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Kapitel 24

7. Mai 1945

In Reims, im Hauptquartier des westalliierten Oberbefehlshabers Eisenhower, erscheinen zum letzten Akt Generaloberst Jodl, Admiral von Friedeburg und Luftwaffengeneral Oxenius. Es ist 2.41 Uhr französischer Zeit, 9.41 Uhr an der amerikanischen Ostküste. Vier Minuten später tickert die US-Nachrichtenagentur AP an alle angeschlossenen Redaktionen:

Reims, Frankreich, 7. Mai (AP) - Um 2.41 Uhr französischer Zeit hat Deutschland bedingungslos vor den westlichen Alliierten und der Sowjetunion kapituliert. Die Kapitulation erfolgte in einem kleinen roten Schulgebäude, dem Hauptquartier von General Dwight D. Eisenhower. Die Kapitulation, die den Krieg in Europa nach fünf Jahren, acht Monaten und sechs Tagen des Blutvergießens und der Zer-störung beendete, wurde für Deutschland von Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnet, dem neuen Stabschef der deutschen Armee.

Kapitulation
Die Gesamtkapitulation wird am 7. Mai 1945 unterzeichnet (v.l.): Admiral von Friedeburg, Generaloberst Jodl und General Oxenius als Vertreter der Luftwaffe.

Diese Meldung wird für den AP-Korrespondenten Edward Kennedy, der die Informationen aus Reims liefert, unangenehme Folgen haben: Er wird vom Dienst suspendiert werden, weil er sich an die verhängte Sperrfrist nicht hält. Alle anderen Korrespondenten, die in Reims vor Ort sind, respektieren die Nachrichtensperre.
Die Meldung vom Kriegsende verbreitet sich in Windeseile in Amerika. Während Menschen in New York jubeln, haben die Deutschen noch keine Ahnung, dass der Krieg vorbei ist. Die Begeisterung in Amerika legt sich auch nicht, als eine offizielle Bestätigung der Kapitulation ausbleibt. Die Alliierten halten sich streng an den Zeitplan. Nicht der 7., sondern der 8. Mai ist zum VE-Tag bestimmt - zum Victory in Europe-Tag.

Die Nachricht erreicht die Niederlande. In ihren Erinnerungen berichtet die Jüdin Flora A. van Beek, wie sie den Tag in Amersfoort erlebt hat:

„Spät am Abend kamen Bertus, Hannie und Felix plötzlich die Treppe heruntergerannt, gestikulierten wild und schrien aufgeregt: ‚Sie haben kapituliert, sie haben kapituliert! Die Deutschen haben bedingungslos kapituliert!‘ Einer der Jungen versuchte die holländische Nationalhymne zu singen. Wir waren alle außer uns. Als die anderen die Treppe herunterkamen, fielen wir einander in die Arme, küssten uns, weinten, schrien und purzelten übereinander. (…) Während all dieses Geschreis und Durcheinanders nahm Felix mich in die Arme. Während wir uns umschlungen hielten, sagte er immer und immer wieder: ‚Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft, wir haben es Gott sei Dank geschafft.‘ Dabei liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Wir blieben eine ganze Weile so stehen und versuchten zu begreifen, dass wir wirklich frei waren.“

Flory A. van Beek gehört zu den 6.000 Juden, die in Holland überlebt haben. In den ersten drei Jahren der Besatzung sind mehr als 100.000 Juden im deutschen Namen aus den Niederlanden deportiert und ermordet worden.

Am 7. Mai befreit die Rote Armee das Konzentrationslager Theresienstadt (heute in Tschechien).

Unmittelbar vor dem offiziellen Kriegsende trifft an der Elbe den Soldaten Robert Schmitz aus Kervenheim ein Kopfschuss. Zwei Wochen später wäre der Junge 18 Jahre alt geworden.

