MARTIN WILLING
Mein Vater
Er
gab sein Leben für die Patienten.
Einer nahm es ihm
Die Marienbasilika in Kevelaer ist fast
menschenleer. Das Brautpaar wird nur von vier Verwandten begleitet. Es
kommt sich verloren vor in der großen Kirche. Am Altar steht
Julius Willing, der spätere
Rektor der Wallfahrt Marienbaum. Er traut seinen Neffen Heinrich und
dessen Verlobte Christel. Ganz hinten in der Basilika steht Heinrichs
Vater und Julius’ Bruder, der Bauunternehmer Bernhard Willing aus
Kamp-Lintfort. Der korpulente Mann leidet, auch in dem majestätischen
Gotteshaus, unter Platzangst und bleibt lieber in der Nähe des Ausgangs
- selbst an diesem Festtag seines Sohns.Es ist Dienstag, der 17. September 1940.
Nach der Trauung begibt
sich die sechsköpfige Hochzeitsgemeinde ins Hotel „Zu den goldenen und
silbernen Schlüsseln“ am Kapellenplatz. Das Hotel serviert zu dem
Aufschnitt, den die Gäste mitgebracht haben, Brot und Kaffee. 25 Jahre
später werden meine Eltern im selben Haus auch ihre Silberhochzeit
feiern.
Meine Mutter trägt damals, an ihrem Hochzeitstag im Jahr 1940, ein
schlichtes, gut wieder verwendbares Kostüm. Ihr Brautstrauß besteht aus drei Astern. Von
Kevelaer fährt die Hochzeitsgesellschaft nach Kamp ins Elternhaus, wo
Julius, der Priester, eine Kerze segnet. Weitere Geschenke bekommt das
Paar nicht. Am Nachmittag bringt Peter, der Chauffeur des
Bauunternehmers, die Brautleute nach Duisburg. Christel und Heinrich
Willing fahren mit dem Zug nach Münster, wo in der Hammerstraße ihre
erste gemeinsame Wohnung wartet.
Mit dem Marienwallfahrtsort Kevelaer sind sie
verbunden, obwohl sie nicht von hier stammen. Heinrich Willing - 1912 in
Kamp geboren, dort aufgewachsen, Abitur am Adolfinum in Moers,
Medizinstudium in Freiburg, Düsseldorf und Münster - ist seit 1937
promovierter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Als der junge Arzt
1938 praktische Erfahrungen am Marienhospital in Soest sammelt, lernt er
die dort beschäftigte Krankenschwesternhelferin Christel Huckebrinker
aus Bochum kennen, Tochter eines Reichsbahnbeamten.
Nach drei Monaten
ohne private Kontakte lädt der junge Arzt die Krankenschwester zum
Eis-Essen ein. Gleich beim ersten Rendezvouz verblüfft er sie mit der
Frage: „Wollen Sie mich heiraten?“Wenige Monate später spricht Heinrich Willing
bei Christels Eltern in Bochum vor und hält um die Hand der Tochter an.
Weihnachten 1939 ist Verlobung, im September darauf die kirchliche
Trauung.
Heinrich Willing ist inzwischen in einer Klinik
in Köln-Lindental als Arzt tätig. Wenig später liegt er dort - als
Patient: Nach einem Motorradunfall kuriert er länger als neun Monate
eine schwere Knieverletzung aus.
Während ihr Mann im Krankenhaus liegt, muss
Christel ihre Wohnung in der Stadt Münster, die bereits Anfang 1941
bombardiert wird, verlassen.
Sie ist mit ihrem ersten Kind Bernd
schwanger und wird in die Kleinstadt Nieheim im Kreis Höxter evakuiert,
wo Bernd am 20. August 1941 zur Welt kommt. Einen Tag nach der Geburt
erreicht ein Telegramm die Mutter. Einer ihrer Brüder, Josef, ist am
ersten Tag des Russlandfeldzuges gefallen. Als Bernd sechs Wochen alt
ist, reisen Mutter und Kind nach Köln zur Klinik, wo der Vater liegt.
Zum ersten Mal sieht er seinen Sohn.
