Willing, Martin
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Journalist, Schriftsteller | * 1943
Vor zehn Jahren schrieb Weihbischof
Heinrich Janssen
zum 60. Geburtstag von Martin Willing einen denkwürdigen Satz: „Für den
Christen bedeutet Älterwerden nicht Kleinerwerden, sondern Größerwerden
der Zukunft.“
Fast klingt der Satz wie eine Vorwegnahme der letzten Monate. Martin
Willing ist schwer erkrankt. Für ihn ist das Lebensende, das über Monate
so nah schien, jedoch keine Sackgasse. Wo andere das Aus sehen, weiß er
ein Tor, das sich öffnet. So geht er hoffnungsvoll darauf zu.
Viel hat sich in den letzten Monaten seiner Krankheit bewegt. Als er die
Diagnose erfuhr, ließ er alle persönlichen Auseinandersetzungen hinter
sich und bereinigte mit Menschen guten Willens, was zu bereinigen war.
Martin Willing (2010).
Er weiß sich in einem Freundschafts- und Familiennetz geborgen, dessen
Größe, Dichte und Tragkraft ihn immer wieder ins Staunen setzt und tief
bewegt. Die Zuneigung von Menschen war schon immer wertvoller als jeder
Orden, den man sich im Lauf seines Lebens von anderen anheften lassen
kann. Fast täglich erlebt Martin Willing kleine und große Zuwendungen
vor allem aus seiner Familie und den Pfarrgemeinden an der Küste, für
die er seit Jahren ehrenamtlich arbeitet. Hier muss er niemandem
erklären, dass hinter dem Tor das eigentliche Leben beginnt. Einstweilen
freut er sich daran, dass jetzt, da er noch ein Stück diesseits des Tors
vor sich hat, die Liebe Gottes durch die Hände der Menschen geht.
So durchläuft er ohne Angst die Zeit – nicht im verbissenen Kampf gegen
die Krankheit: Sie hat lediglich die Prioritäten verschoben. Martin
Willing erfährt sie als die dichteste, intensivste und schönste Zeit
seines Lebens und seiner Liebe, in der Nebensächlichkeiten kaum noch
Platz haben. Der Glaube ist eine wirksame Medizin. Bei Martin Willing
wirkt sie vorzüglich.
Er belastet sich nicht mit Fragen: Was wird? Warum? Wie lange noch? Er
denkt und fühlt sein Leben und seine Liebe nicht vom Ende her. Jeder Tag
hat nicht allein seine eigene Plage; er hat auch seine eigene Freude,
sein eigenes Glück und schenkt die ganze Fülle des Lebens. Martin
Willing kostet sie aus, selbst wenn er sich schlecht fühlt. Kein Tag
vergeht, an dem er sich in vorauseilender Trauer verliert, denn dann
würde er die Möglichkeiten dieses Tages verschenken.
Möglichkeiten hat Martin Willing noch immer viele. Er
arbeitet nach wie vor ehrenamtlich, gern, neugierig und kreativ für den
Internetauftritt seiner Pfarreiengemeinschaft, vervollkommnet beinahe
täglich seine Kevelaerer Enzyklopädie auf
Blattus Martini, die
vielen in der Marienstadt so wertvoll geworden ist und die – zusammen
mit seinen Geschichtsbüchern und Persönlichkeitsporträts - zu einem
einmaligen Vermächtnis an ganz besonderem Wissen über den Gnadenort
heranwächst.
Heinrich Janssen schrieb 2003: „Willings Liebe zu Kevelaer und zur
Wallfahrt prägen seine journalistische Arbeit.“ Dann fügte Janssen
trocken verständnisvoll an: „Wer liebt, darf kritisch sein. Und das ist
er fast immer.“
Viele haben es nicht gemerkt. Martin Willing ist stark in der Liebe –
eine eigenwillige, mitunter spröde, uneitle, nicht vereinnahmbare Liebe
an Menschen und an den Gnadenort, dem er über vier Jahrzehnte so viel
Gutes und immer wieder neue Anstöße geschenkt hat.
Es wird nicht viele Menschen geben, die in unserer Zeit mehr
Substanzielles für Kevelaer auf den Weg gebracht haben als Martin
Willing.
Ein Dienstag im Krieg. Christel Willing, geborene
Huckebrinker, ist hochschwanger und evakuiert nach Nieheim im Kreis
Höxter. Am 26. Oktober 1943 bringt sie ihr zweites Kind zur Welt.
Martin.
Er ist noch ein Kind, als er sich regelmäßig auf den Weg zum
Arbeitsplatz seines Vaters macht.
Dr.
Heinrich Willing ist hoch angesehener Neurologe und Psychiater in
Moers. In seiner Praxis steht ein uraltes Schreibinstrument: eine Adler.
Martin haut stundenlang auf die schweren Tasten und sieht staunend zu,
wie sich unter den klackernden Typen der Maschine Buchstaben zu Wörtern
und Sätzen reihen - beinahe im Gleichklang mit den Bildern in seinem
Kopf, die einen Tick schneller laufen.
