|
INHALTSVERZEICHNIS |
Entwicklung Kevelaers zu einer "geistigen Hauptstadt" der Region
Die Christen sind nicht schuldlos daran, dass sie in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Die kaum noch nachvollziehbare Verkopfung von Glaubensinhalten durch einzelne Wortführer und das unglaubwürdige Verhalten manches Repräsentanten, der Wasser predigt und Wein trinkt, treiben auch gut meinende Christen in den Zweifel.
Das Gnadenbild in Kevelaer.
Die Kluft zwischen dem, wie christliches Leben nach kirchlichen Vorgaben
aussehen sollte, und dem, wie es im Alltag tatsächlich aussieht, scheint
immer größer zu werden. Viele Menschen formen sich in ihrer Zerissenheit
zwischen Sein und Schein einen Privatglauben zurecht oder greifen zu
Strohhalmen - wie im Sommer 1999 im saarländischen
>
Marpingen, wo
Zehntausende Marienverehrer im Schlamm des Härtelwaldes ausgeharrt
haben, um Botschaften der Gottesmutter, die drei Frauen nach dem
Fatima-Vorbild von Mai bis Oktober empfangen haben wollen, zu hören.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die lange Geschichte, dass die
Marienverehrung immer dann aufblüht, wenn fromme Menschen durch Staat
oder Gesellschaft, innere oder äußere Notlagen in Bedrängnis geraten.
30-jähriger Krieg (Kevelaer), Säkularisierung (>
Lourdes), Kommunismus
(> Fatima) und Entchristlichung (>
Medjugorje) sind Beispiele für solche
dramatischen Entwicklungsabschnitte, in denen der gläubige Mensch um
seine Beziehung zu Gott besonders kämpfen muss. Dabei setzt er verstärkt
auch seine Sinne und Gefühle ein, weil die Erfahrungen im Herzen bei der
Standortbestimmung im Kopf helfen. Nirgendwo wird das Herz des Gläubigen
offener angesprochen als an unseren Marienwallfahrtsorten. Hier fühlt er
sich der Gottesmutter als Fürsprecherin am nächsten.
Das Kevelaerer Gnadenbild, in dem die selbe große Frau wie in allen
Marienwallfahrtsorten der Welt verehrt wird, ist in seiner Kleinheit
anziehend für Menschen, die in der oberflächlichen Gesellschaft nicht
mehr klar kommen und die an dem um sich greifenden Hang zur Banalität
und Primitivität leiden. Mit dem kleinsten und empfindlichsten
Gnadenbild von weltweiter Bedeutung kann sich jeder Mensch leicht
identifizieren, auch der, der nichts anderes vorweisen kann als seine
Zuversicht, an diesem Ort der Gottesmutter und ihrem Sohn nahe zu sein.
Dabei hilft ihm nicht wie in Lourdes oder Fatima das Charisma eines
Gnadenortes mit kirchlich approbierten Marienerscheinungen und vielen
anerkannten Wundern. Im Gegenteil: Bis auf die acht Heilungswunder, die
in der Entstehungsphase der Kevelaer-Wallfahrt auf der bischöflichen
Synode zu Venlo 1647 anerkannt worden sind, ist Kevelaer zu keiner Zeit
ein Ort gewesen, an dem spektakuläre, körperlich erfahrbare Wunder
erwartet werden.
Aber was ist Kevelaer dann? Wir erfahren es, wenn wir uns das 17.
Jahrhundert und den 30-jährigen Krieg am Niederrhein in Erinnerung
rufen.
Die Besitzer der geldrischen Städte und Dörfer wechseln damals so häufig
wie bei einem Kriegs-Monopoly. Ende 1637 ist das ganze Oberquartier
Geldern für ein paar Monate „feindfrei“, da steht - im August 1638 -
Prinz Friedrich Heinrich von Oranien mit seinen Truppen schon wieder vor
Geldern. Zusammen mit verbündeten Armeen belagern nun 4.000 Reiter und
17.000 Fußsoldaten die Garnisonsstadt. Kardinal Ferdinand, der Bruder
von König Philipp IV., eilt mit seinen Soldaten den in Geldern
eingeschlossenen Spaniern zu Hilfe. Er beordert auch Truppen des
deutschen Kaisers herbei, die von General Lamboy befehligt werden.
Geldern, so die Losung, darf nicht in die Hände der protestantischen
Generalstaaten fallen.