Im Kriegsgefangenenlager Rheinberg werden an diesem Tag 90.248 Gefangene gezählt. In Büderich sind es 76.924. Zelte oder sanitäre Anlagen gibt es immer noch nicht. Die Gefangenen haben auch kein Werkzeug und kein Material, um sich Schutzbehausungen herzustellen. Sie vegetieren unter freiem Himmel. Die verantwortlichen Amerikaner bauen nur Zäune und Wachtürme, aber nichts, was den Gefangenen ihr Los erleichtern könnte. Erst später, als die Bewacher Angst vor Seuchen bekommen, werden Gruben und Latrinen angelegt.

8. Mai 1945

Die Kapitulation des Dritten Reichs tritt am 8. Mai nach mitteleuropäischer Zeit um 23.01 Uhr, nach deutscher Sommerzeit am 9. Mai, um 00.01 Uhr, in Kraft.
Der Tag bleibt Heinz Koppers (Kervenheim) unvergessen:

„Am 8. Mai kam ich in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Erst feierten wir gemeinsam, dass alles vorüber war, dann, eine Woche später, lieferten die Amerikaner mich und 90.000 weitere Soldaten an die Russen aus.“

9. Mai 1945

Die Sowjets begnügen sich nicht mit der in Reims abgegebenen Erklärung der Deutschen, an allen Fronten die Waffen zu strecken. Stalin fordert die Kapitulation auch vor Marschall Schukow. Also wird in Berlin-Karlhorst am 9. Mai, 00.16 Uhr, die Unterzeichnung wiederholt, und zwar durch Generalfeldmarschall Keitel, Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Stumpff. Bereits seit 15 Minuten, seit 00.01 Uhr, schweigen die Waffen.

Um neun Uhr morgens gibt US-Präsident Harry S. Truman offiziell das Kriegsende in Europa bekannt, während im Pazifikraum weiter gekämpft wird. Truman rät Japan dringend zur bedingungslosen Kapitulation, andernfalls drohe der „nationale Selbstmord“. Was die Welt noch nicht weiß: Über Hiroshima und Nagasaki werden die ersten Atombomben explodieren.

In Europa sind nun siebeneinhalb Millionen deutsche Soldaten als Gefangene den Amerikanern, Briten und Franzosen ausgeliefert; mehr als drei Millionen werden von den Sowjets entwaffnet und gefangen genommen. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen, die in Sibirien die Lagerhaft überleben, werden erst elf Jahre später in ihre Heimat zurückkehren.

In Kevelaer reichen die Zeltunterkünfte im Durchgangslager zwischen Feldstraße und Niers für die befreiten Ausländer nicht aus. Zeitweilig leben im Wallfahrtsort mehr Ausländer als Deutsche. Am 8. Mai werden nun auch offiziell Priesterhaus und Basilika als Unterkünfte beschlagnahmt. Über eine Million Ausländer (displaced persons) werden es schließlich sein, die im Lauf des Jahrs 1945 von Kevelaer aus in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.

Die Basilika leidet unter dem „Taubenschlag“: Altäre werden geplündert, Silberrosetten und Ziersteine am Tabernakel des Hochaltars herausgebrochen, vergoldete Figuren an den Seitenaltären zerstört, Kirchenbänke verheizt, Holzschnitzereien an der Kommunionbank beschädigt, Verzierungen aus Leuchtern entfernt, Bleiverglasungen aus Kirchenfenstern gestohlen, steinerne Heiligenfiguren geköpft, wertvolle Gobelins des Hochchors entwendet. Vom Turm der Basilika werden Pfeifen der Orgel auf den Kapellenplatz geworfen.

Im Priesterhaus sind die Schäden ebenfalls beträchtlich. Der Dachstuhl des Fahnensaals und des Speisesaals, Türen und Vertäfelungen dienen als Brennholz, Wasserleitungen und Lichtanlagen werden abmontiert und entfernt, die Einrichtung aus 26 Zimmern größtenteils gestohlen. Wertvolle alte Gemälde gehen verloren - durch Beschuss oder Diebstahl.

