfahren, bei dem nur in Höhe des Einheitswerts vergütet wird. Bar bezahlt wird nicht. Es werden nur Landesschuldverschreibungen vergeben.

Mit diesem rigiden Eingriff in das Eigentumsrecht will die Regierung Siedlungsraum schaffen, um der durch Flüchtlinge und Vertriebene ausgelösten „Überbevölkerung“ im Land Nordrhein-Westfalen Herr zu werden. Der vielfach aufzuteilende Großgrundbesitz soll vielen Menschen den Aufbau einer neuen Existenz ermöglichen.

In den Kreisen Geldern, Kleve und Moers sind 140 Grundbesitzer von der Reform betroffen, die insgesamt 40.000 Hektar abgeben müssen, davon 11.000 Hektar im Kreis Geldern.

Für viele Pächter von landwirtschaftlichen Anwesen und Flächen ist die Bodenreform ein Glücksfall. Weil ihre Existenz nicht gefährdet werden soll, erlaubt ihnen das Gesetz, das gepachtete Land zu kaufen. Allerdings: Haben sie mehr Land gepachtet als erlaubt, müssen sie anteilig abgeben.

Die gräfliche Familie auf Schloss Wissen gehört zu den hart betroffenen Großgrundbe-sitzern. Sie hat unter anderem ihr Schloss zu unterhalten, was auf der Grundlage der erlaubten maximal 100 Hektar Grundbesitz wirtschaftlich kaum zu schaffen ist. Im Gegensatz zu ihren vielen Pächtern am Niederrhein sieht die Familie von Loë ihre eigene Zukunft und die des Schlosses in dunklen Farben.

Isabelle Gräfin von Loë (* 1903, † 2009) steht mit ihren Sorgen allein. Ihr Mann Felix ist 1944 an der Ostfront gefallen, ihr Sohn Fritz (* 1926) hat noch Jahre des Studiums vor sich.

Isabelle Gräfin von Loë (* 1903, † 2009): Die Bodenreform bedrohte 1951 den Besitz und die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens Schloss Wissen. 

Die in Potsdam als Prinzessin zu Salm-Salm geborene Gräfin trägt die Verantwortung für das Schloss und seine vielfältigen Betriebe und findet tatkräftige Unterstützung in Rentmeister Aloys Kempkes.

Die Bodenreform in Nordrhein-Westfalen ist nicht aus eigenem Antrieb der Abgeordneten entstanden. Vielmehr hat die Alliierte Hohe Kommission diese Enteignung per Gesetz vorgeschrieben. Betroffen sind auch Kommunen, die über großen Grundbesitz verfügen. Besonders die Gemeinde Twisteden macht sich Sorgen wegen des Gesetzes. Die Ratsmitglieder erörtern Mitte Februar 1951 auf ihrer Sitzung, welche Konsequenzen die Bodenreform für Twisteden haben könnte.

Ein Sachbearbeiter des Kreissiedlungsamts in Geldern, Kreisinspektor Hesse, nimmt an der Sitzung teil. Bürgermeister Tebartz erklärt, der landwirtschaftlich genutzte Grundbesitz der Gemeinde betrage etwas mehr als 400 Morgen. Aber der größte Teil sei minderwertiger Waldboden mit geringen Pachterträgen. In der Sitzung wird mit dem Kreisbediensteten gefeilscht: In Twisteden werde weniger Fläche landwirtschaftlich genutzt als vom Kreis errechnet. Außerdem seien in jüngerer Vergangenheit solche Flächen für Straßenbau, Schule und vor allem für Siedlungszwecke hergegeben und damit der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt worden.

Der Kreissachbearbeiter ist beeindruckt und lässt sich darauf ein, Twistedens Grundbesitz für die Bodenreform neu zu berechnen. Die Sitzung wird in der Erwartung beendet, dass der Gemeindebesitz voraussichtlich von der Bodenreform verschont bleibt.

Die Twistedener haben allen Grund, wachsam zu sein. Ihr 400 Morgen großer Gemeindewald mit 70- bis 80-jährigen Kiefern war nach seiner Konfiszierung durch die Militärs abgeholzt worden. Die Gemeinde hatte dafür kurz vor der Währungsreform 342.000 Reichsmark Entschädigung erhalten - Geld, das wenige Tage später so gut wie nichts mehr wert war.

Am Ende wird Twisteden, aber auch Schloss Wissen die Bodenreform gut überstehen. Was die gräfliche Familie allerdings noch nicht weiß: Natürlicher Verfall wird das Ensemble des Schlosses mit seinen Nebengebäuden so stark in Mitleidenschaft ziehen, dass ein großer Teil in den 1970er-Jahren abgerissen und neu aufgebaut werden muss.