Die Belagerer werden vertrieben - und sind ein Jahr später wieder da:
Diesmal mit 36 Kompanien Reiterei und 20.000 Mann Fußvolk. Und wieder
endet die Belagerung erfolglos.
Im Mai 1641 wird Schloss Wissen von hessischen Gruppen besetzt. Im Juni
taucht General Lamboy mit seinen kaiserlichen Soldaten in der Gegend um
Kevelaer wieder auf. Etliche seiner katholischen Armeeangehörigen haben
ein Wallfahrtsbildchen im Gepäck, das ihnen der General geschenkt hat -
vermutlich jenen kleinen Kupferstich, der ein Jahr zuvor in einem
Antwerpener Atelier zum Gründungsjubiläum des Jesuiten-Ordens und zur
Erweiterung der Kapelle in Luxemburg hergestellt worden ist. Er zeigt
die Luxemburger Schutzmantelmadonna.
In der Garnisonsstadt Geldern geht es zu wie im Taubenschlag. Tausende
von Soldaten werden auf ihren Märschen von einem Schlachtfeld zum
nächsten vorübergehend hier untergebracht, die meisten in
Privatquartieren. Kleine Kaufleute ziehen einen bescheidenen Handel mit
den Soldaten auf. Einer dieser Krämerläden gehört Mechel Schrouse, der
Frau von Hendrik Busmann.
Mitten durch diesen gefährlichen, militärischen „Ameisenhaufen“ im
Großraum Geldern geht Busmann als Hausierer auf die Walz und manchmal
muss er um sein Leben rennen. Er ist umzingelt von kämpfenden Soldaten,
die mit ihren Stoßdegen, den Rapieren, auch Zivilisten nach Belieben
abstechen, und er hört die einschüssigen Pistolen der Kavalleristen
krachen und den dumpfen Knall der Vorderladerkanonen.
Hendrik Busmann, der Hausierer, auf Verkaufstour durch den Niederrhein. Bronzeplastik von Erika Rutert, im Auftrag der Werbegemeinschaft Busmannstraße.
Über der Gegend liegt der beißende Qualm verbrennender Höfe, Tierkadaver
stinken am Wegesrand. Die Menschen in den Dörfern, die nicht von den
Mauern der Festungsstadt Geldern geschützt werden, zittern um ihr Leben.
Es ist nichts wert in diesem Krieg, der nun schon fast 80 Jahre über das
Gelderland brandet. Die Soldaten, gleich welcher Nation, stehlen den
Leuten das letzte Hemd, rauben ihre Höfe und Häuser aus, vergewaltigen
die Frauen und holen sich auf eigene Faust doppelt und dreifach, was
ihre Dienstherren ihnen an Sold vorenthalten. Dieser Terror sich selbst
bedienender Söldner ist staatlich sanktioniert und eine ebenso
verwerfliche wie einkalkulierte Form der Finanzierung
hochherrschaftlicher Raubzüge.
Busmanns Verkaufsgebiet reicht bis etwa Weeze. Immer wenn er durch
Kevelaer kommt, hält er an einem Hagelkreuz an und betet. Hier hört er
um Weihnachten 1641 zum ersten Mal die Stimme, dass er der Gottesmutter
an dieser Stelle eine kleine Kapelle bauen soll.
Es ist Krieg. Anfang Januar 1642 rücken mit den Generalstaaten
kooperierende Armeen aus Frankreich, Weimar und Kurhessen zum Rhein und
gegen die kaiserlichen Truppen vor. Die Verbündeten erobern Uerdingen,
Linn und andere Orte und machen sich plündernd über den unteren
Niederrhein her.
Der kaiserliche General Lamboy, der für Spanien kämpft,
überschreitet mit 9.000 Mann die Maas und bezieht zwischen Krefeld und
St. Tönis feste Stellung. Am 17. Januar beginnt die
Entscheidungsschlacht, in der die Kaiserlichen unterliegen. Lamboy
stirbt am Tag darauf, 3.000 seiner Männer verbluten, 4.000 werden
gefangen genommen. Unter den Gefangenen befindet sich ein Leutnant, dem
zwei Kameraden - von wem beauftragt, weiß man nicht - zwei
Wallfahrtsbildchen mit der Luxemburger Madonna überbringen sollen.
General Lamboy.