Werner Pauen, der aus dem Lager Rheinberg abgeholt worden ist, um mit Sanitätern beim Aufbau eines US-Lazaretts in Mönchengladbach zu helfen, erlebt dort das Kriegsende:

„Ein deutscher Offizier rief seine Kameraden zusammen: ‚Stillgestanden! Ich habe Ihnen mitzuteilen, dass in dieser Nacht durch Kapitulation das Ende des Krieges eingetreten ist. Wir gedenken unserer gefallenen Soldaten‘. Alles war mucksmäuschenstill, die Amerikaner schauten verwundert auf die stramm stehenden Deutschen. Dann kam das ‚Rühren! Wegtreten!‘“

In Käthen, einem Ort in Sachsen-Anhalt, begibt sich an diesem Tag Hans Willems mit einem Fahrrad auf die lange Reise bis Kevelaer. Der Junge hat von seinem Vater den Auftrag bekommen zu erkunden, ob ihr Haus noch steht. Der Postlehrling besitzt einen dienstlichen Ausweis in Deutsch, Französisch und Englisch und kommt damit überall durch. Begleitet wird der Jugendliche von zwei Mädchen aus Weeze, deren Familien ebenfalls nach Sachsen-Anhalt evakuiert worden sind. Nach zehn Tagen erreichen die drei jungen Menschen Kevelaer, wo der junge Hans Willems in der Folgezeit eine führende Rolle im bald aufblühenden Schwarzhandel spielen wird. In den 1960er-Jahren wird Willems als Fraktionschef der SPD eine stadtbekannte Persönlichkeit werden.

Der 8. Mai ist zugleich das Datum der letzten Nachricht des Soldaten Gerhard Peter Boetselaars aus Kevelaer, Hubertusstr. 60. Er wird 1950 für tot erklärt werden. Er hinterlässt seine Frau Maria, Sohn Hans und Tochter Annemarie, die der Vater nie kennen gelernt hat.

9. Mai 1945

In den befreiten Niederlanden veröffentlichen die holländischen Behörden einen Aufruf: Die deutschen Soldaten dürften, während sie das Land verlassen, auf keinen Fall mehr schießen. Wer trotz der Kapitulation seine Waffen gebrauche, werde als Kriegsverbrecher betrachtet und verhaftet.

In Amersfoort, so wissen wir von Flora A. van Beek, tanzen Tausende von Menschen auf den Straßen und singen die Nationalhymne, den Wilhelmus.

„Es war alles so bewegend und beinah surrealistisch. Überall wurden Flaggen geschwenkt: britische Flaggen, amerikanische Flaggen, kanadische Flaggen und natürlich holländische Flaggen. Alle trugen orangefarbene Bänder, orangefarbene Schals, orangefarbene Anstecker (...) Ein Mann teilte sogar Flugblätter mit dem Text der amerikanischen Nationalhymne aus. Darunter war die niederländische Übersetzung abgedruckt. Ich fragte mich, woher er diese Flugblätter so schnell bekommen hatte.“

An diesem Tag erlebt Flora ein zweites Wunder: Ihr Bruder Ben Cohen, der als Jude 1940 aus dem besetzten Holland geflohen und über Frankreich und Spanien zu den Alliierten gestoßen ist, um dann als Soldat gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen, gilt für seine Schwester als verschollen. Als er nun in Soldatenuniform in seine Heimat zurückkehrt, warnt ihn ein Vorgesetzter: „Rechnen Sie nicht damit, dass irgendjemand von Ihren Angehörigen noch lebt.“ Ben Cohen fährt in den Ort, wo sich vor der Besatzung das Geschäftslokal eines seiner Brüder befunden hat. Ben geht die Straße entlang. Da kommt ihm seine Schwester Flora entgegen.

10. Mai 1945

Im Gefangenenlager Rheinberg wird am 10. Mai ein Krankenrevier mit Zelten eingerichtet. Von hier werden Schwerkranke nach Kamp-Lintfort in ein provisorisches Hospital des Roten Kreuzes gebracht.

