Logo für Blattus Martini

Titelbutton
logo INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 12

6. März 1945

Um 4 Uhr morgens ziehen kanadische Einheiten durch Sonsbeck. Der Ort ist völlig verlassen. Britische Truppen besetzen den Höhenzug Bönninghardt und rücken bis Alpen vor. In den Wäldern der Leucht erlischt der Widerstand. Am Morgen greifen Amerikaner die wichtige Kreuzung der Reichsstraßen 57 und 58 an. Hier, bei Grünthal, wenige Kilometer vor der Rheinbrücke Wesel, bleibt der Vorstoß im deutschen Abwehrfeuer stecken. Zeitgleich greifen kanadische Einheiten Xanten an. Auch dieser erste Versuch scheitert.

General SchlemmDer von den Deutschen gehaltene Brückenkopf Wesel erstreckt sich über eine Breite von rund 15 Kilometern und reicht zehn, zwölf Kilometer tief ins Land. Einer der Beobachtungsposten am Rand - der in Bönninghardt - ist mit der Einnahme durch die Briten an diesem Morgen verloren. Spätestens jetzt weiß General Schlemm, dass der Brückenkopf verloren ist.

General Alfred Schlemm (* 1894, † 1986): Brückenkopf ist verloren.

Die Eisenbahnbrücke von Wesel ist der letzte benutzbare Übergang am Niederrhein. Am Vortag haben alliierte Bomber vergeblich versucht, die Brücke zu zerstören, um der kämpfenden Truppe von Schlemm den Rückzug abzuschneiden. Die Eisenbahnbrücke ist seit 1939 auch von Autos und Panzern befahrbar, weil die Weseler Firma Trapp die Schienen mit Eichenbohlen beplankt hat.

Schlemm, der für den von der Heeresleitung untersagten Rückzug über den Rhein dennoch alle Vorbereitungen getroffen hat, ist angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage im Brückenkopf ratlos, als Hitlers Befehl erneut bestätigt wird: Alle kampffähigen Einheiten müssen im Brückenkopf ausharren und sich dort verteidigen. Der Befehlshaber der 1. Fallschirm-Armee ist über die Starrköpfigkeit Hitlers, der diesen Befehl persönlich gegeben hat, entsetzt. Schlemms dringende Empfehlung, die abgekämpften Truppenteile auf das Ostufer überzusetzen und dort eine starke Abwehrlinie aufzubauen, wird, so berichtet er nach dem Krieg, „mit Entrüstung abgelehnt. Ich wurde persönlich (dafür) verantwortlich gemacht, dass kein kampffähiger Soldat das Westufer verließ. Eine Hängekommission wurde an die Übergangsstellen beordert, die jeden Verstoß sofort kriegsgerichtlich zu ahnden hatte.“

Die sichere Vernichtung vor Augen, hat Schlemm einen rettenden Einfall. Er fordert, dass das Führerhauptquartier einen Offizier an den Niederrhein entsenden solle, damit der sich an Ort und Stelle ein Bild von der Lage machen könne. Tatsächlich macht sich noch am 6. März ein Oberstleutnant aus dem Führerhauptquartier auf und trifft am frühen Morgen des folgenden Tags mit Schlemm zusammen. Der Mann habe dann einen „aufregenden Tag im Brückenkopf verbracht“, schreibt Schlemm. „Am Abend berichtete er in meinem Sinne und ich erhielt die Genehmigung zur Räumung, die wir auf das sorgfältigste vorbereitet hatten.“

Bereits am 6. März, noch vor der Genehmigung, lässt General Schlemm die ersten Kampftruppen, schwere Waffen und Fahrzeuge über den Rhein schaffen. Jede Absetzbewegung der Deutschen wird von alliierten Bombern und Geschützen unter Feuer genommen.

Zur gleichen Zeit werden im deutschen Namen immer noch Verbrechen an der holländischen Zivilbevölkerung begangen. Während die südlichen Niederlande von den Alliierten befreit sind, wütet im Norden das deutsche Terror-Regime ohne Unterlass, stößt dabei aber auf zunehmenden Widerstand.

Am 6. März, als der Rückzug der deutschen Truppen über den Rhein bei Wesel beginnt, wird Hanns Albin Rauter (Bild), ranghöchster SS-Führer in den Niederlanden und Verantwortlicher für die Deportationen von über hunderttausend Juden in Vernichtungslager, von einheimischen Widerstandskämpfern an der Straße zwischen Arnheim und Apeldoorn durch Schüsse verwundet. Rauter überlebt das Attentat, weil er sich tot stellt. Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) in den Niederlanden, Karl Eberhard Schöngarth, kündigt sofort „Vergeltungsmaßnahmen“ an.

