MARTIN WILLING
Die alte Schreibmaschine
Mit
Schreibübungen in der väterlichen Arztpraxis fing es an
Die
Arztpraxis meines Vaters im Erdgeschoss unseres Hauses in Moers an der
Uerdinger Str. 20 zog mich über einige Jahre magisch an.
Eine solche Adler-Schreibmaschine
lockte mich
an
Sonntagen in die Arztpraxis: Ich tippte...
Wenn sich
sonntags im ersten und zweiten Obergeschoss das Familienleben
ausbreitete, Vater las und Zigarren rauchte, Mutter wie immer in der
Küche hantierte und meine drei Geschwister irgendetwas Kindgemäßes
anstellten, verdrückte ich mich nach unten in die Praxis, wo an einer
Wand ein kleiner Schreibtisch stand und darauf das geliebteste aller
Gerätschaften meiner frühen Jugend: eine alte, gebrauchstüchtige,
schwarze Schreibmaschine der Marke
Adler.
Natürlich konnte niemand in meiner Familie mit
einem solchen Ding umgehen. Es diente nur den Arzthelferinnen für
gelegentliche Schreibarbeiten. Seine Berichte und Korrespondenz, auch
die private, diktierte mein Vater auf schallplattengroße Scheiben. Eine
externe Schreibkraft brachte die Diktate in Heimarbeit zu Papier.
Ich war 13 oder 14 Jahre alt, als ich mit meinen
Schreibübungen in Vaters Praxis begann, und besaß schon eine
bemerkenswerte Fingerfertigkeit, als ich vom Moerser Adolfinum zum
Paulinum in Münster wechselte und im Bischöflichen Konvikt Ludgerianum
wohnte - in einem der Einzelzimmer, die eigentlich nur den
Oberstufenschülern vorbehalten waren. Die Internatsleitung hatte Wind
davon bekommen, dass ich als Fünfzehnjähriger regelmäßig rauchte, und
war von der schriftlichen Raucherlaubnis meines Vaters, des Arztes,
womöglich beeindruckt. Wahrscheinlich war der Einzelzimmer-Komfort eher
als Quarantäne gedacht, damit Mitschüler weniger leicht in Versuchung
geführt werden konnten.
Es war eine schöne, aber schreibmaschinenlose
Zeit, und zumindest deswegen war ich froh, dass ich nach einem
Schuljahr, so oft ich mochte, wieder auf der alten Adler in der
väterlichen Praxis tippen konnte. Ende der 1950er-Jahre hatten meine
Eltern ein Einsehen: Sie schenkten mir eine neue, graue, flache
Reiseschreibmaschine.
Ich
war der vielleicht erste, zumindest aber zeitweilig der einzige
Oberstufenschüler am Adolfinum, der seine schriftlichen Hausarbeiten
ausschließlich maschinengeschrieben vorlegte. Und ab 1963 protokollierte
ich den gesamten Lehrstoff, den unser Ausnahmelehrer Dr. Waldmann in
seinem Philosophie-Unterricht dozierte, beginnend mit „Unsere
Vorstellungen von der Philosophie„ und endend auf Seite 374 mit „Das
Leib-Seele-Problem - Der psychophysische Parallelismus" anderthalb Jahre
danach.
Die erste Seite
der 390 Seiten starken
Mappe
mit philosophischen Themen.
Auch wenn ich nicht an der Reihe war, verfasste ich parallel zu meinem
Mitschüler, der vorzutragen hatte, Dossiers des behandelten Stoffes.
Keine andere Zeit in meinem Leben hat mich so intensiv geschult und
weitergebracht wie jener Philosophie-Unterricht des von mir hoch
verehrten Dr. Waldmann. Nie war ich einem Lehrer dankbarer als in jener
Zeit.
Viele Jahre später und einige Zeit nach
Erscheinen meines Kriminalromans „Die Blinden in Platons Höhle" in der
Reihe
rororo thriller (1981) haben wir uns geschrieben: Er, der
inzwischen als Hochschullehrer arbeitete und meinen Roman in einem
Fachbuch über Krimis erwähnte, und ich, sein ehemaliger Schüler, der
mittlerweile in seinem ersten Beruf als Journalist sein Brot und in
seinem zweiten Beruf als Schriftsteller seine (kleinen) Brötchen
verdiente.
Mein erster
veröffentlichter Kriminalroman.
Waldmanns Platon-Unterricht hatte mich derart
gefesselt, dass ich das berühmte Höhlengleichnis des Philosophen, dem
ich im Schulunterricht zum ersten Mal begegnet war, ins Zentrum meines
thrillers stellte und daraus auch den Titel wählte.
Die Schulmappe von 1963/64 enthält neben anderen
Prosa- und Lyrik-Arbeiten aus meiner Zeit als junger Erwachsener auch
eine Betrachtung, die ich 17 Jahre später zu einem Kapitel in meinem
Rowohlt-Roman verarbeitet habe.
Die journalistische Arbeit, beginnend bei der
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" in Dinslaken, war für mich nicht der
schon lange angestrebte, sprichwörtliche Traumberuf, aber ich ging mit
Begeisterung in ihm auf, weil er mir Gelegenheit bot, an meine
schreibproduktive Jugendphase nahtlos anzuknüpfen. Nun konnte ich nicht
nur, nun musste ich täglich Gedanken in Sätze kleiden und zu Papier
bringen. Und das Schönste: Sie wurden prompt veröffentlicht, nämlich in
der folgenden Ausgabe der Tageszeitung.
Die schriftstellerische Ader versiegte nicht,
auch wenn in den ersten Jahren der Journalisten-Beruf den ganzen Mann
forderte. Ich nutzte die geringen Freiräume, die mir meine
Zeitungsarbeit ließ, und brachte als Viel- und Schnellschreiber auch
einige Erzählungen und Romane zu Papier, die nach zeitökonomischen Kriterien
meisterlich, nach literarischen Gesichtspunkten nicht erstklassig sind.
Einige Erzählungen, die herausragten, band ich
in Handarbeit zu einem Büchlein. Es existiert noch heute und bezeugt
meine schon früh begonnene Lust am Büchermachen, dem ich mich später,
als Autor und Herausgeber, professionell widmete.