Im Lager selbst verbessern sich die Bedingungen kaum. Immer wieder setzen gefangene deutsche Soldaten durch provozierend offene Fluchtversuche ihrem Leben ein Ende. Unter den Insassen herrschen Anarchie und Lynchjustiz. Für Vergehen, insbesondere Diebstahl unter Kameraden, setzt es Prügel an Ort und Stelle, oder es folgt Einsperren in winzige Arrestverhaue oder Anbinden an Pfähle mit Schildern um den Hals.

In Mürwik bei Flensburg residiert die geschäftsführende Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz in einem Schulgebäude. Sie hält sich für die erste Nachkriegsregierung und ahnt nicht, dass ihre Tage gezählt sind. Die „Verwaltung Dönitz“ - so heißt sie bei den Briten - wird vom 11. Mai an durch eine Kontrollkommission der Alliierten überwacht. Stalin verlangt ein sofortiges Ende einer eigenständigen deutschen Regierung und die Beseitigung der „militaristisch-faschistischen Dönitz-Clique“.

Churchill glaubt nicht mehr, dass mit Hilfe der „Verwaltung Dönitz“ die alliierte Besatzungspolitik erleichtert werden könnte, und gibt dem öffentlichen Druck, die Zusammenarbeit zwischen Dönitz und den Siegern zu beenden, nach. Dönitz wird für den 23. Mai auf ein Schiff in der Flensburger Förde bestellt. Mit Höflichkeiten halten sich der amerikanische Chef der Alliierten Kontrollkommission Generalmajor Lowell W. Rooks, der britische Brigadegeneral E. J. Foord und der sowjetische Generalmajor Truskow nicht auf. „Ich habe“, sagt Rooks zu Dönitz, „vom Obersten Alliierten Befehlshaber, General Eisenhower, den Befehl erhalten, Ihnen mitzuteilen, dass Sie sich als Kriegsgefangene zu betrachten haben.“

Während Dönitz und seine Begleiter noch auf dem Schiff sind, rücken Infanteristen und Panzer in Mürwik ein und unterstützen die Militärpolizei, die nun alle Mitglieder der „geschäftsführenden Reichsregierung“ verhaftet, darunter Albert Speer. Die Siegermächte lassen sich zwei Wochen Zeit, die Ausschaltung der Dönitz-Regierung bekannt zu geben.

In den Niederlanden werden umgehend alle von den Deutschen erlassenen Gesetze annulliert. Nach schlimmsten Hungersnöten erleben die Holländer nun Gefühle wie im Schlaraffenland: Aus Amerika und Schweden treffen unablässig Ladungen von Nahrungsmitteln, Bekleidung und wichtigen Gebrauchsgegenständen ein. Das Jewish Joint Distribution Committee of America lässt koschere Lebensmittel ins befreite Land bringen. Auch jüdische Gebetbücher gehören zu den Lieferungen. Indes, die meisten Juden, die vor der Besatzung in den Niederlanden gelebt haben, sind ermordet. In vielen Orten werden Gedenkgottesdienste für die Opfer gehalten.

Admiral Hans-Georg von Friedeburg vergiftet sich nach seiner Verhaftung in Mürwik. Die Generäle Alfred Jodl und Wilhelm Keitel werden 1946 in Nürnberg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das gleiche Urteil trifft Dr. Arthur Seyß-Inquart, den Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Auch er wird 1946 hingerichtet. „Reichsmarschall“ Hermann Göring, ebenfalls zum Tode verurteilt, nimmt wenige Stunden vor dem Hinrichtungstermin Gift.

Großadmiral Dönitz wird in Nürnberg zu zehn Jahren Haft verurteilt und stirbt 1980 im Alter von 89 Jahren.

Rüstungsminister Albert Speer wird für 20 Jahre ins Spandauer Gefängnis geschickt. Von dort kann er im Lauf der langen Zeit Tausende von Kassibern nach draußen schmuggeln. Aus diesem Berg von Zetteln entsteht die erste (von drei) Fassungen seiner Erinnerungen, die nach seiner Entlassung im September 1966 erscheinen, ein Weltbestseller werden und der großbürgerlichen Familie Speer den früheren Wohlstand zurückbringen.

