MARTIN WILLING
Der Nothelfer
Erste
Erfahrungen auf der Spurensuche
Kevelaer war das beliebteste
Sonntagsausflugsziel meiner Eltern. Sie hatten eine besondere Beziehung
zu dem Gnadenort, denn sie waren in der Marienbasilika getraut worden.
Ihre vier Kinder fuhren recht gerne mit, wohl hauptsächlich wegen des
pulsierenden Lebens auf der Hauptstraße, wo es soviel zu sehen gab.
Sonntags durfte - im Wechsel - eines der Kinder
den Vater begleiten, wenn er seine Eltern in Kamp besuchte. Das war jede
Woche der Fall, und immer begann der Tag mit der heiligen Messe in der
Klosterkirche.
Familienurlaub 1959
auf der Nordseeinsel Norderney: Vater Heinrich, Mutter Christel Willing.
Die Platzangst meines stark beleibten
Großvaters, die er in etwas abgeschwächter Form meinem Vater vererbt
hatte, machte aus Beiden sonderbare Kirchbesucher: Während mein Opa
keine Messfeier durchhalten konnte und sich schließlich auch nicht mehr
in Gefahr begab, blieb mein Vater in der Klosterkirche immer hinten
links, nahe dem Ausgang, stehen. Und kaum hatte der Priester den
Schlusssegen erteilt, tippte mein Vater auf die Schulter des Flilius und
hastete nach draußen.
An einem dieser Sonntagvormittage in Kamp war
auch der Abt von Kloster Kamp zugegen, der sich eine gewaltige Zigarre
schmecken ließ.
Die vier Kinder
von Christel und Heinrich Willing (v.l.):
Ulrich, das jüngste Kind (heute Arzt in Moers), Martin, der
Zweitgeborene (Journalist, Schriftsteller in Kevelaer, heute in Ostfriesland), Christa
(Lehrerin in Karlsruhe, inzwischen pensioniert) und Bernd, der
Erstgeborene (Buchhändler in Münster, seit geraumer Zeit Rentner und
Rund-um-die Uhr-Pfleger unserer betagten Mutter). Das Bild entstand 1959
auf Norderney.
Jahre später verstand ich die engere Beziehung zwischen
meinem Großvater und der katholischen Kirche. Bernhard Willing, so hieß
er, war es eine Freude und ein Anliegen gewesen, seiner Kirche zu
helfen, und dazu hatte er als wohlhabender Bauunternehmer in der
Nachkriegszeit viele Gelegenheiten genutzt. Es lag sicherlich nicht am ND, dass ich mehr und
mehr meine eigenen Wege suchte. Während meine Eltern mit der Familie
während der Schulferien zum Schwarzwald oder zur Nordsee
aufbrachen, machte ich mich immer häufiger selbstständig. Meine erste
große Reise auf eigene Faust unternahm ich mit 15. Für sechs
Ferienwochen verabschiedete ich mich von zu Hause.
Er war es auch, der das erste Wohnhaus meiner
Eltern in Moers an der Uerdinger Straße baute, das mein Vater, ein
junger Arzt mit noch bescheidenen Einkünften, erst später abbezahlen
musste.
Schräg gegenüber meinem Elternhaus stand ein
dunkler Backsteinbau, der der katholischen Kirchengemeinde St. Josef
gehörte. Hier wohnten die Kapläne der Pfarrei. Hinter einer Mauer duckte
sich ein flacher Anbau der Kaplanei, den man über einen Seiteneingang
erreichte, und zwar von der Abteistraße aus, einer notdürftig
befestigten Wohnstraße, die von der Uerdinger Straße abzweigte.
Generationen von Gymnasiasten kannten diesen
Seiteneingang und den Jugendraum entlang der Mauer. Hier trafen sich die
Jungen, die dem Bund Neudeutschland angehörten. ND-Mitglied zu sein, war
für viele katholische Gymnasiasten und natürlich auch für mich im
evangelisch geprägten Moers fast eine Zwangsläufigkeit. Alternativen gab
es nicht. Sie wurden auch nicht vermisst, denn was sich im Gruppenleben
der NDer an den wöchentlichen Heimabenden und in den Zeltlagern während
der Ferien abspielte, war nicht weniger reizvoll als das, was Pfadfinder
erlebten, und dass es beim ND mitunter „recht katholisch„ zuging, wurde
von den Jungen durchaus nicht als unangenehm empfunden.
