3. Mai 1945
Im Lübecker Hafen stauen sich seit zwei Wochen Menschenmassen. Es sind
Tausende KZ-Häftlinge aus Neuengamme, Fürstengrube und anderen Lagern im
Osten, von der SS nach Lübeck getrieben. Sie werden in Schiffe gepfercht
und sich selbst überlassen. Bereits während der Liegezeit im Hafen
sterben ungezählte Gefangene an fehlender Ernährung und den
unmenschlichen Zuständen auf den überfüllten Schiffen.
Die Cap Arcona:
Schiffsdrama vor Timmerdorfer Strand.
Zwei dieser KZ-Schiffe sind die
Cap Arcona und die
Thielbek, die am 3. Mai mit zusammen 7.000 Häftlingen auslaufen.
Die Schiffe sind mit Bordwaffen ausgestattet und werden von Piloten der
Royal Air Force für Truppentransporter gehalten, mit denen deutsche
Soldaten über die Ostsee entweichen wollen. 200 Bomber fliegen einen
Großangriff auf die Armada von vermeintlichen Truppentransportern in der
Lübecker und Kieler Bucht. 23 Schiffe werden vernichtend getroffen.
Vom Timmendorfer Strand aus sieht man die brennende
Cap Arcona,
wie sie sich auf die Seite legt und wegen der geringen Wassertiefe nur
halb sinkt. Verzweifelt versuchen die KZ-Gefangenen, schwimmend das
rettende Ufer zu erreichen, verlieren aber im nur acht Grad kalten
Wasser nach wenigen Minuten ihre Kräfte. Wer nicht ertrinkt, wird von
Maschinengewehren, mit denen die Briten auf die vermeintlichen deutschen
Soldaten im Wasser schießen, getötet. 6.400 der 7.000 KZ-Insassen auf
der Cap Arcona und der ebenfalls angegriffenen Thielbek verbrennen,
ertrinken oder werden erschossen.
Während sich in der Ostsee dieses Drama ereignet - eine
der verlustreichsten Schiffskatastrophen der Geschichte -, bleibt ein
anderes den Deutschen erspart: München oder Frankfurt sind ausgewählt,
das Ziel einer neuen Waffe der Amerikaner zu werden. Aber wegen der
Kapitulation der Hauptstadt am 2. Mai und der absehbaren
Gesamtniederlage des Deutschen Reichs entscheiden sich die US-Planer für
Hiroschima und Nagasaki. Dort werden die ersten Atombomben fallen.
Unterdessen gibt sich die geschäftsführende Reichsregierung unter
Großadmiral Dönitz in Plön dem Trugbild hin, sie könnte regieren. Der
bisherige Rüstungsminister Albert Speer übernimmt auf dem Papier das
„Ministerium für Wirtschaft und Produktion“ und entwirft Luftschlösser
für die Nachkriegszeit.
Dönitz beendet den Krieg immer noch nicht, sondern verabredet am 3. Mai
in einer Besprechung mit dem Reichskommissar für die Niederlande,
Seyß-Inquart, in Holland solle weitergekämpft werden; allerdings seien
neue Überschwemmungen des Landes zu vermeiden.
Seyß-Inquart will sofort nach der Unterredung mit Dönitz Den Haag
aufsuchen, aber an der Westküste Schweswig-Holsteins, wo ein Schnellboot
der Kriegsmarine auf ihn wartet, wütet ein Sturm. Die schwere See
erlaubt kein Auslaufen. Seyß-Inquart kehrt ins Dönitz-Quartier zurück.
Er ruft von Plön aus seinen Verbindungsmann Dr. Schwebel in Den Haag an
und trägt ihm auf, die Verhandlungspartner der Alliierten zu
informieren, dass er, Seyß-Inquart, als Vermittler zwischen ihnen und
der Reichsregierung zur Verfügung stehe. Leider sitze er wegen des
Sturms fest und bitte um freies Geleit für den Landweg, um in
Friedensverhandlungen eintreten zu können.
Die Antwort fällt klipp und klar aus: Es gebe nichts zu verhandeln.
Deutschland habe nur eine Option, nämlich die bedingungslose
Kapitulation. Und dafür brauche man Seyß-Inquart nicht. Er könne ruhig
bei Dönitz bleiben.
4. Mai 1945
Noch bevor Dönitz an diesem Freitag die Kapitulation aller deutschen
Streitkräfte in den Niederlanden, in Nordwestdeutschland und in Dänemark
erklären lässt, wird Seyß-Inquart vom Großadmiral zurück in die
Niederlande geschickt. Er müsse, wie auch immer, auf seinen Posten in
Den Haag zurückkehren.