Bald nach Christels Rückkehr in ihren
Evakuierungsort Nieheim wird Dr. Heinrich Willing als Stabsarzt in
Allenstein in Ostpreußen eingesetzt. Hier führt er ein Lazarett für
verwundete Soldaten von der Ostfront. Als 1942 bekannt wird, dass die
Wohnung in Münster bei einem Bombenangriff beschädigt worden ist,
bekommt Heinrich Sonderurlaub, reist nach Münster, organisiert bei einem
befreundeten Bauern ein Pferdegespann für die Wohnungseinrichtung - und
kommt mit leeren Händen bei seiner Frau in Nieheim an: Die Wohnung ist
nach dem Bombenangriff restlos ausgeplündert worden.
Nicht nur deswegen,
sondern auch wegen der schlimmen Nachrichten von der Ostfront nimmt
Heinrich Willing bedrückt seine Arbeit in Allenstein wieder auf.
Im Oktober des Kriegsjahres 1943 werde ich als
zweites Kind in Nieheim geboren. Einen Monat später übernimmt mein
Großonkel Julius Willing die Wallfahrtspfarrei Marienbaum. Mit mir im
Körbchen - Bruder Bernd kann schon laufen - reist meine Mutter
Weihnachten 1943 nach Ostpreußen. Im Lazarett wird neben dem Zimmer
meines Vaters ein Raum für die Familie hergerichtet, wo wir ein
Vierteljahr leben.
Die Front rückt zwar näher, aber in Allenstein geht
das Leben außerhalb des Lazaretts noch seinen gewohnten Gang. Zum ersten
Mal seit Jahren kann meine Mutter Aufführungen von Theater und Operetten
erleben; mein Vater besorgt ihr die Eintrittskarten und passt abends mit
Begeisterung auf die beiden kleinen Kinder auf. Bernd sieht in
Allenstein den ersten Storch seines Lebens.
Im Frühjahr 1944 wird es gefährlich in
Ostpreußen. „Es wird Zeit, dass wir hier weg kommen“, sagt meine Mutter
in einem Geschäft zu der Inhaberin. Die antwortet: „Sie glauben doch
wohl nicht, dass der Führer auch nur einen Russen in unser Land lässt!“
Ein zugeordneter „Bursche“ meines Vaters begleitet meine Mutter mit den
Kindern nach Nieheim, wo die Familie - ohne den Vater - auf das
Kriegsende wartet.
Es wird Herbst 1944. Der zweite Bruder meiner
Mutter - Josef ist bereits gefallen - wird in Rußland schwer verwundet.
Heinrich Huckebrinker, so sein Name, wird zusammen mit anderen
Verwundeten nach Riga ausgeflogen, aber das Flugzeug wird getroffen und
muss notlanden. Unter den Überlebenden befindet sich auch Heinrich, den
man in dem Chaos liegen lassen will. Er schreit seinen flüchtenden
Kameraden hinterher. „Den Hucki nehmen wir mit“, sagt einer, und
Heinrich („Hucki“) schafft es tatsächlich bis zu einem Zug Richtung
Westen. In Höhe Allenstein wird der lebensgefährlich verletzte Heinrich
wach, hört den Namen „Allenstein“ und verlangt, abgesetzt zu werden.
„Mein Schwager ist hier Arzt“. Bald darauf sehen sich mein Vater und
mein Onkel im Lazarett wieder.
Der Arzt erkennt sofort, dass Heinrich nicht zu
retten ist. „Wenn du ihn noch mal sehen willst, musst du kommen“,
schreibt er an meine Mutter in Nieheim. Sie fährt tatsächlich los,
während die Kinder in der Obhut von Nonnen im Krankenhaus von Nieheim
bleiben. Christel findet ihren Bruder Heinrich querschnittsgelähmt vor,
einen Fuß amputiert. Sie nehmen Abschied von einander und sehen sich
nicht wieder.
Heinrich, der nach dem Krieg Theologie studieren wollte, wird mit
Auflösung des Allensteiner Lazaretts zusammen mit anderen Verwundeten
abtransportiert. Er schafft es noch bis Merane in Sachsen. Hier stirbt
er am 21. November 1944 und wird auf einem Soldatenfriedhof beerdigt.