Der Junge aus katholischem Haus schließt sich ohne Antrieb der Eltern
der christlichen Jugendbewegung Neudeutschland an. Sie ist ein Stück
Abenteuer - und mehr. In Lagernächten liegt Martin oft wach. Manchmal
legt er sich auf den Rücken, schiebt den Kopf zum Zelt heraus und liegt
unversehends unter einem anderen Zelt, sein Gesicht unter den Sternen;
überwältigend und unmittelbar berührt ihn die Hoheit, die sich über den
Himmel breitet.
Er ist 14, als seinen Eltern sagt, er möchte vom Adolfinum in Moers ins
Bischöfliche Konvikt Ludgerianum und zum Gymnasium Paulinum nach Münster
wechseln. Im Ludgerianum wachsen Jungen auf, die für den
Priesternachwuchs in Frage kommen könnten. Daran denkt Martin nicht,
gleichwohl fasziniert ihn das Religiöse. Gott wirft Fragen auf. Der
Junge sucht.
Wieder freut er sich auf die Nächte. Seine Kameraden schlafen, wenn er
sich aus dem Staub macht. Ein Kellerfenster lädt ihn ins nächtliche
Münster ein. Er streift durch die Stadt, noch immer mit der
vorbehaltlosen Neugier eines Kindes und der Kraft zu staunen. Er füllt
seine Speicher mit Bildern, aber fündig geworden ist er nicht. Er
wechselt zurück auf´s Adolfinum in Moers.
Es beginnt eine glückliche Zeit. Dr. Waldmann wird sein Philosophie- und
Deutschlehrer. Der Pädagoge elektrisiert den Schüler, der nach eigenem
Empfinden „faul wie eine Sau“ ist. Willing protokolliert jede Stunde,
feilt an den Texten, verfasst schriftstellerische Arbeiten und Essays
mit philosophischen Gedankenspielen.
In die 300 Seiten starke Kladde ist ein Stück über die platonische
Ideenlehre eingebunden, das sich beinahe Wort für Wort zwei Jahrzehnte
später in einem Krimi wiederfinden wird, den Martin Willing in Rowohlts
Reihe
RoRoRo-Thriller veröffentlicht: „Die Blinden in Platons
Höhle“. Die
FAZ wird 1981 schreiben, „daß Willings Geschichte
von der anscheinend politisch motivierten Mordserie in einer Kleinstadt
ebenso gut gebaut wie erzählt ist: für deutsche Krimiverhältnisse das
gewiß bemerkenswerteste Debüt seit Richard Heys ´Ein Mord am
Lietzensee`.“ Niemand erfährt, dass das philosophische Kernstück des
Krimis aus der Feder eines Jugendlichen stammt.
Schon als Martin Willing sich auf das Abitur
vorbereitet, hat er einen Ausbildungsvertrag zum Redakteur bei der WAZ
in der Tasche, für die er seit längerer Zeit frei arbeitet. Er hat Pech,
fällt durch - und wiederholt nicht. Er tritt seinen Dienst in der
Redaktion Dinslaken-Walsum an. Die WAZ schenkt dem talentierten Twen
1967 einen Teil der Ausbildungszeit und macht ihn vorzeitig zum
Redakteur. Die Karrieresprünge kommen in kurzer Folge: Noch 1967, er ist
23, wird er Alleinredakteur für Walsum. Er wechselt zur Rheinischen Post
und zeichnet 1970 mit 26 als Alleinredakteur in Emmerich verantwortlich.
Im selben Jahr wird der Journalist, der 1967 Ingrid Jesnowski geheiratet
hat, Vater. Jan ist da!
Die Töne auf Willings Klavier nehmen einen noch weicheren Ton an. Schon
als Jugendlicher hat er nach einjährigem Unterricht das stereotype
Piano-Pauken drangegeben und nach seinem empfindsamen Gehör gespielt.
Sein bluesonaler Jazz kommt mit so viel Timbre daher, dass später Jan
Willings Hütehund Felix unter´m Klavier aus tiefster Kehle heult wie
seine wilden Brüder unter´m Mond. 1970 gründete Willing mit Freunden die
„Daniel Düsentriebs Jazz-Company“ Emmerich gegründet; sein eigentliches
Instrument ist das Tenorbanjo. Sie spielen in den Kellergewölben eines
kirchlichen Hauses und im Atelier von Maler Hein Driessen.
Der junge Journalist braucht nicht lange, um sich am Niederrhein einen
Ruf zu erwerben, der bis heute nachhallt. Dabei ist an Willing schwer
heranzukommen. Als Redakteur bleibt er distanziert nach dem
journalistischen Leitsatz erster Güte: Mache dich nie mit einer Sache
gemein, weder mit einer guten, noch mit einer schlechten. Mit Politikern
duzt er sich grundsätzlich nicht. Sie spüren schnell, dass Willing sich
nicht vereinnahmen lässt. Er schreibt kompromisslos ehrlich, fair und
blind für die Farbe von Parteibüchern.