Weil es immer noch stürmt, versucht der Reichskommissar, mit dem Auto
die Niederlande zu erreichen. Die Fahrt im Konvoi führt durch eine der
Vorstädte Hamburgs. Die Straßen sind verstopft. Alliierte Soldaten
kontrollieren im Stau jedes Auto und auch den deutschen Wagen, in dem
vier Männer, auffällig gekleidet wie Operetten-Generäle, sitzen. Arthur
Seys-Inquart kramt nach seinem Ausweis und erklärt: „I'm going to see
Montgomery.“
Die vier Männer werden zur Überprüfung in ein Hotel geführt. Als ein
niederländischer Hauptmann Seyß-Inquart erkennt, ruft er ihn bei seinem
unter Holländern verbreiteten Spitznamen an: „Daar heb je Zes en een
Kwart!“ - Damit senkt sich der Vorhang vor dem Reichskommissar, der von
nun an Gefangener der Alliierten ist und in Nürnberg als einer der
Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt werden wird.
Ohne seine Mitwirkung wird bei Lüneburg im britischen
Hauptquartier die Kapitulation in den Niederlanden, Nordwestdeutschland
und Dänemark wirksam, erklärt durch Generaladmiral Hans-Georg von
Friedeburg und am 4. Mai verkündet durch den britischen Feldmarschall
Bernhard Montgomery. Der ist nun fast am Ziel - nach der
fehlgeschlagenen Luftlandeoperation bei Arnheim 1944, nach der Eroberung
des Niederrheins und des Ruhrgebiets.
Montgomery ist einverstanden, dass sich die deutschen Truppen, die in
Mecklenburg gegen Sowjets kämpfen, in britische (und nicht in
sowjetische) Kriegsgefangenschaft begeben. In Haar bei München
kapituliert am selben Tag die Heeresgruppe G.
Mit diesen Teilkapitulationen steht der Krieg vor seinem Ende. Was auch
immer den Alliierten vorgehalten werden kann - sie sind im Recht, wenn
sie den Krieg mit allen Mitteln zu beenden versuchen: Allein in den
letzten neun Monaten, so grausam kann Statistik sein, sind täglich fast
17.000 Menschen getötet worden, insgesamt über 4,8 Millionen - fast
doppelt so viele wie im gesamten Zeitraum des Kriegs von 1939 bis 1944.
Dass auch in Holland die Waffen niedergelegt werden sollen, haben
deutsche Soldaten in Amersfoort noch nicht mitbekommen. Flora A. van
Beek schildert den 4. Mai in ihren Erinnerungen:
► „Dann, am Freitagabend, hörten wir
Menschen jubelnd durch die Straßen laufen und rufen: ‚Es ist Frieden, es
ist Frieden!‘ (...) Aber unsere Freude währte nicht lange. Um elf Uhr
nachts marschierten die Deutschen unerwartet durch die Straßen und
schossen sich den Weg frei. Wir stürzten alle in die Häuser, entsetzt
und völlig verwirrt. In null Komma nichts herrschte auf den Straßen
wieder Grabesstille.“
5. Mai 1945
Endlich, am 5. Mai, befiehlt Generaloberst Blaskowitz in der „Festung
Holland“, die seit dem 19. April durch den britischen Vorstoß bei
Arnheim bis Groningen und zum Ijsselmeer von ihren Verbindungen
abgeschnitten ist, die Kapitulation der deutschen Truppen in den
Niederlanden. Er bezieht sich auf die am Vortag gegenüber Montgomery
erklärte Teilkapitulation.
In Den Haag nimmt noch am selben Tag ein niederländischer Verwalter die
Regierungsgeschäfte in die Hand. Die Räume des verhafteten
Reichskommissars Seyß-Inquart werden leer geräumt. Bücher und Papiere
aus den Büros werden vor seiner Dienstvilla Clingendaal auf dem Rasen
verbrannt. Einkassiert wird dagegen ein beachtlicher Vorrat an Zigarren
und Herrenunterwäsche.
In Amersfoort warten Flora A. van Beek und andere, die
im Untergrund die Besatzungszeit überlebt haben, gespannt auf neue
Nachrichten.
► „Uns überwältigte die Ungewissheit.