Mit einem Nachruf im Kävels Bläche wird des letzten Kevelaerer Ausrufers gedacht. Viele Einheimische haben Peter Peters gekannt, der bis Ende der 1920er-Jahre mit einer Schelle und seinem lauten Organ die neuesten Angebote verkündet hat, zum Beispiel: „Frische Bücklinge eingetroffen, zu haben bei Heinrich Biesemann, Markt.“ Der Ausrufer ist auch Nachtwächter gewesen und „mußte oft hart durchgreifen, um die nächtliche Ruhe seiner schlafenden Mitbürger zu schützen“, heißt es im KB. Peter Peters (87) hat zuletzt an der Hubertusstr. 47 gewohnt.

Auch für Emil Modlich (60) erscheint Mitte Februar eine Traueranzeige: „Nach langer, schmerzlicher Wartezeit erhielten wir jetzt die traurige Gewißheit, daß mein lieber Gatte und guter Vater, der Lehrer Emil Modlich, im November 1945 im Offizierslager in Minsk seine Seele in die Hände seines Schöpfers zurück gab.“ Als Angehörige sind Maria Modlich und Hans Modlich angeführt. Die Todesursache des 60-Jährigen bleibt ungeklärt: Er sei „infolge eines tragischen Unglücksfalls“ gestorben, heißt es.

Traueranzeigen, die sich auf Kriegsopfer beziehen, sind auch sechs Jahre nach der Kapitulation nicht selten. Verschollene gelten als vermisst und keineswegs als wahrscheinlich gestorben. So meldet als trauernder Angehöriger „Heinz de Raay, vermißt“ den Tod von Wilhelmine Tebartz, der Witwe von Gerhard Tebartz. Über ihn und sein Schicksal ist bis heute nichts bekannt. In der kurz darauf erscheinenden Traueranzeige für Johanna Rogmann, Witwe von Peter Rogmann, haben drei der trauernden Angehörigen den Zusatz „z. Zt. Vermißt“.

Der Twistedener Gemeinderat tagt noch ein zweites Mal in diesem Monat. Nun geht es um den Schulhof , der mit Hilfe eines Grundstückstausches erweitert werden soll. Außerdem bekommt die Straße durch das neue Wohngebiet einen Namen: Quirinusstraße. Damit wird an den Pfarrpatron erinnert. Zugleich ist der Straßenname eine Reminiszenz an die St.-Quirinus-Bruderschaft, die das Gelände für den Siedlungsbau zur Verfügung gestellt hat.

Am letzten Tag des Februars nimmt in einem Duisburger Krankenhaus Oberarzt Dr. Franz Lemmen (* 1916, † 1984) seine Arbeit auf. Er wird sich drei Jahre später in Kevelaer niederlassen und 1961 als Chefarzt die Innere Abteilung des Marienhospitals übernehmen.

März 1951

Mehrere Kinder, die auf einem Trümmergrundstück an der Basilikastraße spielen, werden von einem besonders wachsamen Engel beschützt: Kaum haben sie das Grundstück verlassen, stürzt eine zwölf Meter hohe Giebelwand ein.

Am Gelderner Gymnasium, so meldet das KB, bestehen Heribert Bergmann, Willy Dierkes, Edmund Hahn, Hilde Bauers und Inge Humels das Abitur.


In Wetten kümmert sich ein lockerer, nicht förmlich gegründeter Kirchbauverein um den Wiederaufbau der St.-Petrus-Kirche. Auf einer Tagung bezeichnet Dombaumeister Grasseler aus Xanten das Wettener Gotteshaus als „eine der schönsten und eigenwilligsten Kirchen am ganzen Niederrhein“.

Rund 750.000 DM sind bereits investiert worden. Nun wird die Ausmalung der Kirche geplant. Das Präsidium der Geselligen Vereine Wetten arbeitet für die Kirchenverwaltung einen Finanzierungsplan aus. Mit vielen Helfern soll innerhalb weniger Wochen das erforderliche Geld gesammelt werden.

Der Maler und Restaurator Paul Geßner aus Wasenbach ist mit der Ausmalung beauftragt. Er geht so behutsam zu Werk, dass im Chorgewölbe alte Malereien fast unversehrt wieder zum Vorschein kommen. Pfarrer ist seit zwei Jahren Wilhelm Kück (* 1889, † 1966).

