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Kapitel 11

4. März 1945

In der Nacht zum 4. März quartieren sich Engländer und Kanadier in Winnekendonk ein. „Wir wurden aus dem Keller herausgerufen, das Bettzeug wurde uns nachgeworfen“, gab Bauer Opgenhoff später zu Protokoll (Archiv Drißen). „Wir wurden im Wohnzimmer eingesperrt. Wenn man eben die Tür öffnete, wurde einem das Gewehr entgegengehalten. Die Soldaten zogen in den Keller.“

Um 6.30 Uhr darf Vater Opgenhoff das Zimmer verlassen und die Kühe füttern. Er sieht, dass in der Nacht die alliierten Soldaten rund ums Haus Stellungen und kleine Unterstände gebaut haben. „Die Weide bei Bongers steht voll von Fahrzeugen und Panzern. Vier Arigeschütze stehen da. Elders Weide ist Flugplatz geworden.“

In derselben Nacht, etwa zwischen 4 und 5 Uhr, durchkämmen kanadische Einheiten Anwesen im Achterhoek. Josef Singendonk hört, wie die Kellerluke geöffnet wird. Ein Lichtstrahl erfasst den Landwirt. Nur alte Männer, Frauen und Kinder seien im Keller, beteuert er. Zögernd steigen Kanadier über eine Leiter in den Keller hinab. Wachposten werden zurückgelassen, dann zieht die Truppe mit Bauer Singendonk als Geisel zum Möllenhof, der schon von den Briten besetzt ist - ebenso wie die Mühle. Zum Glück ist ein deutsches Sprengkommando, das im Mühlenkeller genächtigt hat, seit etwa 3 Uhr verschwunden. Jetzt darf der Bauer zurück, und ein kanadischer Soldat begleitet ihn zum Kelderhorst.

Während in Winnekendonk bereits Kühe versorgt werden dürfen, wird der Ort Hamb von britischer Artillerie sturmreif geschossen. Dort haben sich deutsche Fallschirmjäger festgesetzt und leisten verbissenen Widerstand.

Für die bereits zertrümmerte und teilweise eingenommene Kreisstadt Geldern, in der sich noch 320 Zivilisten aufhalten, beginnt an diesem frühen Sonntagmorgen die Stunde Null. Über die unversehrte Niersbrücke vor der Stadt rücken Spähtrupps ein. In der Morgendämmerung geht, wie Heinz Bosch berichtet, Studienrat Schmieden den Briten mit einem weißen Taschentuch entgegen. „Keine Soldaten!“ lautet das erlösende Wort, worauf der Hauptteil der britischen Einheiten durch Geldern und in Richtung Issum zieht. Geldern sei verloren, informiert General Meindl Armeechef Schlemm vor Wesel. Alle Geheimpapiere seien vernichtet.

Vor der Weseler Rheinbrücke stauen sich unterdessen Truppen, Fahrzeuge und Kampfmaterial der zurückgefluteten deutschen Armee. Der massenhafte Rückzug bläht die Rheinufer zu einem wilden Heerlager auf. Der Rückzug über den Rhein ist nach wie vor untersagt. Hitler bleibt bei seinem Befehl, die Rheinlinie um jeden Preis zu halten.
Es ist immer noch früh am Morgen, als die Amerikaner Kölner Stadtgebiet erreichen.

Um 5.20 Uhr werden in Kapellen auf der Winnekendonker Straße die ersten Briten gesichtet. Sie sind in höchster Alarmbereitschaft, weil hier tausend Fallschirmjäger vermutet werden. Artilleriegeschütze nehmen Kapellen ins Visier. In den Kellern hocken verängstigte Menschen. Friedi Voss erinnert sich:

„Die Frauen beteten laut den Rosenkranz, die kleinen Kinder weinten mit ängstlich aufgerissenen Augen wegen der lauten Detonationen. Von draußen drang das Rasseln von Panzerketten und Rattern von Maschinengewehren in unseren Bunker. ‚Keisers Papp‘, wie wir ihn nannten, ging nun beherzt mit einer weißen Fahne nach draußen. Er wollte verhindern, daß Handgranaten in unseren Bunker geworfen wurden oder - noch schlimmer - Flammenwerfer zum Einsatz kamen. Kurz darauf kehrte er in Begleitung eines englischen Soldaten zurück, der seine MP schußbereit in Händen hielt. Ich sehe noch die schreckgeweiteten Augen unserer Mitbürger, als dieser Engländer unseren Bunker nach deutschen Soldaten durchsuchte. Es waren aber keine mehr da.“

