8. März 1945
Um 5.30 Uhr beginnt die alliierte Artillerie mit ihrem Dauerfeuer auf
die Stadt Xanten. Fast gleichzeitig rücken kanadische Infanteristen vor.
Mit Flammenwerferpanzern kämpfen sich die Kanadier Schritt für Schritt
vor. Als sie die brennenden Ruinen der Domstadt erreichen, stellen sich
ihnen fanatisch kämpfende Fallschirmjäger entgegen.
Zeitgleich schieben sich britische Truppen an der Reichsstraße 57 auf
Xanten vor.
Erst gegen 16.30 Uhr sind die letzten Straßenkämpfe vorbei. Auch auf dem
Marktplatz und rund um den Dom erlischt der Widerstand. Mehr als hundert
deutsche Fallschirmjäger gehen in Gefangenschaft.
Während des blutigen Gefechts um Xanten feiert der irische
Feldgeistliche Kyne in einem der Nebengebäude von Schloss Wissen mit
deutschen Zivilisten eine heilige Messe. Father Kyne missachtet das
Verbot der Besatzer, mit Zivilpersonen in Kontakt zu treten, und beruft
sich darauf, er sei Seelsorger.
9. März 1945
Die Ortschaft Veen, zwei Tage lang umkämpft, wird von Kanadiern
eingenommen. Am späten Nachmittag bricht die Verteidigung im Bereich der
Straßenkreuzung R 57 und R 58 bei Grünthal zusammen. Nur noch sieben
Kilometer liegen zwischen den Alliierten und der Weseler Rheinbrücke.
Gegen 17 Uhr läuft die Zeit ab, in der die deutschen Truppen -
Zehntausende Soldaten - ihre einzige Chance zum Rückzug nutzen können.
Ab 20 Uhr rollen die letzten Panzer, Artillerie und schwere Waffen über
die Weseler Brücke auf das östliche Ufer. General Schlemm harrt am Fluss
aus, um den Rückzug zu leiten. Für den folgenden Morgen befiehlt er die
Sprengung der Brücke.
Inzwischen hat die Eroberung des Ruhrgebiets mit Luftangriffen und
Artillerie begonnen. Duisburg und Essen werden vom Westufer des Rheins
beschossen, Fliegerbomben fallen auf Dortmund, Haltern und Datteln. Bei
dem Luftangriff auf Datteln sterben am 9. März 537 Menschen, darunter
300 russische Kriegsgefangene und 30 Kinder. Derweil wird Bonn von den
Amerikanern besetzt.
Aber
Wesel ist noch nicht erreicht. Mit Nachdruck treibt der britische
Feldmarschall Bernhard L. Montgomery
(Foto, rechts) die
Vorbereitungen zur Rheinüberquerung voran. 1.700 Niederländer, 5.900
Tschechen, 6.700 Belgier, 15.000 Polen, über 180.000 Ka-nadier, fast
330.000 Amerikaner und mehr als 740.000 Engländer stehen am Niederrhein
für den entscheidenden Vorstoß bereit.
Was die abgekämpften und unzureichend bewaffneten deutschen Soldaten
gegen diese 1,3 Millionen, gegen eine mehr als zehnfache Übermacht
ausrichten sollen, weiß ihr oberster Kriegsherr in Berlin: Sie sollen
sterben. Bis zum bitteren Ende verbietet Hitler jede Form von
Kapitulation.
10. März 1945
Noch haben nicht alle Soldaten der Armee von General Alfred Schlemm das
rettende Ostufer des Rheins erreicht. Obwohl die Alliierten langsamer
als erwartet vorstoßen, gibt Schlemm bereits für 7 Uhr den Befehl, die
Eisenbahnbrücke Wesel zu sprengen. Die restlichen Truppenteile sollen
mit Fähren über den Fluss gebracht werden.
Pioniere, die zuletzt im Raum Kevelaer gelegen haben, montieren die
Sprengladungen. Als gezündet wird, lösen zwei Explosionen schwere
Beschädigungen aus, lassen aber das Bauwerk nicht einstürzen. Erst zehn
Tage danach fällt die Brücke in den Strom.
