Willing,
Martin
►
Wechsel zwischen Jenseits und Diesseits:
Sechs
Zyklen der Krebsbehandlungen
Martin Willing im
Frühsommer 2013.
"Heute suche ich einen Lungen-Facharzt auf. Seit Monaten habe ich
Reizhusten. Nicht dass ich darunter gelitten hätte - aber er war
lästig". So steht es in meinem Tagebuch, das ich für Dienstag, 7. Mai
2013, begonnen habe. "Alles deutet auf einen Lungentumor hin." Delia, die mich begleitet hat
und nicht von meiner Seite gewichen ist, und ich sitzen in unserem Auto vor der
Arztpraxis. Delia steht unter Schock, ich wahrscheinlich auch, aber ich
sage etwas, das ganz anders klingt: "Ich fühle eine Leichtigkeit."
Wir fahren nach Hause und schauen schweigend in die Natur. Es ist
ein herrlicher Frühlingstag. Wir
sprechen über Gott und die Welt und über unseren Glauben. Mir ist, als
hätte ich einen Ruf gehört. Und ich wiederhole still für mich, was ich
seit Tagen bete:
Dein Wille geschehe.
Ich sage Delia, dass das schlichte Kreuz über dem Eingang zu unserer
kleinen Hauskapelle mein Sterbekreuz sein soll. Es stammt aus Fatima.
Von dort habe ich es vor vielen Jahren mitgebracht.
Es ist der
Tag danach. Um 4 Uhr bin ich nach
siebenstündigem Schlaf hellwach. Ich begebe mich in mein Arbeitszimmer,
werfe den Rechner an und bereite die Zeit vor, in der ich die beiden
Webseiten, die ich täglich betreue, nicht mehr morgens aktualisieren
kann. Delia schaltet sich mit großer Energie in die Pflege der Homepage
der Pfarreiengemeinschaft ein. Beim Frühstück erzähle ich Delia von der E-Mail, die ich kurz zuvor gelesen habe: Ein
Kölner
Blattus-Leser, den ich persönlich nicht kenne, hat mir auf den
Hinweis "In eigener Sache" geschrieben; darin hatte ich bekanntgegeben, dass die
tagesaktuellen Rubriken nun abgeschaltet seien. Er
scheint etwas geahnt zu haben, denn er wünschte mir für meinen weiteren
Weg "Gottes Segen". Ich erzähle Delia davon, und uns beiden stehen die
Tränen in den Augen. Ein mir
unbekannter Mensch wünscht mir Gottes Segen. Ich danke später dem Kölner in einer Antwort-Mail und
schreibe, dass ich Gottes Segen jetzt
sehr nötig habe.
Wenige Tage danach werde ich im Auricher Klinikum "in die Röhre
geschoben" - u. a. zur Bronchoskopie. Diese Untersuchung, vor der ich Angst
hatte, verläuft in Vollnarkose. Ich spüre also nichts. Zurück in meinem
Krankenzimmer, warten Delia und ich auf den Besuch
des Arztes, der uns die Ergebnisse mitteilen will. Was dann jetzt und in
den folgenden Tagen bekannt wird,
muss man wohl den Super-GAU nennen. Zusätzlich zum großen Lungentumor
sind befallene Lymphknoten an der Gabelung der beiden Bronchienröhren
festgestellt worden. Und als ob das noch nicht reichte, gibt der Arzt
bekannt: Bei einer MRT-Untersuchung wird eine Metastase in der vorderen
linken Kopfhälfte entdeckt.
Ich erinnere mich, dass ich während der vom Lärm begleiteten Kopf-CT ein
Ave Maria nach dem anderen gebetet habe - mit dem vertrauensvollen
Zusatz "Jesus, der mir zur Seite stehen wird". -
Ja, und was ist jetzt?
Delia ist wie erschlagen und sagt mir später, ihr wäre ein "dicker
Holzhammer" schon bei der Krankenhauseinweisung lieber gewesen als der
tägliche Nachschub von Hiobsnachrichten. Ich ziehe Straßenkleidung an. Dann
begeben wir uns zum Parkplatz und setzen uns in unseren VW-Bus. Er ist
jetzt ein Stück Zuhause, das ich brauche.
