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Kapitel 23

3. Mai 1945

Im Lübecker Hafen stauen sich seit zwei Wochen Menschenmassen. Es sind Tausende KZ-Häftlinge aus Neuengamme, Fürstengrube und anderen Lagern im Osten, von der SS nach Lübeck getrieben. Sie werden in Schiffe gepfercht und sich selbst überlassen. Bereits während der Liegezeit im Hafen sterben ungezählte Gefangene an fehlender Ernährung und den unmenschlichen Zuständen auf den überfüllten Schiffen.

Cap Arcona
Die Cap Arcona: Schiffsdrama vor Timmerdorfer Strand.

Zwei dieser KZ-Schiffe sind die Cap Arcona und die Thielbek, die am 3. Mai mit zusammen 7.000 Häftlingen auslaufen. Die Schiffe sind mit Bordwaffen ausgestattet und werden von Piloten der Royal Air Force für Truppentransporter gehalten, mit denen deutsche Soldaten über die Ostsee entweichen wollen. 200 Bomber fliegen einen Großangriff auf die Armada von vermeintlichen Truppentransportern in der Lübecker und Kieler Bucht. 23 Schiffe werden vernichtend getroffen.

Vom Timmendorfer Strand aus sieht man die brennende Cap Arcona, wie sie sich auf die Seite legt und wegen der geringen Wassertiefe nur halb sinkt. Verzweifelt versuchen die KZ-Gefangenen, schwimmend das rettende Ufer zu erreichen, verlieren aber im nur acht Grad kalten Wasser nach wenigen Minuten ihre Kräfte. Wer nicht ertrinkt, wird von Maschinengewehren, mit denen die Briten auf die vermeintlichen deutschen Soldaten im Wasser schießen, getötet. 6.400 der 7.000 KZ-Insassen auf der Cap Arcona und der ebenfalls angegriffenen Thielbek verbrennen, ertrinken oder werden erschossen.

Während sich in der Ostsee dieses Drama ereignet - eine der verlustreichsten Schiffskatastrophen der Geschichte -, bleibt ein anderes den Deutschen erspart: München oder Frankfurt sind ausgewählt, das Ziel einer neuen Waffe der Amerikaner zu werden. Aber wegen der Kapitulation der Hauptstadt am 2. Mai und der absehbaren Gesamtniederlage des Deutschen Reichs entscheiden sich die US-Planer für Hiroschima und Nagasaki. Dort werden die ersten Atombomben fallen.

Unterdessen gibt sich die geschäftsführende Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz in Plön dem Trugbild hin, sie könnte regieren. Der bisherige Rüstungsminister Albert Speer übernimmt auf dem Papier das „Ministerium für Wirtschaft und Produktion“ und entwirft Luftschlösser für die Nachkriegszeit.

Dönitz beendet den Krieg immer noch nicht, sondern verabredet am 3. Mai in einer Besprechung mit dem Reichskommissar für die Niederlande, Seyß-Inquart, in Holland solle weitergekämpft werden; allerdings seien neue Überschwemmungen des Landes zu vermeiden.

Seyß-Inquart will sofort nach der Unterredung mit Dönitz Den Haag aufsuchen, aber an der Westküste Schweswig-Holsteins, wo ein Schnellboot der Kriegsmarine auf ihn wartet, wütet ein Sturm. Die schwere See erlaubt kein Auslaufen. Seyß-Inquart kehrt ins Dönitz-Quartier zurück. Er ruft von Plön aus seinen Verbindungsmann Dr. Schwebel in Den Haag an und trägt ihm auf, die Verhandlungspartner der Alliierten zu informieren, dass er, Seyß-Inquart, als Vermittler zwischen ihnen und der Reichsregierung zur Verfügung stehe. Leider sitze er wegen des Sturms fest und bitte um freies Geleit für den Landweg, um in Friedensverhandlungen eintreten zu können.

Die Antwort fällt klipp und klar aus: Es gebe nichts zu verhandeln. Deutschland habe nur eine Option, nämlich die bedingungslose Kapitulation. Und dafür brauche man Seyß-Inquart nicht. Er könne ruhig bei Dönitz bleiben.

4. Mai 1945

Noch bevor Dönitz an diesem Freitag die Kapitulation aller deutschen Streitkräfte in den Niederlanden, in Nordwestdeutschland und in Dänemark erklären lässt, wird Seyß-Inquart vom Großadmiral zurück in die Niederlande geschickt. Er müsse, wie auch immer, auf seinen Posten in Den Haag zurückkehren.