Nicht über den deutschen Rückzug ans rechte Rheinufer, sondern über das
Geschehen in der von den Amerikanern besetzten Stadt Rheydt regt sich
Propagandaminister Goebbels auf. „Am meisten ärgere ich mich über das
Benehmen der Bevölkerung in meiner Heimatstadt Rheydt“, vertraut er in
Berlin seinem Tagebuch für den 10. März an. „Ein Herr Vogelsang, der mir
von früher als ein ausgemachter nationalsozialistischer Spießer bekannt
ist, hat sich der amerikanischen Besatzungsbehörde als Oberbürgermeister
zur Verfügung gestellt. (...) Ich werde mir diesen Herrn etwas näher
aufs Korn nehmen. Ich bereite eine Aktion vor, um ihn bei erster bester
Gelegenheit niederlegen zu lassen.“
Am bereits befreiten linken Niederrhein, so in Geldern und Kevelaer,
wird am 10. März über die Bevölkerung eine 24-stündige Ausgangssperre
verhängt. „Die Truppe hat Befehl erhalten, auf alle Personen zu
schießen, die während der Ausgangsbeschränkung ausserhalb ihrer Wohnung
gesehen werden und die sich zu verbergen oder zu entkommen versuchen“,
heißt es auf Plakaten. Nach diesen 24 Stunden dürfen nur weibliche
Personen auf die Straße - zweimal je eine Stunde: um 10 und um 15 Uhr.
An jedem Haus muss ein Liste mit Namen und Daten aller Bewohner
angebracht werden.
Oskar Janßen in Kevelaer hat eine Ausnahmegenehmigung: Da er von der
britischen Militärbehörde als Beschaffer von Milch für die
Stadtbevölkerung eingesetzt ist, darf er sich in der Marienstadt relativ
frei bewegen.
Verantwortlicher für die Erfassung der in Kevelaer lebenden Zivilisten
ist - vom Ortskommandanten eingesetzt - Pfarrer Gottfried Engels.
Inzwischen ist die Zahl der Einwohner, so hat es Engels nach dem Krieg
notiert, bereits auf über tausend gewachsen.
In Weeze wird Lehrer Paul van Treeck am 10. März von den Briten zum
kommissarischen Bürgermeister bestimmt. Am selben Tag steht Wilhelm
Mütter, Pfarrer von Weeze, vor den Trümmern seiner St.-Cyriakus-Kirche,
die deutsche Pioniere unmittelbar vor dem Rückzug in die Luft gesprengt
haben. Später finden Mütter und die ihn begleitende
Isabelle Gräfin von
Loë in den Schutthalden liturgische Geräte und den Tabernakel des
Hochaltars, die fast unversehrt geblieben sind.
An diesem Tag müssen sämtliche Walbecker ihr Heimatdorf verlassen. Die
Briten zäunen Walbeck großräumig ein. Am Dorfrand, direkt neben einem
provisorischen Flugplatz, befindet sich die Befehlszentrale des
britischen Feldmarschalls Montgomery. Hier wird er in den folgenden
Tagen seinen Premierminister, Winston Churchill, empfangen.
11. März 1945
Die über den Rhein geflüchteten Deutschen gewinnen eine fast zweiwöchige
Ruhepause, in der sich am linken Rheinufer die gewaltige Streitmacht der
Alliierten ballt.
Die Wehrmachtsgeneräle täuschen sich nicht über die Ruhe vor dem Sturm
und wissen, dass der Krieg verloren ist. General Schlemm, der sein
Hauptquartier jetzt in Erle südlich von Raesfeld aufschlägt, hat den
Befehl, das östliche Ufer zwischen Duisburg und Emmerich mit seiner
stark dezimierten 1. Fallschirmjägerarmee zu verteidigen. In Erle
trifft Schlemm am 11. März mit Generaloberst Blaskowitz, dem
Oberbefehlshaber der Heeresgruppe „H“, und mit Generalfeldmarschall
Albert Kesselring zusammen.
Die Heeresgruppe „H“ hat noch etwa 100.000 Mann; davon lagern etwa
70.000 direkt am Rhein. So gut es geht, organisieren die drei
Befehlshaber eine Abwehrfront. Dass sie 1,3 Millionen alliierten
Soldaten gegenüberstehen, wissen sie. Dass die Alliierten aus der Luft
noch sehr viel mehr Soldaten und Waffen heranschaffen werden, und das
schon sehr bald, können sie höchstens ahnen.