Heute gilt als gesichert, dass Speers Versicherung, nicht gewusst zu haben, dass auf die deportierten Juden die massenhafte Ermordung wartete - damit war Speer vor dem Nürnberger Tribunal letztlich erfolgreich gewesen, denn ihm wurde der Strang erspart -, auf Lüge beruht. Es ist schlechterdings nicht denkbar, dass der zweitmächtigste Mann im NS-Staat mit seinen umfassenden Einflussmöglichkeiten, über die kein zweiter Hitler-Vertrauer verfügte, keine Ahnung von der Massenvernichtung gehabt haben soll. Unmittelbar nach dem Krieg hatte Speer die Richter in Nürnberg und später die Historiker täuschen können. Heute gilt die Vorstellung von einem ahnungslosen Speer als Trugbild, von dem sich zuletzt auch Speer-Biograf Joachim Fest distanziert hat.

Heinrich Himmler, der als junger Mann praktizierender Katholik gewesen ist und sich, wie seine Schwester Katrin Himmler einmal schrieb, Weihnachten 1919 von der Christmette „mächtig ergreifen“ ließ und der als 19-Jähriger in sein Tagebuch eintrug, „Mag es gehen, wie es will, Gott werde ich immer lieben, zu ihm beten und der katholischen Kirche anhangen und sie verteidigen, selbst wenn ich aus ihr ausgeschlossen sein sollte“ - dieser Mann entwickelte sich während der NS-Zeit zum monströsen Völkermörder schlechthin.

Keinem anderen wäre vor Gericht die millionenfache Menschenvernichtung so leicht nachzuweisen gewesen wie Himmler, denn Tausende von Dokumenten tragen seine Unterschrift.

Als er bei Dönitz abgeblitzt ist, steht Himmler auf verlorenem Posten und sucht sein Heil in der Flucht. Als „Feldwebel Heinrich Hitzinger“ maskiert er sich dilettantisch: Er hängt sich eine Augenklappe um und trägt darüber seine hinreichend bekannte Brille. Auch in Zivil ist „Hitzinger“ unschwer als Himmler zu erkennen.

Mit zwei SS-Getreuen irrt Himmler zunächst im Raum Flensburg umher und gelangt schließlich in die Nähe von Bremervörde, wo ein Kontrollposten, bestehend aus befreiten sowjetischen Soldaten, die Papiere der drei Männer sehen will. Der vermeintliche Feldwebel Hitzinger wird in den folgenden drei Tagen durch mehrere Lager geschleust und landet am 23. Mai 1945 im 31. Civilian Interrogation Camp der britischen Streitkräfte in der Nähe von Lüneburg.

Captain Selvester, zuständig für die Überprüfung neuer Gefangener, wird in seiner Routine gestört: Drei ehemalige deutsche Soldaten verlangen, sofort vorgeführt zu werden. Da wird Selvester hellhörig, denn die meisten Gefangenen bemühen sich um Unauffälligkeit. Ein kleiner, krank wirkender Mann tritt ein. Der entfernt die Augenklappe und meldet, er sei Heinrich Himmler, ehemaliger Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Befehlshaber des Ersatzheeres der Deutschen Wehrmacht und Innenminister des Deutschen Reichs.

Selvester ruft einen Vorgesetzten herbei. Himmler muss eine Unterschriftenprobe geben. Bei der Durchsuchung der Kleidung findet Selvester ein Glasröhrchen mit einer farblosen Flüssigkeit, von dem er sofort annimmt, dass es sich um Zyankali handelt. Aber er gibt sich unwissend und akzeptiert scheinbar Himmlers Erklärung, in dem Röhrchen sei ein Mittel gegen Magenkrämpfe.

Bis tief in die Nacht wird Himmler weiter verhört, und weil seine Kleidung außerhalb des Raums peinlich genau untersucht wird, sitzt Himmler in Unterhosen da.