Als ich in den 1990er-Jahren im Winter diesen Friedhof in Merane
besuche, sind die Grabplatten der dort liegenden Soldaten zugeschneit.
Ich streiche, Platte für Platte, den Schnee weg und sehe schließlich den
Namen vor mir: Heinrich Huckebrinker.
Kurz vor der Auflösung des Lazaretts in
Allenstein sorgt mein Vater mit einer absichtlichen Falschdiagnose dafür, dass ein
Rechtsanwalt seinen verwundeten Sohn nach Hause in den Westen mitnehmen
darf. Der junge Mann hätte eigentlich zurück an die Ostfront gemusst.
Als der letzte verwundete Soldat zum Allensteiner Bahnhof gebracht ist,
beginnt auch für meinen Vater die Flucht vor den Russen. Er schließt
sich einem Treck an und wandert in Halbschuhen über das zugefrorene Haff
Richtung Danzig.
Eisbrecher zerstören immer wieder das Eis, und
die Flucht droht mehrmals vor unüberwindbaren Wasserrinnen zu enden.
Über Balken, die im Eiswasser schwimmen, kriechen die Menschen von
Scholle zu Scholle. Mein Vater, der wegen seines versteiften Knies
gehandicapt ist, muss aufrecht und balancierend über solche Balken
gehen. Als der Treck auf festes Eis stößt, kann sich
mein Vater beim Gehen an einem Pferdewagen festhalten. Eine alte Frau
schaut heraus und sagt zu ihm: „Ich sehe an Ihrer Uniform, Sie sind
Arzt. Sagen Sie meiner Tochter, dass ihr Kind tot ist“. Zusammen mit der
Frau begräbt mein Vater das Kind im Schnee.
Auf der gesamten fürchterlichen Wegstrecke von
Alleinstein bis Danzig ist ein anderer Arzt an der Seite meines Vaters,
ein Mann, der sich tapfer hält. In Danzig angekommen, bricht kurz vor
der Rückmeldung beim Corpsarzt das ganze Elend des Kriegs und der Flucht
über ihm zusammen. Er nimmt seine Walther-Pistole und erschießt sich im
Vorzimmer des Vorgesetzten.
Dabei ist die Rettung nah. Danzig hat keine
neuen Befehle für den Stabsarzt Dr. Heinrich Willing. Er soll sich, so
wird ihm gesagt, nach Westen durchschlagen. Rette sich, wer kann. Bis
Greifswald kommt er, teils mit dem Zug, teils zu Fuß, dann fast immer
allein auf den Straßen. Als er ankommt, hat er Erfrierungen an den
Füßen. Das Lazarett in Greifswald hilft, und vor allem: Es ist von den
Alliierten besetzt. Der Krieg ist aus.
Eines Tages klopft jemand an die Tür des
Krankenzimmers, und ein Soldat tritt ein, dem mein Vater im Lazarett
Allenstein einen voluminösen falschen Verband angelegt hat, damit er
nach Sachsen ausreisen darf, wo er seine Familie vermutet.
Im späten Frühjahr 1945, Deutschland
kapituliert, geht meine Mutter im verschont gebliebenen Örtchen Nieheim
mit uns Kindern spazieren. Frauen aus dem Dorf kommen vorbei. Meine
Mutter hört, wie eine sagt: „Das ist sie!“
Sie erwartet schon das
Schlimmste, als sie erfährt, dass mein Vater telegrafiert hat: Schon
bald trifft er in Nieheim ein. Er kommt zu Fuß. Nach dem Wiedersehen ist Nieheim der schönste
Ort der Welt.
Heinrich Willing will möglichst schnell wieder
als Arzt arbeiten und denkt zunächst an eine Niederlassung in Münster.