Zwei Tage nach dem Attentat, am 8. März, werden 263 Gefangene, willkürlich aus Gefängnissen und Konzentrationslagern ausgewählt, ermordet: 117 in Woeste Hoeve (wo Rauter überfallen worden ist), 38 in Den Haag, 53 in Amsterdam, 49 im Durchgangslager Amersfoort und sechs in Utrecht.

Hanns Albin Rauter, der außer für die Deportationen der Juden auch für die Verschleppung von rund 300.000 Niederländern als Sklavenarbeiter im Deutschen Reich verantwortlich ist, entgeht der Rechtsprechung nicht: Er wird nach dem Krieg an die Niederlande ausgeliefert und 1948 zum Tod verurteilt. Rauter wird 1949 in den Dünen bei Scheveningen von einem Kommando erschossen.

Karl Georg Eberhard Schöngarth, der den Mordbefehl nach dem Attentat auf Rauter gegeben hat, wird von einem britischen Militärgericht wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und am 16. Mai 1946 im Gefängnis Hameln hingerichtet.

Im März 1945 sind die deutschen Besatzer aus den meisten osteuropäischen Ländern, die sie überfallen haben, zurückgeschlagen. Die Rote Armee hat die Gebiete überrollt, in denen sich nun Gewalt unvorstellbaren Ausmaßes entlädt. Die schrecklichen Exzesse, die in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, Rumänien, Ungarn und den Gebieten östlich der Oder/Neiße geschehen, sind Reaktionen auf die grauenhaften Verbrechen, die den Menschen in Osteuropa von Deutschen angetan worden sind. Wer überlebt, flüchtet im Lauf der folgenden Monate ins besetzte Rest-Deutschland. Außerdem werden zu Millionen Deutschstämmige und Deutsche aus osteuropäischen Ländern und aus ostdeutschen Gebieten ausgewiesen und für immer vertrieben. Auch am Niederrhein stranden immer mehr Heimatlose und erleben, in Kevelaer nicht weniger als anderswo, subtile oder offene Ablehnung durch Einheimische.

Am 6. März 1945, dem Tag 3 nach der Befreiung Kevelaers, die den Menschen hier - früher als Millionen anderen Deutschen - die Chance auf einen Neubeginn schenkt, befiehlt Hitler seine letzte Offensive. Sie richtet sich gegen Ungarn, wo die Sowjets die deutschen Besatzer ausgeschaltet haben. Hitler setzt die 5. SS-Panzerarmee in Bewegung, um das ungarische Erdölgebiet und die Donaulinie zurückzuerobern. Die Offensive scheitert schon nach wenigen Tagen. Während die SS-Panzerarmee in Ungarn aufgerieben wird, kesseln die Alliierten im Raum Köln-Koblenz-Trier die 7. Deutsche Armee ein.

7. März 1945

In der Nacht zum 7. März fliegen alle fünf Minuten alliierte Bomber Angriffe auf die Ruinenstadt Wesel und ihre Umgebung. Hier erwarten die Angreifer von den Deutschen, sobald sie den Rückzug über den Rhein geschafft haben, stärkste Abwehrkämpfe.

Gegen 17 Uhr schieben sich die Alliierten bis Ossenberg vor und besetzen die Solvay-Werke vor Rheinberg. Damit wird der deutschen Führung klar, dass die Gegner tief in die südliche Flanke des Brückenkopfs Wesel eingedrungen sind. Dort ist der Rückzug auf die Ostseite des Rheins in vollem Gang.

Unterdessen beginnt sich der Raum Kevelaer langsam mit befreiten Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen aus aller Herren Länder aufzufüllen. Verschleppte, die Sklavenarbeit haben leisten müssen, werden in ein Sammellager bei Well in Holland gebracht. In Kevelaer dienen Basilika und Priesterhaus als Unterkünfte für befreite ausländische Zwangsarbeiter und Gefangene. Später wird für Tausende von ihnen an der Feldstraße ein riesiges Zeltlager errichtet.

In der Marienstadt ereignet sich am 7. März die erste Geburt der Nachkriegszeit. Hannemie Janßen (2007 als Hanne van Aerssen gestorben), Tochter von Evelyn und Oskar Janßen, erblickt auf einer Pritsche in einer Badekabine des Marienhospitals das Licht der Welt.

