15. März 1945
Entlang der gesamten Front hüllen die Briten das linke Rheinufer ab dem
15. März für eine Woche - bis zum Tag der Luftlandeoperation - in
Nebelschwaden, die durch transportable Generatoren erzeugt werden. Immer
mehr Truppen, schwere Waffen und Fahrzeuge sammeln sich im
Aufmarschgebiet gegenüber Rees und Wesel.
Routiniert
laufen die Vorbereitungen zur Großoffensive auf den Brückenkopf Wesel
ab. Unterdessen beginnen die Besatzer im unweit entfernten Kevelaer, mit
Hilfe „unbelasteter“ Bewohner, die Nachkriegszeit zu organisieren.
Fritz Holtmann
(Bild), der spätere Amtsdirektor von Kevelaer, bereits seit
1921 im Rathaus tätig, wird von Bürgermeister van Ooyen zur Mitarbeit
eingesetzt. Holtmann soll die Verwaltung wieder aufbauen. In Kervenheim
werden Heinrich Deckers zum Bürgermeister und Franz van Dongen zum
Polizisten ernannt, denen Viktor Schmitz und Jakob van Wesel als
Hilfspolizisten zur Seite gestellt werden.
Die britische Besatzungsbehörde gibt bereits ein Amtsblatt heraus, die
so genannten Mitteilungen; schon bald wird dieses Blatt durch die von
den Briten kontrollierte Zeitung Gelderner Post ersetzt.
Während sich die Wohnungen im relativ gering zerstörten
Kevelaer mit Rückkehrern zu füllen beginnen und in der Gemeinde eine
zivile, von den Besatzern gesteuerte Verwaltung aufgebaut wird, ist
vielen anderen Menschen am linken Niederrhein die Teilhabe am Glück der
frühen Befreiung versagt. Immer noch werden Tausende Zivilisten aus den
linksrheinischen Orten vertrieben und in Gebäuden der Kliniken von
Bedburg, in Zelt- und anderen Sammellagern zwischen Kleve und Goch
eingepfercht. Allein in Bedburg müssen bereits 24.000 Vertriebene unter
dürftigsten Verhältnissen ihr Leben fristen. Einige Hundert werden in
diesen Lagern sterben.
Aber nicht alle Bewohner am linken Niederrhein werden von den Besatzern
zwangsweise evakuiert: Während beispielsweise in Winnekendonk und
Kapellen ein Teil der Bevölkerung vertrieben wird, darf ein anderer Teil
bleiben. Kleinere Sammellager befinden sich auch im Süden des damaligen
Kreises Geldern, zum Beispiel auf dem Gelände der Brauerei Diebels in
Issum.
Ihre Befreiung vom Nazi-Regime empfinden in diesen
Tagen die wenigsten Niederrheiner als die Chance zu einem glücklichen
Neubeginn. Viele sind von Angst erfüllt, weil sie die „Rache“ der
Sklavenarbeiter, die im deutschen Namen aus den überfallenen Ländern
verschleppt worden sind, fürchten. Tatsächlich nutzen einige der
befreiten Sklaven, für die sich bis heute verharmlosende oder
verfälschende Begriffe wie „Fremd-“ oder „Zwangsarbeiter“ erhalten
haben, die Gelegenheit, sich bei den Deutschen mit Übergriffen und
Gewalttaten für die erlittenen Jahre zu „revanchieren“. Die
Besatzungsbehörde erkennt, dass die befreiten Gefangenen möglichst
schnell in ihre Heimatländer zurückgeführt werden müssen, damit sich
hier kein neues Pulverfass auffüllt.
Das Zeltlager an der Feldstraße
für befreite ausländische Gefangene, die von Kevelaer aus in
ihre Heimatländer zurückgeführt werden.
In diesen Tagen lässt die Behörde die ausländischen Staatsangehörigen
registrieren und die meisten in Sammellager in Holland und Belgien
bringen. Etwa 800 werden im Kevelaerer Lager für
displaced persons
(DP) untergebracht - in Zelten, die auf einem weiträumigen Gelände an
der Feldstraße stehen. Noch mehr Ausländer kommen in der Marienbasilika
unter, die als Durchgangslager beschlagnahmt ist. Hier geht es zu wie in
einem Taubenschlag.