Weil es immer noch stürmt, versucht der Reichskommissar, mit dem Auto die Niederlande zu erreichen. Die Fahrt im Konvoi führt durch eine der Vorstädte Hamburgs. Die Straßen sind verstopft. Alliierte Soldaten kontrollieren im Stau jedes Auto und auch den deutschen Wagen, in dem vier Männer, auffällig gekleidet wie Operetten-Generäle, sitzen. Arthur Seys-Inquart kramt nach seinem Ausweis und erklärt: „I'm going to see Montgomery.“

Die vier Männer werden zur Überprüfung in ein Hotel geführt. Als ein niederländischer Hauptmann Seyß-Inquart erkennt, ruft er ihn bei seinem unter Holländern verbreiteten Spitznamen an: „Daar heb je Zes en een Kwart!“ - Damit senkt sich der Vorhang vor dem Reichskommissar, der von nun an Gefangener der Alliierten ist und in Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt werden wird.

Ohne seine Mitwirkung wird bei Lüneburg im britischen Hauptquartier die Kapitulation in den Niederlanden, Nordwestdeutschland und Dänemark wirksam, erklärt durch Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg und am 4. Mai verkündet durch den britischen Feldmarschall Bernhard Montgomery. Der ist nun fast am Ziel - nach der fehlgeschlagenen Luftlandeoperation bei Arnheim 1944, nach der Eroberung des Niederrheins und des Ruhrgebiets.

Montgomery ist einverstanden, dass sich die deutschen Truppen, die in Mecklenburg gegen Sowjets kämpfen, in britische (und nicht in sowjetische) Kriegsgefangenschaft begeben. In Haar bei München kapituliert am selben Tag die Heeresgruppe G.

Mit diesen Teilkapitulationen steht der Krieg vor seinem Ende. Was auch immer den Alliierten vorgehalten werden kann - sie sind im Recht, wenn sie den Krieg mit allen Mitteln zu beenden versuchen: Allein in den letzten neun Monaten, so grausam kann Statistik sein, sind täglich fast 17.000 Menschen getötet worden, insgesamt über 4,8 Millionen - fast doppelt so viele wie im gesamten Zeitraum des Kriegs von 1939 bis 1944.

Dass auch in Holland die Waffen niedergelegt werden sollen, haben deutsche Soldaten in Amersfoort noch nicht mitbekommen. Flora A. van Beek schildert den 4. Mai in ihren Erinnerungen:

„Dann, am Freitagabend, hörten wir Menschen jubelnd durch die Straßen laufen und rufen: ‚Es ist Frieden, es ist Frieden!‘ (...) Aber unsere Freude währte nicht lange. Um elf Uhr nachts marschierten die Deutschen unerwartet durch die Straßen und schossen sich den Weg frei. Wir stürzten alle in die Häuser, entsetzt und völlig verwirrt. In null Komma nichts herrschte auf den Straßen wieder Grabesstille.“

5. Mai 1945

Endlich, am 5. Mai, befiehlt Generaloberst Blaskowitz in der „Festung Holland“, die seit dem 19. April durch den britischen Vorstoß bei Arnheim bis Groningen und zum Ijsselmeer von ihren Verbindungen abgeschnitten ist, die Kapitulation der deutschen Truppen in den Niederlanden. Er bezieht sich auf die am Vortag gegenüber Montgomery erklärte Teilkapitulation.

In Den Haag nimmt noch am selben Tag ein niederländischer Verwalter die Regierungsgeschäfte in die Hand. Die Räume des verhafteten Reichskommissars Seyß-Inquart werden leer geräumt. Bücher und Papiere aus den Büros werden vor seiner Dienstvilla Clingendaal auf dem Rasen verbrannt. Einkassiert wird dagegen ein beachtlicher Vorrat an Zigarren und Herrenunterwäsche.

In Amersfoort warten Flora A. van Beek und andere, die im Untergrund die Besatzungszeit überlebt haben, gespannt auf neue Nachrichten.