Aber auch Herne - wo Christel Willing aufgewachsen ist - und Moers sind
in der Wahl. Die Entscheidung fällt auf Moers, weil Heinrichs Vater, der
Bauunternehmer aus Kamp-Lintfort, die Familie in der Nähe wissen will. Am 5. Dezember 1945 lässt sich Dr. Heinrich
Willing als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Moers nieder -
ein Glücksfall für die vielen zurückkehrenden Hirnverletzten, denn viele
Jahre gibt es im Altkreis Moers und darüber hinaus keinen zweiten
Nervenarzt. Die Praxis, die von der Militärbehörde sofort genehmigt
wird, weil der Arzt nie Parteimitglied gewesen ist, wächst zu einer der
damals größten am Niederrhein heran - in der Spitze mit über 2.000
„Scheinen“ pro Quartal.
Bei der Suche nach einem Praxisraum hilft ein
Schulkamerad vom Adolfinum, Dr. med. Karl-Friedrich Grafer, in dessen
Elternhaus am Königlichen Hof die Praxis Dr. Willing eingerichtet werden
darf. Jetzt, einen Monat nach ihrer Eröffnung, kann er seine Familie
nachkommen lassen. Er schickt seine Putzfrau Gertrud, unser späteres
Kindermädchen, nach Nieheim, um Frau und Kinder abzuholen. Bei Duisburg
stehen sie vor dem Rhein und setzen mit einem wackeligen Kahn über. Von
Homberg bis Moers fahren sie mit der Straßenbahn. Es ist Januar 1946:
Als die Familie aus der Straßenbahn am Königlichen Hof aussteigt, sieht
Christel Willing an einem Fenster des Grafer-Hauses einen Mann im weißen
Kittel stehen.
Neben der Ein-Raum-Praxis befindet sich ein
Zimmer - die Wohnung der vierköpfigen Familie. Der ersten Patientin nach
Praxiseröffnung, der Frau eines Schiffers aus Homberg, überreicht
Heinrich Willing von nun an bei ihren jährlichen Besuchen einen
Blumenstrauß.
Ein bekannter Krankenhausarzt gibt dem neu
niedergelassenen Mediziner „kein halbes Jahr in Moers“ - als Katholik in
der damals durch und durch evangelisch geprägten Kreisstadt. Aber die
immer zahlreicher werdenden Patienten sehen das lockerer, und wer kein
Geld hat, zahlt mit Naturalien: Rübenkraut, Wurst, Eier.
Heinrichs Vater lässt das kriegsbeschädigte Haus
Grafer abdichten und baut auf seine Kosten eine Wohnung in der zweiten
Etage aus, in der die Arztfamilie bis 1952 wohnt.
Am 2. Januar 1947 kommt
als drittes Kind Christa
zur Welt. Zur selben Zeit erkrankt der Vater an Gelbsucht. Der
behandelnde Arzt aus dem St.-Josefs-Krankenhaus rät dringend dazu, für
Vitaminzufuhr zu sorgen, was er keineswegs sarkastisch meint: Er weiß,
dass es im Elternhaus von Heinrich Willing in Kamp-Linfort an nichts
mangelt. Dort herrscht nach dem Tod von „Mütterchen“, wie
sie genannt wird, und dem Einzug der Stiefmutter ein anderer Geist.
Halbschwester Marianne - sie wird später Ärztin - bringt ein Einmachglas
mit Erdbeeren vorbei, aber mit dem Hinweis, mehr sei beim besten Willen
nicht drin. Heinrich Willing lässt das Glas unberührt und verteilt die
Erdbeeren an seine Kinder.
Das Jahr 1948 zieht ins Land, und in Homberg
wird Günther Horst H. geboren, jener H., der 27 Jahre später meinen
Vater niederstechen wird.
Aber jetzt, nach der Währungsreform, geht es
erst einmal aufwärts.
Am 23. März 1950 kommt das vierte Kind meiner
Eltern auf die Welt - Ulrich, über den ich im Krankenhaus gesagt haben
soll: „Ich will kein Brüderchen, sondern ein Fahrrad.“ Meine Eltern kaufen von der katholischen
Pfarrgemeinde St. Josef in Moers ein Trümmergrundstück an der Uerdinger
Straße Nr. 20, wo mein Großvater, der Bauunternehmer, auf seine Kosten
ein Haus für Praxis und Wohnung baut. Mein Vater stottert die Baukosten
über viele Jahre mit einer fest liegenden monatlichen Zahlung bei meinem
Großvater ab.