In letzter Minute wird Kapellen verschont, nachdem die Alliierten sich davon überzeugt haben, dass die starken deutschen Einheiten mit mehreren Sturmgeschütz-Panzern den Ort tatsächlich geräumt haben. Wegen des schnellen Vormarsches der Amerikaner waren die Fallschirmjäger in Gefahr gewesen, eingekesselt zu werden.

Gegen 9 Uhr ist Kapellen besetzt. Derweil rücken Briten weiter Richtung Wesel, Amerikaner Richtung Kamp-Lintfort und Rheinberg vor. Unterwegs wird Issum kampflos genommen. Am Mittag wird die Boeckelt in Geldern von den Briten besetzt.

Britische Panzer vor Antoniuskirche
Britische Panzer vor der Ruine der St.-Antonius-Kirche in Kevelaer.
Foto aus: Wallfahrtsjubiläumsbuch I, S. 436


Für Kaplan Erich Bensch hat der Sonntagmorgen mit einem Fußmarsch vom Gleumeshof zur Innenstadt Kevelaer begonnen. Der Geistliche trägt zwei schwere Taschen mit einem Altarstein aus der Kerzenkapelle und weiteren liturgischen Geräten für die Messfeier. Auf der Wettener Straße begegnet ihm Pfarrer Gottfried Engels. Der hat es sehr eilig und ruft Bensch zu, die Engländer hätten einen neuen Kommandanten eingesetzt, der ein striktes Ausgehverbot erlassen habe. Er, Engels, sei der einzige, der sich frei bewegen dürfe, und er habe den Auftrag, eine deutsche Zivilverwaltung zusammenzustellen.

Trotz Ausgehverbots begibt sich Bensch zum Haus Mulders, wo er mit etwa 30 Gläubigen die erste heilige Messe in Kevelaer seit dem Einmarsch der Alliierten feiert. Anschließend will sich Bensch rasch und möglichst ohne aufzufallen zum Gleumeshof zurückziehen, gerät in ein Maschinengewehrfeuer der Briten, spürt einen heftigen Schlag und erreicht zitternd, aber unverletzt den Gleumeshof. Der Geistliche packt den Altarstein aus und sieht, dass er beschädigt ist: Eine Kugel muss den Stein getroffen haben. „Der Altarstein hatte mir das Leben gerettet“, notiert der Kaplan in seinen Erinnerungen.

Zur Mittagszeit tobt weiterhin der Kampf um Hamb, das erst am Abend von Panzerbesatzungen eingenommen werden kann.

In Weeze sind die Briten inzwischen schon damit beschäftigt, auf dem St.-Jans-Feld ein Durchgangslager für deutsche Kriegsgefangene aufzubauen.

In Berlin zieht sich Propagandaminister Joseph Goebbels in die Mittagspause zurück und notiert in seinem Tagebuch: „Insbesondere fesselt mich jetzt das Buch von Carlyle über Friedrich den Großen. Welch ein Beispiel für uns, und welcher Trost und welche Aufrichtung in diesen schlimmen Tagen!“

In Kevelaer, in der Wasserstraße, melden sich bei Eveline, der Frau von Oskar Janßen, die Wehen. Zwei seiner Schwestern laufen zur Kervenheimer Straße, wo bei Robert Platzer das Hauptquartier der Alliierten untergebracht ist. Sie bitten um Hilfe. Jemand lässt nach einem Arzt suchen. Aber das dauert den Schwestern zu lange, die nun zum Marienhospital laufen: Völlig überfüllt - mit Kranken und Alliierten -, kein Zimmer frei, nicht einmal ein Bett.

Ein Kevelaerer, der in einer Badekabine des Hospitals Unterschlupf gefunden hat, räumt den winzigen Raum. Frau Petermann, die einzige in Kevelaer verbliebene Hebamme, kommt auf Bitten von Janßens Schwestern sofort. Die hochschwangere Frau wird auf eine Pritsche über der Badewanne gebettet. Aber Hannemie, das erste Kind der Janßens, lässt noch auf sich warten.