Delia und ich sprechen über das Sterben - über mein Sterben. Und ich
sage, ich werde meinen 70. Geburtstag im Herbst wohl nicht mehr erleben.
Delia
erzählt von den unglaublich tiefen, schönen Erfahrungen und Erlebnissen
beim Sterbeprozess ihrer Mutter vor wenigen Wochen. Und sie sagt, wie
intensiv sie die Tage und Stunden erlebt hat - seit dem 7. Mai, da der
Tumor Konturen in unserem Bewusstsein bekommen hat.
Delia und Martin im Sommer
2013.
In der Pfingstwoche besucht uns ein befreundeter Priester, der vom
Niederrhein
angereist ist. Er feiert mit uns einen
Hausgottesdienst, so wie er in der Nachkriegszeit, als Kirchen und
Kapellen noch zerstört waren, häufig in privaten Häusern gehalten worden
ist. "In der Liebe des heiligen Geistes bitten wir um Gottes Erbarmen
und feiern miteinander in Freude und Dankbarkeit Eucharistie", betet der
Priester.
Ende Mai 2013 brechen wir nach Moers am Niederrhein auf, um meine alte Mutter, meine Geschwister
und meinen Sohn Jan zu treffen. Wir wissen nicht, ob es das letzte Mal
sein wird. Meine Mutter (97) bittet am Morgen vor dem Abschied meine
Schwester Christa, die Madonnenfigur, die neben Mutters Sitz an der Wand
hängt, abzunehmen. Ich soll sie mitnehmen nach Großheide und in unser
Hauskapellchen stellen.
Die kleine Hauskapelle mit
ihren roten Scheiben - sie ragt in unser Wohnzimmer hinein - ist manchmal von außen zu sehen.
"Aber dann fehlt sie euch!", sage ich. Doch meine Mutter sagt: "Nein, sie fehlt nicht.
Sie ist jetzt bei euch."
Es ist eine handgeschnitzte, etwa 70 Zentimeter hohe Nachbildung der
Madonna von Marienbaum, wo die Gottesmutter als "Zuflucht der Sünder"
verehrt wird. Meine Eltern haben sie einst erworben. In Marienbaum war
mein Großonkel
Julius Willing während der NS-Zeit
Pfarrer und Wallfahrtsrektor.
Anfang Juni beginnen die insgesamt sechs Zyklen der Krebsbehandlungen
mit Hilfe von Chemotherapien. Die Infusionen werden in der Onkologie
einmal wöchentlich gelegt. Über etliche Wochen werde ich zusätzlich
täglich im Brustbereich bestrahlt. Ich wundere mich über die scheinbare
Abwesenheit von andauernden Nebenwirkungen.
Aber ich spüre eine andere Veränderung. Je länger die Zeit dauert, in
der ich - von einigen dramatischen Ereignissen abgesehen - kaum Beeinträchtigungen
durch die Behandlungen erfahre, desto klarer wende ich mich
wieder dem Alltag, dem Diesseits, zu. Schon nach einigen Wochen stecke
ich mitten im "Alltagsgeschäft" und entwickle Ideen für tagesaktuellen
Internet-Journalismus.
Als mir das bewusst wird, fällt mein Blick
auf eine Fotokopie eines
Aufsatzes von Amselm Grün: "Himmel in dir".
Ich hatte den Text schon gelesen, aber wohl nicht gründlich. "Das Reich
Gottes beginnt, wenn Menschen aufhören, im Schatten des Todes zu
verharren" - so beginnt der Beitrag. "Christus, den Auferstandenen,
sollen wir weder in der Unterwelt, bei den Toten, suchen noch im Himmel.
Er ist vielmehr hier unter uns, dort, wo wir gerade sind. Wir sollen ihn
auch nicht in der Vergangenheit suchen oder in der Zukunft. Er kommt
jetzt."