Jahrzehnte später, lange nach dem Tod meines Vaters, muss
meine Mutter das Haus im Zuge einer Erbauseinandersetzung mit der
Halbschwester meines Vaters noch einmal bezahlen. Die früheren
Geldüberweisungen, längst abgehakt und vergessen und auch bei der
überweisenden Kasse nicht mehr dokumentiert, lassen sich nicht
rechtswirksam nachweisen. Über diese durch Prozess erzwungene
Doppelzahlung zerbrechen die Familienbande nach Kamp-Lintfort, wo die
Halbschwester Anfang der 90er-Jahre vereinsamt stirbt.
Als meine Eltern 1962 in Moers auf der
Filderstraße ein neues Wohnhaus bauen - hier lebt heute meine über
90-jährige Mutter mit Bruder Bernd -, ist ein gewisser bürgerlicher
Wohlstand eingekehrt. Bei
Wilhelm Polders in Kevelaer kauft mein Vater
den ersten Brillantring seines Lebens für meine Mutter - nie hat er
später anderswo Schmuck erworben. Mit jedem Besuch in der Marienstadt
ist verbunden, dass am Kapellenplatz eine Kerze angezündet wird. Und mit
jedem seiner vier Autos, die er in seinem Leben gekauft hat, steuert er
auf der Jungfernfahrt zuerst Kevelaer an.
Immer noch und bis in die
1970er-Jahre ist er der
einzige Nervenarzt im weiten Umkreis. Besonders die Hirnverletzten
liegen ihm am Herzen. Seinen Gutachten, die er in ungezählten Nächten
diktiert, verdanken Tausende von Patienten die Grundlage, mit der sie
ihre Versorgungsansprüche gegenüber den Leistungsträgern durchsetzen
können.
Dr. med. Heinrich
Willing im Jahr 1972 an seinem 60. Geburtstag.
Solange sein Vater in Kamp-Lintfort noch lebt,
besucht er ihn jeden Sonntag. Das wöchentliche Ritual ist bei den
Kindern sehr beliebt: Eines von ihnen nimmt er stets mit - zuerst in die
heilige Messe in der Klosterkirche zu Kamp, dann zum Opa, wo es so
seltene Köstlichkeiten wie Kirschsaft oder Schokolade gibt. Zu
besonderen Anlässen wird dem Enkelkind auch ein nagelneuer Geldschein
geschenkt.
Mein Großvater, der zu jener Zeit bei der Sparkasse
Kamp-Lintfort die einstellige Kontonummer 3 besitzt, akzeptiert
grundsätzlich nur neue Scheine. „Hat Opa selbst gemacht“, pflegt er zu
den Kindern zu sagen. Er ist eine Institution in Kamp und
Kamp-Lintfort, ein Patriarch, zu dem Patres aus dem Kloster, Vertreter
der Kirchen- und weltlichen Gemeinde gerne kommen, weil es diesem
sonderbaren Mann Freude macht, mit seinen reichen Möglichkeiten zu
helfen.Zu jener Zeit, Anfang der 1960er-Jahre, wird
Günther Horst H., der meinen Vater überfallen wird, in eine Sonderschule
überwiesen, die er 1963 aus der 6. Klasse verlässt. Anschließend geht er
zunächst als Schiffsjunge in die Binnenschifffahrt. Dann wird er
Eisenanstreicher, wechselt häufig die Arbeitsstelle und wird
zwischenzeitlich arbeitslos.
Im Herbst 1968 wird H. zur Bundeswehr
eingezogen, muss sich zweieinhalb Monate in der Universitätsklinik in
Göttingen einer stationären Behandlung unterziehen und leidet seit 1964
an Schlafstörungen, Angstgefühlen und Minderwertigkeitserlebnissen.