Gräfin LoeIm Schloss Wissen genießen die Menschen der Notgemeinschaft um Gräfin von Loë (Bild) zum ersten Mal seit Wochen das Tageslicht, das durch unverhüllte Fenster in die Räume strömt. Aber schon am Abend werden die Wissener für die Nacht in den Keller gesperrt und müssen bald das Schloss verlassen.

An diesem 4. März, am Tag nach Kevelaers Befreiung, wird ein zweiter Wallfahrtsort eingenommen: Marienbaum.

Die Amerikaner erreichen Moers. Außerdem wird Neuss von der US-Armee besetzt.

5. März 1945

Die Stadt Kevelaer und weitere Orte am unteren Niederrhein sind dem Zugriff der Wehrmacht entzogen, aber nicht die Menschen, die zwangsevakuiert worden sind und irgendwo in noch unbesetzten Landesteilen das Kriegsende erwarten. Am Montag, 5. März, wird der Jahrgang 1929 zum Kriegsdienst eingezogen. Es sind die 16-Jährigen, die zum Schluss zu Tausenden ohne jede Hoffnung, ohne irgendeinen Sinn ins Feuer geschickt werden. Gleichzeitig werden die Lebensmittelrationen im unbesetzten Rest von Deutschland noch weiter gekürzt.

Den Auflösungserscheinungen an der West- und Ostfront begegnet die SS, der inzwischen die gesamte Gerichtsbarkeit über Truppen und Zivilisten obliegt, mit „fliegenden Standgerichten“. Im noch kontrollierten, immer enger werdenden Raum auf der linken Rheinseite, wo sich die zurückgewichenen Truppen stauen, liegen die Nerven blank, weil niemand die gewaltige Macht der Alliierten aufhalten kann und trotzdem das rettende rechte Rheinufer unerreichbar fern ist.

Über Rheinberg geht an diesem Morgen eine blutrote Sonne auf. Von einem Hügel aus beobachtet General Schlemm den Angriff der Amerikaner auf Rheinberg. Seine Truppen besitzen immer noch erhebliche Schlagkraft. In den ersten fünf Minuten des Angriffs werden 50 amerikanische Panzer zerstört, in denen über 90 Menschen sterben. Gleichwohl hat der deutsche General die Vernichtung seiner Armee vor Augen, wenn nicht endlich Hitler, der im Führerbunker tief unter der Reichskanzlei in Berlin längst aufgeriebene Armeen auf den Lagekarten hin- und herschiebt, den erlösenden Rückzugsbefehl gibt.

Ebenfalls am Morgen können britische Verbände eine letzte deutsche Stellung vor Hamb erobern, nachdem sie in einen Hinterhalt geraten und zusammengeschossen worden sind. 70 Briten haben hierbei ihr Leben verloren.

Auf Sonsbeck rollen nun kanadische Panzer zu. Sie geraten auf Minen im Balbecker Wald. Wer überlebt, wird vom Feuer der Fallschirmjäger in den Ruinen von Sonsbeck erwartet. Erst am Abend, nach dem Befehl zum Absetzen, kann Sonsbeck von den Alliierten eingenommen werden.

Derweil wird auf einem Bauernhof in Winnekendonk um die letzten Hühnereier gekämpft. Die wenigen Hühner, die noch nicht im Topf gelandet sind, werden von alliierten Soldaten bewacht, bis sie Eier gelegt haben.

In Rheinberg tobt das Gefecht. Dennoch zieht ein Teil der US-Truppen weiter in Richtung Orsoy, der andere Teil wird von deutschen Einheiten gebunden, die im Süden der Stadt einen Abwehrriegel bilden. Die Deutschen können mehrere Angriffe abwehren und den Vormarsch für kurze Zeit behindern - zu mehr reicht es nicht mehr.

Am Abend ist das Hauptkampfziel der gesamten alliierten Operation zum Greifen nahe. Von Orsoy bis Neuss ist das linke Rheinufer erobert.

Jetzt geht es um den Brückenkopf Wesel, auf den sich die Deutschen konzentrieren und der auf einer Linie bis Xanten, dem Eckpfeiler des Brückenkopfs, mit allen Mitteln verteidigt wird.
Kapitel 11

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© Martin Willing 2012, 2013