Es lag sicherlich nicht am ND, dass ich mehr und
mehr meine eigenen Wege suchte. Während meine Eltern mit der Familie
während der Schulferien zum Schwarzwald oder zur Nordsee
aufbrachen, machte ich mich immer häufiger selbstständig. Meine erste
große Reise auf eigene Faust unternahm ich mit 15. Für sechs
Ferienwochen verabschiedete ich mich von zu Hause.
Mit wenig Geld in der Tasche und vielen
Maggi-Würfeln im Rücksack, dazu ein paar Klamotten zum Wechseln und
einem winzigen, aus zwei Bahnen bestehenden Armee-Zelt, brach ich nach
Frankreich auf, zunächst in Begleitung eines Klassenkameraden.
Wir arbeiteten uns per Autostopp Kilometer um
Kilometer vor und wollten Frankreich gegen den Uhrzeigersinn umrunden.
Gemeinsam kamen wir bis Bayonne an der Atlantikküste kurz vor der
spanischen Grenze. Was immer es zu feiern gab - ganz Bayonne war ein
Stadtfest mit Bühnen auf den Plätzen. Höhepunkt des fünftägigen Festes
war, aber das wussten wir vorher nicht, das Freilassen junger Stiere,
denen sich die ganz Mutigen oder völlig Verrückten entgegen warfen. Wir
zogen es vor, wie geölte Blitze Verkehrsschilder zu erklimmen.In einer dieser Nächte - es ging schon auf den
Morgen zu - streifte ich durch die ruhig gewordene Stadt und sah auf
einer überdachten Bühne ein Klavier stehen. Es war nicht abgeschlossen,
und als ich darauf spielte, warfen die nachtschlafenden Häuser das Echo
zurück. Erst später wunderte ich mich darüber, dass niemand aufgetaucht
war, um mich zu verhaften.
In dieser Nacht verlor mein Klassenkamerad einen
Teil seiner Barschaft. Normalerweise pennten wir in unserem winzigen
Armeezelt irgendwo am Stadtrand, aber diesmal waren wir in einer kleinen
Parkanlage geblieben, wo sich mein Begleiter auf einer Bank zum Schlafen
gelegt hatte. Als ich am frühen Morgen nach meinem „Klavierkonzert„ zu
ihm stieß, fand ich ihn in heller Aufregung vor. Ein geschickter Dieb
hatte ihm, offenbar mit einer Rasierklinge, während des Schlafes die
Gesäßtasche aufgetrennt und das Portemonnaie geklaut.Zu allem Ärger bemerkte ich jetzt, dass eine der
beiden Zeltbahnen, und zwar die, für die ich die Verantwortung hatte,
verschwunden war. Das Zelt war nicht mehr aufzubauen, und eine Plane
reichte nicht für uns beide. Die Stimmung sank auf den Tiefpunkt. Mein
Begleiter wollte auf dem schnellsten Weg nach Hause.
Wir einigten uns
darauf, dass er die verbliebene Plane haben könne.
Während er auf der Rückreise, wie ich später
hörte, mit unwahrscheinlichem Tramperglück gesegnet wurde, nämlich mit
nur drei oder vier Stopps von Südfrankreich bis zum Niederrhein
mitgenommen zu werden, stand ich mir auf kleinen Bergstraßen in den
Pyrenäen die Beine in die Bauch, bis ich endlich das Ortsschild jener
Stadt vor mir sah, die ich unbedingt noch sehen wollte:
Lourdes.