„Derealisations- und Depersonalisationssyndrom im Rahmen einer
Reifungskrise“ lautet die Diagnose. Anfang 1970 wird H. vorzeitig aus der Bundeswehr
entlassen. Seitdem hat er keine Arbeit mehr. Am 27. Mai 1970 erscheint
H., zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt, erstmals bei meinem Vater in der
Praxis, wie im späteren Gerichtsprozess bekannt wird.
Es ist das Jahr,
in dem sich mein Vater über die Geburt seines ersten Enkels freuen darf.
„Die immer noch knappe Freizeit widmet Dr. Willing seinem Garten in der
Filderstraße. Seit anderthalb Jahren hat er noch ein zweites Hobby: sein
Enkelkind Jan“, schreibt die WAZ Anfang 1972 zum 60. Geburtstag meines
Vaters.
Mit unserem kleinen Sohn Jan
erholten wir uns an den Wochenenden als Dauercamper auf dem Campingplatz
am Eyller See. Seine Mutter Ingrid und ich (r.) hatten früh Gefallen
gefunden an diesem unkomplizierten Leben in der Natur. Das Bild zeigt
unseren ersten Wohnwagen und davor Jans Oma Anfang der 1970er-Jahre.
Nach mehrmonatigen Aufenthalten in einer
Krefelder Klinik wird H. im Frühjahr 1971 mit der Diagnose „Psychose aus
dem schizophrenen Formenkreis“ entlassen. Im Hochsommer 1971 wird H. im
Landeskrankenhaus Bedburg-Hau aufgenommen, weil ein Gutachten für ihn
als Frührentner erstellt werden soll. Dort kommt es nach wenigen Tagen
zu einem akuten Wiederaufflammen der Psychose. Er steht unter wahnhaften
Erlebnissen, fühlt sich hypnotisiert, sieht aus dem Essen rote Dämpfe
ausströmen und verweigert die Nahrungsaufnahme. Die akute Psychose klingt unter Einsatz von
Psychopharmaka ab. Er wird am 19. November 1971 unter der Auflage einer
weiteren Behandlung durch einen Facharzt - er bleibt bei meinem Vater in
Behandlung - entlassen. Mitte 1973 wird er erneut im Landeskrankenhaus
Bedburg-Hau wegen akuter Auffälligkeiten untergebracht. Auch diesmal
wird H. bei der Entlassung geraten, weiterhin in fachärztlicher
Behandlung zu bleiben. Aber er bricht die Behandlung durch meinen Vater
am 8. November 1974 ab und begibt sich in die Obhut eines praktischen
Arztes.
Bereits in 1974 beschleicht meinen Vater das
Gefühl, von H. verfolgt zu werden. Er trifft ihn, scheinbar zufällig,
häufiger in der Stadt. Als er seinen Patienten einmal auf der Straße
direkt anspricht, was das solle, bekommt er zur Antwort: „Ich kenne Sie
nicht“.
H. entwickelt sich zu einer akuten Gefahr, die
aber von Dritten nicht erkannt wird. Als er 1974 erneut nach Bedburg-Hau
eingewiesen wird (Diagnose: „Debilität mit aufgepfropfter
Schizophrenie“), wird der Unterbringungsbeschluss gegen den ärztlichen
Rat aufgehoben - weil die Mutter Rechtsmittel eingelegt hat. Ihr Sohn H.
wird entlassen. Das Gericht geht davon aus, dass der Mann keine Gefahr
für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt. So heißt es in dem
Beschluss.
Im Lauf der nächsten Zeit konzentrieren sich die
Wahnvorstellungen von H. immer stärker auf meinen Vater. Er treibt sich
häufiger in der Nähe der Arztpraxis herum, auch noch wenige Tage vor dem
Überfall. Im Urteil wird es später heißen: „Am 5.12.1975 entschloß der
Beschuldigte sich endgültig, seinen Plan, Dr. Willing zu töten, in die
Tat umzusetzen, um sich von dessen ‘Einfluß’ zu befreien. Er hatte
bewußt noch bis zum Winter gewartet, damit er dem Arzt auf dem Heimweg
von der Praxis zur Wohnung im Schutze der Dunkelheit auflauern konnte.“
Die Tat geschieht am Freitag, 5. Dezember 1975,
am Vorabend von Nikolaus. Mein Vater verlässt kurz nach 18 Uhr seine
Praxis und will zu seinem Wagen gehen, der auf einem Parkplatz an der
Kautzstraße, einer nahen Nebenstraße, steht. Im Dunkeln hat H. schon auf
seinen früheren Arzt gewartet. Plötzlich verspürt mein Vater mehrere
heftige Schläge gegen seinen Rücken. Dass es vier Messerstiche sind,
wird ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Er dreht sich halb um und
erkennt das Gesicht des Patienten.