Ob sie sich dazu außer Stande sehen, weil sich der Empfänger in
Kriegsgefangenschaft befindet, oder ob sie die Bilder ohnehin
unterschlagen und zu Geld machen wollen - jedenfalls bieten sie der
Krämersfrau Mechel Schrouse in der Garnison Geldern die Bildchen zum
Kauf an. Mechel lehnt ab, weil sie ihr zu teuer sind. Die Soldaten
müssen dem gefangenen Leutnant die Bilder dann doch noch überbracht
haben, denn eines wird Mechel kurz nach Pfingsten von ihm nach dessen
Freilassung erwerben.
Aber es ist erst Januar. Die weimarisch-hessischen Truppen ziehen nach
der Schlacht von Linn weiter, erobern einen Ort nach dem anderen und
verüben sexistische Gräueltaten: Frauen werden in Gegenwart ihrer Männer
vergewaltigt, in Schornsteine, unter denen Feuer brennt, hinaufgezogen,
mit den Haaren an die Schweife von Pferden gebunden und zu Tode
geschleift - so ist es für den Raum Viersen verbürgt.
Zu Pfingsten erlebt Mechel Schrouse in ihrer Gelderner Behausung in der
Nacht eine Lichterscheinung, in der sie ein Heiligenhäuschen und in ihm
eines der Marienbildchen mit der Luxemburger Madonna sieht, die ihr von
den Soldaten angeboten worden sind. Jetzt ist Ehepaar Hendrik Busmann
und Mechel Schrouse endgültig davon überzeugt, dass die Stimme, die
Hendrik dreimal gehört hat, und die Vision von Mechel Zeichen des
Himmels sind. Mechel findet in der Garnison den inzwischen frei
gelassenen Leutnant, erwirbt eines der Bildchen; Busmann organisiert mit
dem Pastor von Kevelaer den Bau des Heiligenhäuschens. Und am 1. Juni
1642 wird das Gnadenbild eingesetzt.
Zum 300-jährigen Bestehen
der Kevelaer-Wallfahrt (1942)
wurde dieses Plakat herausgegeben.
Zehn Tage später fallen die Hessen in Lobberich ein und plündern die
Kirche. Auch die Klöster zu Rumeln, bei Uerdingen und zu Marienbaum
werden ausgeraubt. In der Nähe von Geldern kommt es zu mehreren
Scharmützeln zwischen den verbündeten Armeen der Generalstaaten und den
Spaniern. Am 17. Juni werden die Generalstaatler durch das Heer des
Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien, der drei Monate in Budberg
zwischen Rheinberg und Orsoy kampiert hat, verstärkt. Dieser großen
Streitmacht der Niederländer fühlen sich weder die Kaiserlichen, noch
die Spanier gewachsen. Sie liegen sich abwartend gegenüber.
Am 23. Juni ziehen die Hessen von Kempen aus plündernd durch die Gegend.
Am 1. Juli werden Reiter und Fußsoldaten der Spanier auf einem Marsch
nach Venlo angegriffen. Generalstaatler schlagen drei Wochen später
spanische Reiter zwischen Aldekerk und Nieukerk in die Flucht.
Am 8. September 1642, mitten in diesem militärischen Chaos, wird der
Junge Peter, ein Sohn von Rynier van Volbroeck und seiner Frau Margarete
aus der Gegend um Hassum, vor dem Gnadenbild in Kevelaer auf wunderbare
Weise geheilt. Fünf Jahre ist der Junge lahm und verkrüppelt gewesen. Es
ist die erste von acht Heilungen, die die Synode zu Venlo als Wunder
kirchlich anerkennen wird.
Ende September 1642 setzt sich die weimarisch-hessische Armee - sie
kämpft für die Generalstaaten - in den Dörfern zwischen Rheinberg und
Wesel fest und brennt Borth und Menzelen nieder. Anfang Oktober fällt
sie ins Gelderland ein. In Nieukerk werden um die 30 Häuser
gebrandschatzt, in Aldekerk, wo 170 Häuser stehen, werden mehr als zehn
angezündet, was eine Katastrophe auslöst: Das Feuer vernichtet den
ganzen Ort. Der Feind bezieht zwischen Aldekerk und Nieukerk ein
befestigtes Lager und zieht von hier aus brennend und mordend durch die
Vogtei. 40 Höfe gehen in Flammen auf, Frauen werden geschändet und
misshandelt, andere Einwohner ermordet oder gefangen genommen, um
Lösegeld abzupressen.
Die Spanier stehen links der Maas und müssen wegen ihrer militärischen
Unterlegenheit tatenlos zuschauen, wie das Gelderland zwischen Maas und
Rhein von den Verbündeten der Niederländer verwüstet wird. Aber sie sind
keinen Deut besser:
Von Roermond aus rauben die spanischen Soldaten ihr eigenes Land aus,
und kaum dass sie sich zurückgezogen haben, stoßen ihre verbündeten
kaiserlichen Truppen nach und plündern den Rest.