Ich übernachtete vor den Toren der
Wallfahrtsstadt abseits einer Straße, wo hohes Gras stand. Bevor ich
mich in meinen Schlafsack verkroch, kochte ich mir auf einem kleinen
Benzin-Campingkocher ein
Maggi-Süppchen. Inzwischen musste ich meine
Vorräte und mein Geld rationieren. Für mehr als ein frisches Baguette am
Tag und eine Schachtel Zigaretten - an den Geschmack der
Gauloises mit
Maispapier hatte ich mich gewöhnt - reichte meine Barschaft nicht, und
ich hatte noch viele Reisetage vor mir. Am nächsten Morgen führte mich mein erster Gang
zu einer öffentlichen Toilettenanlage, wo ich mich wusch und mein Hemd
wechselte. Das Spiegelbild ließ mich erschrecken, denn ich hatte noch
nicht bemerkt, dass mein Gesicht nach dem nächtlichen Kampf gegen die
Mücken regelrecht deformiert war. Seit dieser Erfahrung achtete ich beim
Übernachten im Freien darauf, dass mein Gesicht mit einem Hemd bedeckt
war.
Nach einem kargen Frühstück - den Kaffee
ersetzte in der Regel ein Schluck aus der Pulle mit Kranenburger - begab
ich mich in den heiligen Bezirk der marianischen Gnadenstätte. Mein
kleines Reisegepäck hing auf dem Rücken, und meine Erscheinung war
inzwischen so zivilisiert, dass mich der Wächter an einem der
Eingangstore durchließ, ohne mich ernsthaft in Augenschein zu nehmen.
Ich ging in die unterste der drei über einander
gebauten Kirchen im heiligen Bezirk, wo gerade eine heilige Messe
begonnen hatte. Es war mein erster und einziger Gottesdienst während der
Frankreich-Reise. Er blieb wie ein Lebenspfeiler in meinem Gedächtnis
haften. Bei jedem meiner späteren Lourdes-Besuche setzte ich mich auf
die letzte Bank in dieser Unterkirche, auf der ich als 15-Jähriger zum
ersten Mal gesessen hatte.
Die untere der drei
übereinander gebauten Kirchen im Heiligen Bezirk besuche ich
bei jedem Aufenthalt
in Lourdes. Hinten in der letzten Bank erinnere ich
mich daran, wie ich als Jugendlicher
hier zum ersten Mal gewesen bin.
Ich verließ Lourdes mit zwei vollen
Wasserflaschen. In der einen war normales Trinkwasser, in der anderen
Wasser aus der Gnadenquelle links neben der Erscheinungsgrotte. Ich
wollte es meiner Mutter mitbringen. Aber das gelang mir nicht.
In der Camarque, wo ich nach einem Kurzbesuch
Avignons hoffnungslos in der Wildnis hängen blieb und zwei oder drei
Tage lang kein Auto für den Tramper stoppte, ging mir das Trinkwasser
aus. Ich ließ schließlich zu, dass das geweihte Wasser diese
Notsituation heilte.
Die Reise endete nicht so, wie ich es mir
gewünscht hätte. Nach etlichen Tagen war Freiburg erreicht. Ich war des
Trampens leid und wollte auf dem schnellsten Weg nach Hause. Aber ich
konnte die Fahrkarte vom Schwarzwald bis zum Niederrhein nicht bezahlen.
Im Bahnhof von Freiburg traf ich einen jungen Mann. Wir kamen ins
Gespräch, und ich erzählte ihm davon, dass mein Geld nicht reichte.
Er holte einen Zehn-Mark-Schein hervor und
sagte, ich könne ihm das Geld später wiedergeben. Dankbar nahm ich das
Angebot an, notierte mir seine Adresse auf einen Zettel, ging zum
Schalter, legte meine Barschaft auf den Teller und bekam dafür eine
Fahrkarte bis nach Köln. Dort, so verabredete ich in einem Telefonat mit
meinen Eltern, würde mich mein Vater mit dem Auto abholen.
Ich verabschiedete mich von dem hilfsbereiten
jungen Mann, dankte ihm noch einmal für sein Vertrauen, und rollte der
Heimat entgegen.
Als ich zu Hause auspackte, stellte ich fest,
dass ich den Zettel mit dem Namen und der Adresse des Nothelfers
verloren hatte.