Am folgenden Tag wird er nach Lüneburg verlegt, wo eine gründliche medizinische Untersuchung auf ihn wartet. Man will das Zyankali finden, dass Himmler mit Sicherheit noch bei sich führt. Der untersuchende Arzt entdeckt im Mund Himmlers die blaue Spitze eines Objekts. Als der Arzt danach fingert, reißt Himmler den Kopf zur Seite und zerbeißt die Giftkapsel.

Nach 15 Minuten werden die Wiederbelebungsversuche aufgegeben. Drei Tage nach seinem Selbstmord wird die Leiche Himmlers in einem namenlosen Grab, das unbekannt geblieben ist, ohne religiöse Zeremonie bestattet.

Die Widerstandskämpferin Diet Eman, die zu den vielen großartigen Menschen in den besetzten Niederlanden gehört, die allen Gefahren zum Trotz Juden geholfen und für sie Verstecke organisiert haben, überlebt Verhaftung und Konzentrationslager. Seit bereits einem Jahr ist der Kopf ihrer Widerstandsgruppe, Hein Sietsma, ihr Verlobter, von den Nazis in verschiedenen Lagern festgehalten worden. Diet und Hein sind aus christlicher Überzeugung, aus Nächstenliebe, in den Widerstand gegangen. Ihre Briefe, die sich die beiden reformierten Protestanten schrieben, bezeugen ihre Gesinnung. „Es war Gottes Wille“, schreibt Diet, „dass wir uns für die Juden einsetzten, die so leiden mußten.“

Vier Wochen nach der Befreiung der Niederlande bekommt Diet Eman Besuch eines Bekannten. Er bringt einen Brief von Heins Vater. Darin liest Diet, dass ihr Verlobter bereits am 20. Januar 1945 im KZ Dachau gestorben ist. „Ich ging in mein Zimmer“, schreibt sie in ihrem Buch.

Hein Sietsma ist mit gefälschtem Ausweis verhaftet worden. Neben seinem Kampfnamen stand als Beruf „Pastor“. So geriet er im KZ Dachau in den Priesterblock. Hier starb er.

Diet Eman gibt am 19. Juni 1945 eine Anzeige auf:

„Nach jahrelangem, unermüdlichem Kampf gegen den Nationalsozi-alismus gab mein innig geliebter Verlobter Hein Sietsma im Alter von 25 Jahren Mitte Januar im Konzentrationslager Dachau sein Leben. Gott leitet uns nach seinem Rat und hat ihn in seine Herrlichkeit aufgenommen. Den Haag, 19. Juni 1945. Diet Eman.“

Nach Erscheinen der Anzeige bekommt die Frau Briefe von Menschen, die sie nicht kennt - von Pastören und Widerstandskämpfern, die Hein Sietsma im Lager getroffen haben. Er habe auch angesichts des tiefen Elends, in dem sie sich befanden, von seinem unerschütterlichen Glauben an die Verheißungen Gottes gesprochen. „Er war für sie ein Licht in der Finsternis“, schreibt Diet Eman. Im Juli 1945 erhält sie einen weiteren Brief von einem Geistlichen: „Ich habe Hein (wir nannten ihn Hendrijk) zehn Wochen gekannt (...) Manche Bilder verblassen zwar, hinterlassen jedoch einen Eindruck, der bleibt. Einen solchen Eindruck hat das Bild von Hein Sietsma auf mich gemacht - das Bild eines fröhlichen Christen, der das Leben so sehr liebte, aber der bereit war, es hinzugeben für die große, gute und heilige Sache.“

Im April 1977 ernennt die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Hein Sietsma und seinen Bruder Henk zu Gerechten unter den Völkern.

Diet Eman veröffentlicht 1994 in den USA ihr Buch, das unter dem Titel „Liebe, die den Haß besiegt“ auch in deutscher Sprache erschienen ist. „Trotz allem“, schreibt sie zum Schluss, „kann ich heute wie damals mit David sagen: 'Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat' (Psalm 103,2).“

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© Martin Willing 2012, 2013