„Uns überwältigte die Ungewissheit. Im Radio hieß es, wir müssten auf den Einmarsch der alliierten Truppen warten. Wir wussten nicht, was passierte. Das deutsche Militär war immer noch da. Die SS-Mitglieder hielten immer noch Brücken besetzt, verhafteten nach wie vor Zivilisten und schossen weiterhin nach Herzenslust um sich. Onkel Henk sagte: ‚Wollen die Moffen denn nie aufgeben? Das sind wirklich schlechte Verlierer!‘ (...) Es war offensichtlich, dass die Deutschen selbst nicht wussten, was geschah. Ein Teil ihrer Soldaten schien zu wissen, dass sie kapitulieren mussten, und ein anderer Teil behauptete, es handle sich nur um einen Waffenstillstand.“

Aber im Laufe des 5. Mai kommt die Erlösung, wie Diet Eman vom niederländischen Widerstand berichtet:

„Die Königin, die sich bereits in Breda, im befreiten Süden aufhielt, sprach per Radio zu ihrem Volk. Eine Welle der Rührung ging über ganz Holland.“

Der 5. Mai ist auch der Tag, an dem Werner Pauen, der spätere Medizinaldirektor im Kreis Kleve, das Kriegsgefangenenlager in Rheinberg verlassen darf. Ein amerikanischer Soldat fordert ihn auf, in einer halben Stunde mit zehn Sanitätern bereit zu stehen. Die Fahrt in einem US-Lastwagen geht quer durch den Niederrhein. In Höhe Aldekerk schmeißt Pauen einen Zettel aus dem Wagen. Mit Bleistift hat er darauf geschrieben:

„Kriegsgefangenennachricht! Habe Krieg überlegt, bin in amerikanischer Gefangenschaft". Dazu die Adresse seiner Eltern in Neuss.

Der Zettel fällt einem älteren Mann vor die Füße. Pauen ruft noch: „Bitte weiterleiten!“ Und tatsächlich fährt der alte Mann - warum er diese Strapaze auf sich nimmt, hat Pauen nie erfahren - am nächsten Tag mit dem Fahrrad bis nach Neuss und gibt den Eltern den Zettel. Die sind überglücklich, denn sie haben ihren Sohn noch im Osten gewähnt.

Dort gehen die blutigen Kämpfe unvermindert weiter. SS-Einheiten liefern sich mit tschechischen Widerstandstruppen am 5. Mai erbitterte Gefechte in Prag. Deutsche Zivilisten erleiden die ersten der grausamen Übergriffe durch Einheimische. - Am selben Tag befreien die Amerikaner das größte KZ der Deutschen in Österreich, das Konzentrationslager Mauthausen.

6. Mai 1945

Hermann Göring, der morphiumsüchtige ehemalige Reichsmarschall, schwebt immer noch über der Realität. Er telegrafiert an Dönitz, es sei ja wohl am besten, wenn er, der Reichsmarschall, mit US-General Eisenhower „von Marschall zu Marschall“ verhandele und nicht etwa Generaloberst Alfred Jodl.
Hermann Göring
Hermann Göring (l.) nach der Gefangennahme duch die 7. US-Armee während eines Verhörs im Mai 1945 in Augsburg.
Foto aus: Leonard Mosley, Göring. Eine Biographie. München 1974. S. 304


Dönitz reagiert auf Görings Hirngespinst nicht. Er hat inzwischen die bedingungslose Kapitulation als einzige Möglichkeit erkannt. Görings guter Laune tut die Nichtantwort keinen Abbruch. Sein Auto mischt sich in den Flüchtlingsstrom auf den Straßen in Süddeutschland, und immer wenn Göring erkannt wird, schüttelt der „Reichsmarschall“ Hände wie ein Staatsgast in der Menge. Als er endlich auf Amerikaner trifft, scheint er völlig von der Rolle zu sein: Er begrüßt sie geradezu euphorisch und hält wenig später im Kitzbühler US-Quartier Hof, umgeben von Fotografen und Reportern. Als Eisenhower davon erfährt, lässt er empört Göring so schnell wie möglich festsetzen und als gewöhnlichen Kriegsgefangenen behandeln.

Am selben Tag sieht sich Dönitz genötigt, den früheren Reichsführer-SS Heinrich Himmler offiziell aus seinem Amt als Reichsinnenminister zu entlassen. Der testamentarischen Amtsenthebung noch durch Hitler traut Dönitz offenbar nicht. Er, Himmler, möge sich künftig vom Sitz der geschäftsführenden Reichsregierung fernhalten, sagt Dönitz zum Abschied.

Himmler verdrückt sich mit einem gefälschten Soldbuch und versucht, im Heer der deutschen Soldaten als Feldwebel Heinrich Hitzinger abzutauchen.

Kapitel 23

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© Martin Willing 2012, 2013