Mein Vater kann sich zurück in sein Praxishaus
schleppen, wo in der ersten Etage der frühere Kripochef von Moers,
Kriminaldirektor Oswald Heuchert, wohnt. Heuchert leistet erste Hilfe,
alarmiert einen Krankenwagen, und der Schwerverletzte kommt auf die
Intensivstation des Bethanienkrankenhauses. Einer der Messerstiche,
knapp an der Wirbelsäule vorbei, hat eine tiefe Wunde hinterlassen, aber
schon bald nach der Einlieferung ist die Lebensgefahr zunächst gebannt.
Die Sprechstundenhilfe meines Vaters erinnert
sich an den Namen des Patienten, über den man sich früher schon öfter
unterhalten hat, weil er für gefährlich gehalten wurde. H. ist auch
polizeilich bekannt, unter anderem wegen Widerstands gegen Beamte,
weshalb die Polizei mit größerem Aufgebot um 22.30 Uhr zu dessen Wohnung
ausrückt. Aber der Mann, zur Tatzeit 27, wirkt apathisch und kann ohne
Probleme festgenommen werden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erlässt
ein Richter einen Unterbringungsbefehl nach Bedburg.
Mein Vater bleibt bis zum 19. Dezember 1975 im
Krankenhaus und hält sich ab dem 5. Januar 1976 wieder für arbeitsfähig.
Wenige Tage später setzt im Landeskrankenhaus Bedburg-Hau die
behandelnde Ärztin bei H. die Psychopharmaka ab, um durch Veränderung
feststellen zu können, welche Erkrankung bei H. vorliegt. Ohne den
Einfluss der Medikamente gibt H., wie die Ärztin später als Zeugin vor
Gericht erklärt, am 17. Januar 1976 eine geständnisgleiche Schilderung
der Tat und seiner Motive ab, wiederholt sie zwei Tage später vor der
Polizei. Später aber, auch im Gerichtssaal, beteuert er, dem Arzt nicht
aufgelauert zu haben. Er sei den ganzen Abend zu Hause gewesen. Das vom
Gericht als eindeutig falsch eingestufte Alibi wird ihm von seinen
Familienangehörigen gegeben.
Es kommt in dieser Zeit - am 15. Januar - zu
einer folgenschweren Begegnung. Nach seiner ersten Fahrt im eigenen Auto
- die Tage vorher hat er ein Taxi benutzt - wird mein Vater auf dem
selben Parkplatz von einem Mann unbeabsichtigt angerempelt. Mein Vater,
der an einen zweiten Überfall glaubt, stürzt schockiert in seinen
geöffneten Wagen und kann sich von dem Schrecken kaum erholen. Seine
Niedergeschlagenheit wegen des Umstands, dass ihn ausgerechnet ein
Patient angegriffen hat, schlägt in Depression um. Als er acht Tage
später von der Polizei auch noch erfährt, dass der Täter ihn tatsächlich
hat ermorden wollen, steht er unmittelbar vor dem tödlichen Herzinfarkt,
der am 27. Januar 1976, morgens um 5.40 Uhr, eintritt. Nach zwei Tagen im Bethanienkrankenhaus wissen
seine Angehörigen, dass kaum noch Hoffnung besteht.
Am 30. Januar,
seinem 64. Geburtstag, sieht mein Vater alle Familienangehörigen an
seinem Bett stehen. Er glaubt, das Aufgebot diene seinem Geburtstag.
Deswegen fährt mein Bruder Bernd nach Hause und holt die Flasche Sekt,
die mein Vater einige Tagen zuvor zum Anstoßen auf den Geburtstag in den
Kühlschrank gelegt hat.