Grüns Aussagen treffen mich mit Wucht.
Im Juli steckt in mir immer noch ein Arbeitselan, den man als
"mustergültig" bezeichnen könnte. Ich bin hochgradig gefährdet:
Wenn ich jetzt nicht aufpasse, rutsche ich als Schwerkranker
ruckizucki
in meine alten Verhaltensmuster und in eine Arbeitsbelastungssituation
hinein, die mit Sicherheit nicht mit meiner gesundheitlichen Verfassung
kompatibel ist.
Scheinbare Normalität am
Schreibtisch.
Dann aber kommt die Lösung wie von selbst: Zwar verspüre ich keine der Nebenwirkungen, von denen man sich im Zusammenhang mit Chemotherapie und
Bestrahlungen so viel erzählt - vom Unwohlsein, von Übelkeit und
vom spektakulären Haarausfall. Aber ich bin derart abgeschlafft, dass
ich mein Arbeitspensum nicht mehr schaffe. Außerdem fühle ich, wie mir
meine Arbeitslust abhanden kommt.
Am Haupttag der Motorradfahrerwallfahrt begleiten Delia und ich die
Pilger abends in Gedanken während der Lichterprozession. Auf Vermittlung
von Marianne Heutgens können wir per Telefon hören, was sich vor dem
Gnadenbild ereignet. Monika Voss spricht eine Fürbitte für den
schwerkranken Gründer der Motorradfahrerwallfahrt und singt für ihn das
Lied von den tausend Kerzen. Ein wunderbares Geschenk!
Trotz meiner schlechten Verfassung schaffe ich es Ende September zu
unserer
Norder Küstenwallfahrt nach Kevelaer, die Delia und ich
vor sechs Jahren gemeinsam mit Hildegard Soerjanta (Norden) ins Leben
gerufen haben. Zwar können Delia und ich nicht mit unserer Pilgergruppe
reisen, aber die Fahrt im VW-Bus überstehe ich gut.
Beim Gottesdienst in der Kirche des Klarissenklosters spricht mich
Bürgermeister Dr. Axel Stibi persönlich an, der an diesem Samstag extra
gekommen ist. Auf dem Altar brennt eine Kerze, die unsere liebe
Begleiterin Marianne Heutgens für mich gestiftet und angezündet hat. Der
Gottesdienst ist so intensiv, dass ich ihn wie die Feier zu meinem 70.
Geburtstag im Oktober empfinde. Draußen vor der Kirchentür umarmt mich
Schwester Bernadette, die Äbtissin des Klosters, herzlich. "Wir beten
auch weiterhin jeden Tag für Sie!"
In dieser Zeit registriere ich zugleich Veränderungen in meiner Umwelt und in meinem
sozialen Netz. In den vielen Wochen, in denen ich überwiegend "nebenwirkungsfrei" behandelt worden bin, hat sich die
Anteilnahme als Folge der "guten
Nachrichten" neu gewichtet. Mein bisheriger Behandlungsverlauf
entspricht nicht dem erwarteten Szenario. Mir ist es in den vergangenen
Wochen zuweilen so ergangen, als müsste ich mich dafür erklären, dass
ich "noch so gut dabei" bin. Die anteilnehmenden Telefonate,
Briefe und Besuche sind spürbar seltener geworden - und in Einzelfällen ausgeblieben.
Es gibt auch die andere Seite. Freundschaften haben sich vertieft, neue Freunde
haben wir gewonnen, und
einige Familienangehörige stärken mich heute so kraftvoll, dass ich mich
von ihnen auf meinem Weg mitgetragen fühle. Und das ist für mich
notwendig.
Pastor Carl B. Hack bei der
Vorbereitung: Spendung der Krankenkommunion.