Gleichwohl erlebt Kevelaer in Frieden den Beginn der Nachkriegszeit, der
für die Landsleute jenseits des Rheins, im Ruhrgebiet und im Rest des
unbesetzten Deutschlands noch länger als einen Monat auf sich warten
lässt.
Am Abend des 15. März fliegen alliierte Bomber die
Stadt Hagen an. Hunderte Menschen fliehen nach dem Alarm in einen
oberirdischen Großbunker. Detonationen lassen die meterdicken Betonwände
des mehrstöckigen Bunkers erzittern. Plötzlich ein durch Mark und Bein
gehender Schlag! Das Licht erlischt, völlige Dunkelheit tritt ein, Qualm
zieht durch die Räume, Hitze breitet sich aus. Auf einmal tropft es von
der Decke, und die Schutzsuchenden glauben, dass Heizungsrohre in den
oberen Etagen des Bunkers geplatzt sind und Wasser auslaufe. Sie fangen
es auf und trinken es, andere feuchten Tücher an, um ihre Gesichter zu
erfrischen. Plötzlich leuchtet eine Taschenlampe auf, und die
Bunkerinsassen sehen, was da tropft und was sie getrunken haben: das
Blut der in den oberen Etagen getöteten Flüchtlinge. Die Bombe hat fast
400 Menschen das Leben genommen. Von ihren Leichen werden später nur
Reste gefunden.
16. März 1945
Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, dessen Todesschwadronen in diesen
letzten Wochen vor dem Untergang jeden Gedanken an Kapitulation mit
Erschießungen ahnden, spielt seit geraumer Zeit ein doppeltes Spiel. Er
strebt eine „politische Lösung“ zur Beendigung des Kriegs an der
Westfront an, um dann - unterstützt von den Westalliierten - den Kampf
gegen die Rote Armee fortzusetzen.
Himmler lässt über einen nach Schweden übergesiedelten Deutschen - es
handelt sich um seinen früheren Leibarzt Felix Kersten - dem
schwedischen Außenminister als „Zeichen des guten Willens“ die Nachricht
für die Westalliierten zukommen, dass die Konzentrationslager beim
Anrücken der Alliierten nicht gesprengt und weitere Häftlinge nicht
getötet, sondern den Alliierten übergeben werden sollen. Außerdem werde
er, Himmler, zehntausend jüdische Gefangene nach Schweden oder in die
Schweiz entlassen, so wie er es bereits im Februar dem Vizepräsidenten
des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, insgeheim
signalisiert habe.
Bei einem konspirativen Treffen von Himmler und Bernadotte kann der
Schwede immer größere Zugeständnisse des Reichsführers-SS erreichen, und
Himmler spielt seine vorgeblich humanitäre Vermittlerrolle in dem
letzten Schmierentheater dieses Massenmörders fast perfekt.
Himmler gibt den Alliierten seine „Friedensbereitschaft“ schriftlich: Er
habe sich in den Jahren 1936 bis 1940 „zusammen mit jüdischen
amerikanischen Vereinigungen“ intensiv darum bemüht, die deutschen Juden
auswandern zu lassen. Die letzten Juden nun nach Schweden oder in die
Schweiz ausreisen zu lassen, knüpfe an das früher schon eingeschlagene
„segensreiche Verfahren“ an. Wenn auf allen Seiten „Weisheit und Logik“
einkehre, dann könnten sich auch „das menschliche Herz und das Wollen
zum Helfen“ durchsetzen.
Die atemberaubende Verlogenheit des Reichsführers-SS, der die Ermordung
von Millionen Juden als befehlender Täter zu verantworten hat, wird nur
noch übertroffen von der Feigheit, mit der er seine Haut retten will,
und von seiner Dummheit anzunehmen, die Alliierten könnten nach der
bereits erfolgten Befreiung der KZ Majdanek und Auschwitz und im Licht
der immer grauenvolleren Enthüllungen über die Verbrechen im deutschen
Namen auf ein solches Manöver hereinfallen.
Winston Churchill, dem das geheime Angebot Himmlers zur Kenntnis
gebracht wird, lehnt brüsk ab: „No link with Himmler“ (
Keine
Verbindung mit Himmler) steht in Churchills Handschrift auf dem
Dokument.