An ihrem Geburtstag tritt der „Fall Remagen“ ein. Die Rheinbrücke von Remagen hat zusammen mit der Brücke von Wesel entscheidende Bedeutung, denn die Brücken in Neuss, Uerdingen, Rheinhausen, Homberg und Baerl gibt es nicht mehr. Sie sind von deutschen Pionieren zerstört worden.

Auch die Brücke von Remagen wird zur Sprengung vorbereitet. Sie ist allerdings ein Sonderfall, weil sie auf Hitlers ausdrücklichen Befehl bis zuletzt für die deutschen Truppen nutzbar bleiben muss und nicht „zu früh“ in die Luft gejagt werden darf. Erst jetzt, um 15.20 Uhr, in Sichtweite der Amerikaner, gibt der Brückenkommandant den Sprengbefehl. Es knallt - aber die Brücke stürzt nicht ein. Die Amerikaner rücken an. Gegen 16 Uhr überqueren die ersten 120 US-Soldaten den Rhein.

Verbissen versuchen die Deutschen in den folgenden Tagen, mit einem Gegenangriff die Brücke von Remagen zurückzuerobern - vergeblich. Nun soll sie durch Kampfschwimmer zerstört werden, aber die werden entdeckt, bevor sie Sprengladungen anbringen können. Vergeblich setzt die deutsche Luftwaffe einen neuartigen Düsen-bomber gegen die Brücke ein. Schließlich werden von Hellendoorn in den Niederlanden elf V2-Raketen gestartet. Eine schlägt in der Nähe der Brücke ein. Aber sie steht immer noch.

Hitler tobt und lässt fünf Offiziere wegen „Feigheit“ und „Dienstpflichtverletzung“ zum Tod verurteilen. Vier von ihnen werden im Westerwald erschossen, der fünfte Offizier überlebt, weil er sich bereits in US-Gefangenschaft befindet. Wegen Remagen „feuert“ Hitler Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt und ersetzt ihn durch Generalfeldmarschall Albert Kesselring.

Zehn Tage nach dem ersten Zerstörungsversuch passiert es: Die Brücke von Remagen stürzt von selbst ein. 25 Amerikaner werden dabei in den Tod gerissen, 63 verletzt.

Am 7. März, dem Tag des Reinfalls von Remagen, haben Propagandaminister Joseph Goebbels und der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, eine Aussprache in Hohenlychen (Brandenburg). Was sie kritisieren - nachzulesen im Tagebuch von Goebbels -, hätte jeden Soldaten „den Kopf gekostet“: Sie bescheinigen Hitler kriegsentscheidende Führungsschwäche. Der für die Luftwaffe verantwortliche Hermann Göring und Außenminister Joachim von Ribbentrop werden als die Hauptschuldigen ausgemacht. „Weder auf dem militärischen noch auf dem zivilen Sektor (verfügen wir) über eine starke zentrale Führung (...), weil alles an den Führer selbst herangetragen werden muss und das nur in einer sehr geringen Anzahl der Fälle überhaupt gemacht werden kann. Überall stehen einer erfolgreichen Kriegführung Göring und Ribbentrop im Wege.“ Und: Man könne schließlich Hitler „nicht mit Gewalt zwingen, sich von beiden zu trennen“.

Erich BenschAn diesem 7. März sieht in Kevelaer Kaplan Erich Bensch (Foto) ehemalige Gefangene des Konzentrationslagers Buchenwald in ihr Durchgangslager ziehen - in die Basilika. Sie tragen gestreifte KZ-Lumpen. Zwei belgische Priester in KZ-Kleidung erscheinen an der Tür der Kerzenkapelle und bitten darum, eine heilige Messe feiern zu dürfen. „Einen der beiden nahm ich nachher zum Frühstück mit zur Familie Pier, um den anderen kümmerte sich Pfarrer Engels.“

Was der Gast - ein von der SS deportierter Pfarrer der Gemeinde Arlon in den Ardennen - erzählt, erschüttert Bensch und die anderen Gastgeber. 45.000 Menschen seien an einem einzigen Tag von SS-Leuten mit Maschinengewehren niedergemetzelt worden.

Während der Pfarrer von Arlon spricht, hält er einen Rosenkranz in der Hand, den er sich im KZ aus Stacheldraht geflochten hat.

Kapitel 12

linie

logo INHALTSVERZEICHNIS

linie

© Martin Willing 2012, 2013