Im Radio hieß es, wir müssten auf den Einmarsch der alliierten Truppen
warten. Wir wussten nicht, was passierte. Das deutsche Militär war immer
noch da. Die SS-Mitglieder hielten immer noch Brücken besetzt,
verhafteten nach wie vor Zivilisten und schossen weiterhin nach
Herzenslust um sich. Onkel Henk sagte: ‚Wollen die Moffen denn nie
aufgeben? Das sind wirklich schlechte Verlierer!‘ (...) Es war
offensichtlich, dass die Deutschen selbst nicht wussten, was geschah.
Ein Teil ihrer Soldaten schien zu wissen, dass sie kapitulieren mussten,
und ein anderer Teil behauptete, es handle sich nur um einen
Waffenstillstand.“
Aber im Laufe des 5. Mai kommt die Erlösung, wie Diet Eman vom
niederländischen Widerstand berichtet:
► „Die Königin, die sich bereits in
Breda, im befreiten Süden aufhielt, sprach per Radio zu ihrem Volk. Eine
Welle der Rührung ging über ganz Holland.“
Der 5. Mai ist auch der Tag, an dem
Werner Pauen,
der spätere Medizinaldirektor im Kreis Kleve, das Kriegsgefangenenlager
in Rheinberg verlassen darf. Ein amerikanischer Soldat fordert ihn auf,
in einer halben Stunde mit zehn Sanitätern bereit zu stehen. Die Fahrt
in einem US-Lastwagen geht quer durch den Niederrhein. In Höhe Aldekerk
schmeißt Pauen einen Zettel aus dem Wagen. Mit Bleistift hat er darauf
geschrieben:
„Kriegsgefangenennachricht! Habe Krieg überlegt, bin in amerikanischer
Gefangenschaft". Dazu die Adresse seiner Eltern in Neuss.
Der Zettel fällt einem älteren Mann vor die Füße. Pauen ruft noch:
„Bitte weiterleiten!“ Und tatsächlich fährt der alte Mann - warum er
diese Strapaze auf sich nimmt, hat Pauen nie erfahren - am nächsten Tag
mit dem Fahrrad bis nach Neuss und gibt den Eltern den Zettel. Die sind
überglücklich, denn sie haben ihren Sohn noch im Osten gewähnt.
Dort gehen die blutigen Kämpfe unvermindert weiter. SS-Einheiten liefern
sich mit tschechischen Widerstandstruppen am 5. Mai erbitterte Gefechte
in Prag. Deutsche Zivilisten erleiden die ersten der grausamen
Übergriffe durch Einheimische. - Am selben Tag befreien die Amerikaner
das größte KZ der Deutschen in Österreich, das Konzentrationslager
Mauthausen.
6. Mai 1945
Hermann Göring, der morphiumsüchtige ehemalige Reichsmarschall, schwebt
immer noch über der Realität. Er telegrafiert an Dönitz, es sei ja wohl
am besten, wenn er, der Reichsmarschall, mit US-General Eisenhower „von
Marschall zu Marschall“ verhandele und nicht etwa Generaloberst Alfred
Jodl.
Hermann Göring (l.) nach der
Gefangennahme duch die 7. US-Armee während eines Verhörs im Mai 1945 in
Augsburg.
Foto aus: Leonard Mosley, Göring. Eine Biographie. München 1974. S. 304
Dönitz reagiert auf Görings Hirngespinst nicht. Er hat inzwischen die
bedingungslose Kapitulation als einzige Möglichkeit erkannt. Görings
guter Laune tut die Nichtantwort keinen Abbruch. Sein Auto mischt sich
in den Flüchtlingsstrom auf den Straßen in Süddeutschland, und immer
wenn Göring erkannt wird, schüttelt der „Reichsmarschall“ Hände wie ein
Staatsgast in der Menge. Als er endlich auf Amerikaner trifft, scheint
er völlig von der Rolle zu sein: Er begrüßt sie geradezu euphorisch und
hält wenig später im Kitzbühler US-Quartier Hof, umgeben von Fotografen
und Reportern. Als Eisenhower davon erfährt, lässt er empört Göring so
schnell wie möglich festsetzen und als gewöhnlichen Kriegsgefangenen
behandeln.
Am selben Tag sieht sich Dönitz genötigt, den früheren Reichsführer-SS
Heinrich Himmler offiziell aus seinem Amt als Reichsinnenminister zu
entlassen. Der testamentarischen Amtsenthebung noch durch Hitler traut
Dönitz offenbar nicht. Er, Himmler, möge sich künftig vom Sitz der
geschäftsführenden Reichsregierung fernhalten, sagt Dönitz zum Abschied.
Himmler verdrückt sich mit einem gefälschten Soldbuch und versucht, im
Heer der deutschen Soldaten als Feldwebel Heinrich Hitzinger
abzutauchen.