Am vorletzten Tag seines Lebens bereitet ihn
sein Lebensfreund, der Pallotinerpater Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr.
theol. Gustav Vogel aus Vallendar, der als Facharzt für Neurologie und
Psychiatrie für meinen Vater so manche Praxisvertretung während der
Ferien übernommen hat, auf das Sterben vor. Sie sind eine lange Zeit
allein im Krankenzimmer.
Gustav Vogel,
Freund meines Vaters.
In den wenigen Stunden, die noch bleiben, ist
seine ganze Familie bei ihm. Am 2. Februar 1976 schläft er friedlich
ein. Am Fenster steht eine Kerze. Ich zünde sie an, als mein Vater ins
nächste Leben übergeht.
Die Auswärtige Strafkammer in Moers des
Landgerichts Kleve verkündet am 22. Juni 1976 ihr Urteil „in der
Strafsache gegen Günther Horst H., ledig, Deutscher, z.Zt. Rheinisches
Landeskrankenhaus Bedburg-Hau wegen versuchten Mordes“: „Die
Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus
wird angeordnet.“ Der Beschuldigte hat die Tat nach Einschätzung des
Gerichts zwar begangen, bestraft werden aber kann er nicht, weil er
krank ist.
Das Gericht sieht keinen kausalen Zusammenhang
zwischen den Messerstichen und dem wenige Wochen später eingetretenen
tödlichen Herzinfarkt; ohnehin ist strafrechtlich wegen der
Schuldunfähigkeit des 27-Jährigen ohne Belang, ob Mordversuch oder Mord
vorliegt.
Diese Frage hat allerdings zivilrechtlich große
Bedeutung. Der Kevelaerer Rechtsanwalt
Klaus Hölzle, der meine Mutter
schon während des Strafprozesses für die Nebenklage vertreten hat,
begleitet erfolgreich meine Mutter durch ihr Verfahren vor dem
Sozialgericht Duisburg gegen eine Berufsgenossenschaft in Hamburg, die
einen Zusammenhang zwischen Überfall und Tod nicht anerkennen und somit
keine Witwenrente zahlen will.
Der renommierte Sachverständige Prof. Dr. Hauss
aus Münster liefert die entscheidende Grundlage für das Gericht, indem
er die zu untersuchende Frage, ob „der Überfall auf den Ehemann der
Klägerin vom 5.12.1975 dessen Tod in einem erheblichen Maße
mitverursacht“ hat oder ob „dessen Leben infolge der Folgen des
Überfalls mindestens um ein Jahr verkürzt worden“ ist, im wichtigsten
Punkt bejaht und begründet. Danach ist mein Vater zwar wegen erheblicher
Vorschädigungen des Herzens hochgradig gefährdet gewesen, aber er hätte
ohne den Überfall mit seinen niederschmetternden Erfahrungen, so das
Gutachten, „wesentlich länger, das heißt etwa 1 Jahr“ noch leben können.
Das Gericht verurteilt die Berufsgenossenschaft im Sommer 1978 zur
Zahlung einer Witwenrente.
Pater Vogel, der Freund meines Vaters seit
Studienzeiten, stirbt am 2. Januar 1986. In einem Nachruf eines
Mitbruders in der Ordenszeitschrift „Pallottis Werk“ (3/1986) befasst
sich der Autor unter der Überschrift „Seelenleiden und Seelsorge“ auch
mit dem Fall meines Vaters. Nach dem Herzinfarkt „ging P. Vogel unter
Verschiebung aller anderen Termine in die Praxis und wickelte sie ab,
als dann sein Freund gestorben war. Es war ärztliche Tätigkeit und
Seelsorge zugleich!“ In den vielen Jahren, da er den „Doktor Willing“
während der Ferien vertreten hat, haben viele Patienten den Pater im
weißen Arztkittel schätzen gelernt, wahrscheinlich ohne zu wissen, dass
ihnen ein Priester zuhörte. Im Zuhören-Können - auch darin waren die
beiden Freunde seelenverwandt.