In Geldern und Umgegend herrscht schiere Anarchie.
Was 1641/42 am Hagelkreuz zu Kevelaer
geschehen ist und sich nun zu einer mächtigen Wallfahrt entwickelt, hat
mit Reformation und Abwehr des Protestantismus in den spanischen
Niederlanden nicht das Geringste zu tun. Hendrik Busmann, seine Frau
Mechel Schrouse und all die anderen, die herbeiströmen, flehen, so
dürfen wir annehmen, zur „Trösterin der Betrübten“ um ihr nacktes Leben
und ein Ende des ewigen Mordens am Niederrhein. Es ist der Aufschrei der
Unterdrückten in einem Zeitalter des Staatsterrors, der Menschen
schlimmer behandelt als Vieh. Nur Vieh ist etwas wert. Man kann es
essen.
Bildstock und Gnadenkapelle an dem auserwählten Ort sind schon da, als
Politiker die Gottesmutter von Kevelaer für ihre Zwecke missbrauchen.
Als „geistiges Bollwerk“ gegen die reformatorische Bewegung und die
niederländischen Protestanten, wie die Historienbeschreibung es immer
wieder behauptet, hat sich Maria nie einspannen lassen.
Das Gnadenbild zu Kevelaer im Schmuck der Jahrhunderte.
Gleichwohl wird
es versucht: Der Missbrauch durch Spanien, das sein absolutistisches
Beherrschungssystem mit rüdester Staatsgewalt, inquisitorischen
Foltermethoden und psychopathischem Hexenwahn retten will, gehört zu den
schlimmsten historischen Wahrheiten, die unser Verhältnis zu den um ihre
Freiheit kämpfenden Niederländern noch heute beschämen können.
Auch wenn Kevelaer kein Ort der sichtbaren
(>
Heilungswunder
sein will, machen
fromme Menschen hier Erfahrungen, die sich als Wunder in ihrer Seele
bestätigen. Zwar akzeptieren besonders Außenstehende den Begriff
„Wunder“ nur für Ereignisse, die sich spektakulär von den Naturgesetzen
entfernen, und kommen zu dem für sie logischen Schluss, dass es keine
Wunder gibt.
Aber in Wirklichkeit ist es für den religiösen Menschen
unerheblich, ob Gottes Wunderwirken innerhalb oder außerhalb der
natürlichen Gesetze liegt. Wunder sind Teil des göttlichen
Offenbarungsgeschehens und entziehen sich, auch wenn sie körperlich
fassbar sind, der Erklärung durch die Naturwissenschaft, gleich welchen
Erkenntnisstand sie jemals erreicht.
Dieser Wunderbegriff ist jedem
Christen geläufig, denn im Zentrum der christlichen Religionen steht der
Wunderglaube: Das Wunder der Weihnacht, die „Fleischwerdung“ des
Gottessohnes, und seine Auferstehung nach dem Kreuzestod an Ostern sind
die elementaren Botschaften der von Christus gestifteten Kirche.
Niemand, der sich in seiner Kirche zu Hause fühlt, würde diese Ur-Wunder
verleugnen wollen.
Wallfahrtsorte wie Kevelaer werden nicht allein wegen ihrer
Ursprungsereignisse zu "geistigen Hauptstädten" ihrer Regionen. Sie werden
es, weil sie durch die Jahrhunderte hörbar, sichtbar und fühlbar Zeugnis
für die Glaubenswahrheiten der Kirche ablegen und ihr Fähnchen nicht
nach dem Wind drehen. In ihrer Standfestigkeit sind sie ein ruhender und
zugleich anziehender Pol für die Gläubigen, die hier mit allen Sinnen
erfahren, was Kirche für sie bedeutet.
In dieser Verantwortung für ihre Kirche heute und morgen haben Tausende
Kevelaerer am 31. Mai 2000 ein Zeichen gesetzt: Sie haben der
Gottesmutter versprochen, jetzt und in Zukunft diesen Gnadenort zu
schützen, und haben zugleich um ihren Schutz gebeten. Deshalb haben sie
Maria vor aller Öffentlichkeit zur
>
Schutzpatronin der Stadt Kevelaer
erklärt.
INHALTSVERZEICHNIS |
© Martin Willing 2012, 2013