Himmler weiß noch nichts von der Ablehnung durch die Alliierten und
wartet in erregter Spannung auf eine Antwort. Anderthalb Monate später
wird Hitler aus dem britischen Rundfunk von den Geheimverhandlungen und
dem „Friedensangebot“ seines „treuen Heinrichs“, der zum Verräter
geworden ist, erfahren.
17. März 1945
Die Alliierten werden der Massen an deutschen Kriegsgefangenen kaum
Herr. Große Flächen der Rheinwiesen werden mit Stacheldraht eingezäunt -
und fertig sind die Kriegsgefangenenlager, in denen die deutschen
Soldaten unter freiem Himmel und ohne den Hauch einer Infrastruktur
vegetieren müssen. Am 17. März wird das Kriegsgefangenenlager in
Rheinberg „eingerichtet“. Allein hier werden bis zum Herbst rund 120.000
Gefangene interniert.
Gefangenenlager in Rheinberg:
Ohne irgendeine Infrastruktur.
18. März 1945
Es ist Passionssonntag, und zum ersten Mal in der gerade begonnenen
„Nachkriegszeit“ wird in der Kerzenkapelle zu Kevelaer eine festliche
Messe für die Einwohner gefeiert. Das Gotteshaus ist überfüllt. Auch in
der Beichtkapelle versammeln sich an diesem Sonntag Gläubige zur
Eucharistiefeier. In Winnekendonk, wo nach der Zerstörung der
St.-Urbanus-Kirche kein Gotteshaus zur Verfügung steht, benutzen
Priester und Gläubige eine Baracke auf dem Friedhof für die
Sonntagsmesse.
Während die Gläubigen befreit und andächtig feiern, üben einige
Kilometer entfernt - auf der Maas in Holland - alliierte Truppen den
geplanten Rheinübergang und damit die Vorstufe zur Eroberung des
Ruhrgebiets. Zur selben Zeit spitzt sich in Berlin ein dramatisches
Geschehen zu:
Rüstungsminister Albert Speer kämpft nun mit offenem
Visier gegen die Befehle Hitlers, dem vorrückenden Feind nur „verbrannte
Erde“ zu überlassen. Am Sonntag überreicht er Hitler eine Denkschrift,
dass nunmehr die zivilen Bedürfnisse den Vorrang vor den militärischen
Notwendigkeiten haben müssten. Den Menschen dürfe nicht die künftige
Lebensbasis genommen werden, indem alles - von Fabriken über Straßen bis
zu Kirchen und Denkmälern - vor dem Rückzug in die Luft gesprengt werde.
Und: „Keiner darf den Standpunkt einnehmen, daß an sein persönliches
Schicksal auch das Schicksal des deutschen Volkes gebunden ist.“ Damit
greift Speer den „Führer“ und dessen Befehle direkt an.
Speer weiß, dass es nun für ihn um Leben oder Tod geht, bereitet seine
Flucht nach Königsberg vor, setzt sich aber nicht ab, sondern begibt
sich erneut in den Bunker der von ihm gebauten Reichskanzlei und
begegnet Hitler, der inzwischen die Denkschrift gelesen hat. Zu ihr sagt
Hitler kein Wort. Erst beim Abschied ruft er Speer zu: „Diesmal bekommen
Sie auf Ihre Denkschrift eine schriftliche Antwort!“
Noch in derselben Nacht rast Speer mit Vollgas über die Autobahn von
Berlin nach Bad Nauheim, wo er von Oberbefehlshaber West, Kesseling, in
dessen Hauptquartier erreichen will, dass die Wehrmacht in diesen
letzten Tagen des längst verlorenen Kriegs Menschen und Betriebe schone.
Kesseling zieht sich auf die Führerbefehle und seine Gehorsamspflicht
zurück. Feldmarschall Model, den Speer anschließend im Westerwald
aufspürt, sagt immerhin zu, dass die Verkehrsanlagen des Ruhrgebiets bei
einem Rückzug nicht zerstört werden sollen.
Aber diese Zusage gilt schon im nächsten Augenblick nicht mehr. Noch
während des Gesprächs von Speer und Model trifft ein Fernschreiben aus
Berlin ein, das die befohlenen Zerstörungen sogar ausweitet - bis zur
Wüstenlandschaft.
Es ist Hitlers schriftliche Antwort auf Speers Denkschrift: der auf den
folgenden Tag datierte Befehl, der als
Nero-Befehl in die
Geschichte eingehen wird.