Unterdessen setzen die Alliierten die Räumung des Westufers zur
Vorbereitung ihrer gigantischen Luftlandeoperation fort. Etwa 24.000
deutsche Zivilisten müssen die rheinnahen Dörfer und Städte verlassen
und den Weg in Notunterkünfte in Bedburg-Hau antreten. Entlang des
Rheins gehen Briten, Kanadier und Amerikaner in Stellung und warten auf
den entscheidenden Befehl.
Allein am 11. März ergeben sich 21.000 deutsche Soldaten, die den
Rückzug verpasst haben und auf der linken Rheinseite zurückgeblieben
sind.
Am selben Tag fliegen tausend alliierte Bomber einen der schlimmsten
Bombenangriffe des Kriegs. Während in Weeze, Kevelaer und Geldern erste
Aufräumarbeiten beginnen, sterben, nur eine Autostunde entfernt, in den
zusammenstürzenden Häusern der Stadt Essen 25.000 Menschen. 100.000
Einwohner werden auf einen Schlag obdachlos.
12. März 1945
Im Diersfordter Wald und entlang der Rheinfront zwischen Bislich und
Wesel graben sich deutsche Infanteristen ein. Wesel, die völlig
zerstörte Stadt, wird zur „Festung“ erklärt, die von Generalmajor
Deutsch als dem „Kampfkommandanten“ befehligt wird. Alle deutschen
Einheiten am Rhein werden durch eklatanten Benzinmangel ausgebremst.
Ihre Artillerie verfügt kaum noch über Munition.
Nach dem Inferno von Essen folgt am Nachmittag des 12. März der
Feuersturm über Dortmund, der schlagartig sämtliche Straßen- und
Eisenbahnverbindungen mit dem noch unbesetzten Deutschen Reich kappt.
War Essen schon unvorstellbar, tritt mit Dortmund nun der größte
Luftangriff des Weltkriegs in Europa ein. Mehr als tausend Bomber
fliegen von England aus Richtung Dortmund, das nach rund hundert
Angriffen bereits eine Trümmerstadt ist. Die riesige Armada alliierter
Flieger lädt fast fünftausend Tonnen Bomben ab - so viel wie über keiner
anderen Stadt, nicht einmal Hamburg oder Dresden. Es geht, wie ein
britischer Offizier nach dem Krieg einräumt, weniger um die restlose
Zerstörung einer Ruinen-Großstadt als vielmehr darum, das herrschende
Chaos noch zu vergrößern. Die Alliierten wollen den Verteidigungswillen
der Deutschen endlich brechen.
Bei diesem Angriff auf Dortmund sterben mehr als siebentausend Menschen
- innerhalb von 43 Minuten.
Am selben Tag tauft im Keller des Marienhospitals zu Kevelaer Kaplan
Erich Bensch die neugeborene Tochter von Evelyne und Oskar Janßen mit
Wasser aus der Dondert. Zuvor hat der Vater sein Kind Hannemie bei der
Militärbehörde, die im Gebäude der heutigen Marienapotheke einquartiert
ist, anmelden müssen.
„Schon wieder ein Deutscher, alle Deutsche Schweinehunde“, hört Janßen
als Kommentar eines Besatzers zu der Geburt. Als Janßen bemerkt, es
handele sich doch um ein Mädchen, bekommt er zur Antwort: „In 20 Jahren
auch Schweinehund!“
13. März 1945
Wuppertal-Barmen erbebt unter Bombenhagel. 200 Großbrände brechen aus.
14. März 1945
Während Millionen Menschen noch auf der Flucht von Ost nach West sind,
überträgt am 14. März die Sowjetunion den Polen die Verwaltung der
besetzten deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Deutsche, die
geblieben und von der Roten Armee überrollt worden sind, sollen
ausgewiesen werden - rund 2,5 Millionen Menschen. Ihre Orte und
Ländereien sollen mit Polen besiedelt werden, die ihrerseits Vertriebene
sind - vertrieben von den Sowjets aus den polnischen Ostprovinzen.
Am selben Tag nimmt in Wemb ein Bäcker seine Arbeit wieder auf. Die
ersten Nachkriegsbrote werden gebacken.