Auch die Twistedener St.-Quirinus-Gemeinde hat Grund zur Freude: Drei neue Glocken für die Pfarrkirche treffen ein. Am Ortseingang werden sie von Geistlichkeit, Vertretern der Behörden und der Vereine sowie von Schulkindern in Empfang genommen. In feierlichem Zug werden die Glocken zur Kirche geleitet. Am Ostersonntag werden sie zum ersten Mal läuten.

In Kevelaer gründen Mitte März die Landfrauen einen Ortsverein. Ortslandwirt Quinders und Frau Peveling-Oberhag geben Hinweise zur Landfrauenbewegung. „Vertiefung des Wissens“ und „Erweiterung der praktischen Kenntnisse“ der Landfrauen sind die Ziele der Gemeinschaft. Zum vorläufigen Vorstand gehören 1. Vorsitzende Maria Verhaag, Stellvertreterin Anna Stenmans und Schriftführerin Änne Joosten.

In der großen Stadtpfarrei St. Antonius steht der Wiederaufbau der Pfarrkirche immer noch in den Sternen. Die Zwischenlösung, die sich Pfarrer Heinrich Maria Janssen ausgedacht hat, nämlich die ebenfalls zerstörte Kirche des Klarissenklosters vergrößert aufzubauen, um sie für einige Jahre als Pfarrkirche mitnutzen zu können, wird zu den Akten gelegt. Janssen erklärt auf einer Versammlung des Kirchbauvereins, von der „Klosteridee“ habe man Abstand genommen, weil durch eine solche Nutzung die klösterliche Abgeschiedenheit gestört werde. Die Klosterkirche werde nun in ihrer früheren Ausdehnung aufgebaut. Da dieses Gotteshaus eigenständig finanziert werde, könne dieses Bauprojekt den Wiederaufbau der Pfarrkirche in keiner Weise beeinträchtigen.

Für die St.-Antonius-Kirche, führt Janssen aus, werde in Kürze ein erster Bauabschnitt beginnen. Bei dieser Gelegenheit erfahren die Mitglieder des Kirchbauvereins, dass das alte Mauerwerk der Ruine nicht abgerissen wird, obwohl ein Abriss die Gesamtkosten gesenkt hätte. Mit Rücksicht auf die Geschichte Kevelaers hat man sich entschlossen, das alte Mauerwerk in den Neubau zu integrieren. Mit dem ersten Bauabschnitt soll erreicht werden, dass ein überdachter Gottesdienstraum zur Verfügung steht. Die Planungen liegen in der Hand des Gocher Architekten Hermanns, eines renommierten Kirchbaumeisters.

Während in der zweiten März-Hälfte die Familie Selders von Heißenhof in Wetten die Gewissheit erhält, dass der Soldat Josef Selders schon im Sommer 1943 in Russland gefallen ist, veranstaltet der Sportverein Union für einen anderen Wettener, den letzten Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaft, einen Begrüßungsabend.

Derweil wird der Rohbau der Pilgerhalle, Teil des ersten Bauabschnitts des neuen Bahnhofs in Kevelaer, fertig. Bis zum Wallfahrtsbeginn Ende Juni soll die Halle nutzbar sein. Die Pilgerströme laufen noch lange nicht wie früher gewohnt. Besonders die ausländischen Wallfahrer werden behindert. So darf beispielsweise kein Niederländer beim Grenzübertritt in die Bundesrepublik mehr als fünf Mark in der Tasche haben.

Nicht nur im Priesterhaus, sondern auch im Rathaus macht man sich Sorgen: Im vergangenen Jahr seien rund 20.000 Niederländer nach Kevelaer gepilgert, berichtet Amtsdirektor Fritz Holtmann dem Rat. Wegen der 5-DM-Beschränkung sei ihnen nur ein kurzer Aufenthalt in Kevelaer möglich. An eine Übernachtung sei überhaupt nicht zu denken. Deshalb habe sich die Stadt Kevelaer an die Bank Deutscher Länder gewandt, um eine Erleichterung im Devisenverkehr zu erreichen. Ziel sei es, dass die Pilger 20 Mark, wenigstens aber zehn Mark mitnehmen dürften. Holtmann: „Die
Verhandlungen schweben zur Zeit noch und konnten noch nicht zum Abschluß gebracht werden.“

Hoffnung setzt Holtmann auch auf den Bundestagsabgeordneten Dr. Frey. Der will das Problem mit Bundeswirtschaftsminister Dr. Erhard besprechen.

Kapitel 13 von 115

linie

logo INHALTSVERZEICHNIS

linie

© Martin Willing 2012, 2013