Martin Willing ist 30 Jahre alt, als er Lokalchef der Rheinischen Post
in Geldern wird und zugleich die Leitung der Bezirksredaktion anvertraut
bekommt. Und dann feiert Willing sein journalistisches Debut. Heinz von
der Weydt, ein Sozialdemokrat vor dem Herrn, hat ihn auf dem ehemaligen
Kasernengelände an der Egmondstraße durch die Obdachlosenwohnungen
geschleppt. Willing ist derart schockiert über die Abwesenheit jeglicher
Menschenwürdigkeit, dass er der Stadt einen bitterbösen Kommentar um die
Ohren haut. So viel journalistisches Engagement ist man in Geldern nicht
gewohnt.
So ist Willing. Und das möchte er: nicht Politik machen, sondern wie ein
Wegweiser Werte in den Blick rücken. Das eine ist vom anderen schwer zu
unterscheiden.
Auch der RP-Konzern begreift den Unterschied nicht, als sich die
Lokalredaktion in Geldern 1980 wegen mangelhafter Arbeitsbedingungen an
einem bundesweiten Journalistenstreik beteiligt. Am nächsten Tag ist
Willing beurlaubt, womit eine Lawine losgetreten wird. Willings Ruf ist
so unzweifelhaft, dass alle Parteien eine Demonstration durch Geldern
organisieren. In einer Schlange marschieren Politiker und Leser durch
die Straßen und fordern vom Konzern, Lokalchef Martin Willing wieder
einzusetzen. Vergebens.
Wenige Monate später beginnen die drei Jahrzehnte, die
den wichtigsten Teil von Willings Berufsleben ausmachen sollen - mit der
Übernahme und Herausgeberschaft des Kävels Bläche, des heutigen
Kevelaerer Blatts. Das KB wird nicht zur Hauspostille der Herrschenden.
Willing bleibt der kritische Kopf, der sich immer stärker des Gnadenorts
bewusst wird, in dem er arbeitet, immer tiefer in das Wesen dieser
wundersamen Stadt einsteigt und mit wachsender Sorge - besonders nach
dem Ausscheiden von Stadtdirektor
Dr. Karl-Heinz Röser und
dann von Bürgermeister
Karl
Dingermann - beobachtet, dass vielen immer weniger heilig ist, dass
sie mit der unbedarften Selbstverständlichkeit moderner PR-Instrumente
das Unwichtige aufblähen und das Wertvolle durch Großspurigkeit klein
machen.
Kevelaer erlebt Affären, die die KB-Redaktion mit analytischer Gabe
aufdeckt. Und der Verlag nimmt alle Hürden, gewinnt die gerichtlichen
Auseinandersetzungen; Richter bescheinigen dem KB beste
Berichterstattung. Das Klima zu den Herrschenden ist in den
1990er-Jahren vergiftet.
In all den Jahren hält Willing seine Aufmerksamkeit
offen für Wegweisendes. Diese Gabe, sich nicht vom Alltag zersetzen zu
lassen, ist vielleicht seine größte Kraft. Und sie richtet sich immer
auf seine alten Fragen, auf den Glauben. 1980 veröffentlicht er den
Kevelaer-Roman „Das Bild der Frau M.“. 1985 initiiert er die
Motorradfahrerwallfahrt, steht in
einem Meer von Bikern und weiß, dass viele von ihnen zum ersten Mal seit
Jahren das
Vaterunser beten, da sie „in Fahrt gebracht“ wurden.
1997 ruft er die Bewegung
Maria
Kevelaer 2000 ins Leben. Sie mündet im heiligen Christusjahr in die
Weihe der Stadt an Maria, erlebt und getragen von 5000 Menschen aus ganz
Kevelaer. Willing steht irgendwo in der Menge, unscheinbar, nicht wie
einer, dessen Initiative all diese Menschen auf die Beine gebracht hat.
70 Jahre. Ob er milder geworden ist? Vielleicht - falls Milde sich daran
ablesen lässt, dass Ärger sich in Sorge wandelt.
Die Infantilisierung der Gesellschaft, in der die saft-seichten Naddels
und Bohlens die Buchmesse beherrschen und Kevelaerer Macher beliebig
Events vermehren, macht ihm beinahe Angst. Doch einen Trost hat Willing
immer, und dann ist ihm um Kevelaer, seinen wunderbaren Arbeitsplatz,
nicht mehr bang:
Maria hat sich - Willings Recherchen zufolge - in ihrem Da-Sein und
Hier-Sein noch nie von Naddels beirren lassen.
Willing, Martin
Journalist und Schriftsteller - Zwischenspiel
Willing, Martin Journalist und Schriftsteller - Zum 70.
Geburtstag
Willing, Martin
Journalist und Schriftsteller (Biografie ZWEI LEBEN)