Diese guten Beziehungen sind gerade jetzt besonders wertvoll. Zum ersten Mal werde ich von
der ganzen Wucht der berüchtigten Nebenwirkungen getroffen. Ich kann
fast sehen, wie mein Muskelfleisch verschwindet und mein Körper enorm
geschwächt wird. Selbst für kurze Wege brauche ich jetzt die Hilfe eines
Rollstuhls. Meine langen Haare fallen aus - allerdings habe ich soviele,
dass der Verlust sich erst langsam bemerkbar macht.
Meine
Appetitlosigkeit wird zunehmend gefährlich. Aber Delia schafft es immer
wieder, ein Mittagessen zuzubereiten, von dem ich etwas hinunterbekomme.
Auch die Gefahr der Austrockung haben wir durch einen Trick in den Griff
bekommen: Eiskalte Coca-Cola kann ich mit dem Strohhalm "literweise"
konsumieren.
Meine depressive Stimmung, die ich vorher kaum kannte, beginnt mich
gefangen zu nehmen. Inzwischen reagiert mein Körper auf die Chemikalien und Strahlen "schulbuchmäßig". Als mein 70. Geburtstag
(26. Oktober) noch viele Wochen in der Zukunft lag, glaubte ich kaum
daran, ihn zu erleben. Und das, obwohl ich mich stark und "normal"
fühlte. Jetzt, wo der Festtag kurz bevorsteht, fühle ich mich extrem
schwach, kann mich kaum noch aus dem Sessel erheben, und muss tatenlos
zusehen, wie Delia, ihre Freunde und Verwandten allein die
Feiervorbereitungen treffen.
Den 70. Geburtstag haben wir gemeinsam gut geschafft! Er hat einiges bei
mir ausgelöst, unter anderem einen erstarkten Willen, auch körperlich
wieder zu Kräften zu kommen, um nach Abschluss des sechsten und letzten
Behandlungszyklus' eine gewisse Normalität zurückzugewinnen. Das bin
ich den Ärzten, den Freunden, Verwandten, den vielen Betern für ihre
Bemühungen und unserem Herrgott schuldig. Wie lange diese
"normale Lebenszeit" nach Abschluss des Behandlungszyklus' dauert -
Monate oder Jahre -, weiß nur er.
Eine der Veränderungen, die mit dem Geburtstag eingetreten sind, trifft mich besonders: Nach der ersten Diagnose im Mai
habe ich mich dem Jenseits zugewandt und dabei das Diesseits nicht
ausreichend einbezogen. Dann - mit zunehmender Rückkehr in
die Normalität - habe ich mich im Hier und Heute verhaftet und die
Konsequenzen aus der Krebsentdeckung im Mai ignoriert. Im rüseligen Arbeitsalltag an meinem
Schreibtisch - unterbrochen durch die Zeit, die ich erschöpft im Bett
zugebracht habe - fanden Gebete oder eine besinnliche Stunde kaum statt.
Ich habe regelrecht vergessen: Mein Leben ist auf das Ende
ausgerichtet, das für uns Christen der Anfang ist.
Gestern nun (27. November 2013) wurde mir im Klinikum Aurich die sechste
und vorläufig letzte "große" Chemo-Infusion gelegt. Es folgen noch drei
"kleine", und dann ist erst einmal Schluss. Darüber bin ich
bin froh und glücklich. Diagnose und
Prognose stehen - nach abschließenden Untersuchungen - für Januar 2014
an.
Natürlich bin ich dankbar dafür, dass ich im Gegensatz zu nicht wenigen
anderen Krebspatienten den Abschluss der halbjährigen Behandlung erlebe.
Und nicht nur das: Ich darf für das Jahr 2014 planen!
Der Advent und die Weihnachtszeit werden mir sicherlich dabei helfen,
mein Leben "ganzheitlich" in Bewegung zu halten - ausgerichtet auf das
diesseitige und zugleich auf das jenseitige Leben.
Ich freue mich auf Weihnachten.
Willing, Martin
Journalist und Schriftsteller - Zwischenspiel
Willing, Martin Journalist und Schriftsteller - Zum 70.
Geburtstag
Willing, Martin
Journalist und Schriftsteller (Biografie ZWEI LEBEN)