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Kapitel 14

15. März 1945

Entlang der gesamten Front hüllen die Briten das linke Rheinufer ab dem 15. März für eine Woche - bis zum Tag der Luftlandeoperation - in Nebelschwaden, die durch transportable Generatoren erzeugt werden. Immer mehr Truppen, schwere Waffen und Fahrzeuge sammeln sich im Aufmarschgebiet gegenüber Rees und Wesel.

Fritz HoltmannRoutiniert laufen die Vorbereitungen zur Großoffensive auf den Brückenkopf Wesel ab. Unterdessen beginnen die Besatzer im unweit entfernten Kevelaer, mit Hilfe „unbelasteter“ Bewohner, die Nachkriegszeit zu organisieren. Fritz Holtmann (Bild), der spätere Amtsdirektor von Kevelaer, bereits seit 1921 im Rathaus tätig, wird von Bürgermeister van Ooyen zur Mitarbeit eingesetzt. Holtmann soll die Verwaltung wieder aufbauen. In Kervenheim werden Heinrich Deckers zum Bürgermeister und Franz van Dongen zum Polizisten ernannt, denen Viktor Schmitz und Jakob van Wesel als Hilfspolizisten zur Seite gestellt werden.

Die britische Besatzungsbehörde gibt bereits ein Amtsblatt heraus, die so genannten Mitteilungen; schon bald wird dieses Blatt durch die von den Briten kontrollierte Zeitung Gelderner Post ersetzt.

Während sich die Wohnungen im relativ gering zerstörten Kevelaer mit Rückkehrern zu füllen beginnen und in der Gemeinde eine zivile, von den Besatzern gesteuerte Verwaltung aufgebaut wird, ist vielen anderen Menschen am linken Niederrhein die Teilhabe am Glück der frühen Befreiung versagt. Immer noch werden Tausende Zivilisten aus den linksrheinischen Orten vertrieben und in Gebäuden der Kliniken von Bedburg, in Zelt- und anderen Sammellagern zwischen Kleve und Goch eingepfercht. Allein in Bedburg müssen bereits 24.000 Vertriebene unter dürftigsten Verhältnissen ihr Leben fristen. Einige Hundert werden in diesen Lagern sterben.

Aber nicht alle Bewohner am linken Niederrhein werden von den Besatzern zwangsweise evakuiert: Während beispielsweise in Winnekendonk und Kapellen ein Teil der Bevölkerung vertrieben wird, darf ein anderer Teil bleiben. Kleinere Sammellager befinden sich auch im Süden des damaligen Kreises Geldern, zum Beispiel auf dem Gelände der Brauerei Diebels in Issum.

Ihre Befreiung vom Nazi-Regime empfinden in diesen Tagen die wenigsten Niederrheiner als die Chance zu einem glücklichen Neubeginn. Viele sind von Angst erfüllt, weil sie die „Rache“ der Sklavenarbeiter, die im deutschen Namen aus den überfallenen Ländern verschleppt worden sind, fürchten. Tatsächlich nutzen einige der befreiten Sklaven, für die sich bis heute verharmlosende oder verfälschende Begriffe wie „Fremd-“ oder „Zwangsarbeiter“ erhalten haben, die Gelegenheit, sich bei den Deutschen mit Übergriffen und Gewalttaten für die erlittenen Jahre zu „revanchieren“. Die Besatzungsbehörde erkennt, dass die befreiten Gefangenen möglichst schnell in ihre Heimatländer zurückgeführt werden müssen, damit sich hier kein neues Pulverfass auffüllt.

Lager Kevelaer
Das Zeltlager an der Feldstraße für befreite ausländische Gefangene, die von Kevelaer aus in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.

In diesen Tagen lässt die Behörde die ausländischen Staatsangehörigen registrieren und die meisten in Sammellager in Holland und Belgien bringen. Etwa 800 werden im Kevelaerer Lager für displaced persons (DP) untergebracht - in Zelten, die auf einem weiträumigen Gelände an der Feldstraße stehen. Noch mehr Ausländer kommen in der Marienbasilika unter, die als Durchgangslager beschlagnahmt ist. Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag.

Gleichwohl erlebt Kevelaer in Frieden den Beginn der Nachkriegszeit, der für die Landsleute jenseits des Rheins, im Ruhrgebiet und im Rest des unbesetzten Deutschlands noch länger als einen Monat auf sich warten lässt.

Am Abend des 15. März fliegen alliierte Bomber die Stadt Hagen an. Hunderte Menschen fliehen nach dem Alarm in einen oberirdischen Großbunker. Detonationen lassen die meterdicken Betonwände des mehrstöckigen Bunkers erzittern. Plötzlich ein durch Mark und Bein gehender Schlag! Das Licht erlischt, völlige Dunkelheit tritt ein, Qualm zieht durch die Räume, Hitze breitet sich aus. Auf einmal tropft es von der Decke, und die Schutzsuchenden glauben, dass Heizungsrohre in den oberen Etagen des Bunkers geplatzt sind und Wasser auslaufe. Sie fangen es auf und trinken es, andere feuchten Tücher an, um ihre Gesichter zu erfrischen. Plötzlich leuchtet eine Taschenlampe auf, und die Bunkerinsassen sehen, was da tropft und was sie getrunken haben: das Blut der in den oberen Etagen getöteten Flüchtlinge. Die Bombe hat fast 400 Menschen das Leben genommen. Von ihren Leichen werden später nur Reste gefunden.

16. März 1945

Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, dessen Todesschwadronen in diesen letzten Wochen vor dem Untergang jeden Gedanken an Kapitulation mit Erschießungen ahnden, spielt seit geraumer Zeit ein doppeltes Spiel. Er strebt eine „politische Lösung“ zur Beendigung des Kriegs an der Westfront an, um dann - unterstützt von den Westalliierten - den Kampf gegen die Rote Armee fortzusetzen.

Himmler lässt über einen nach Schweden übergesiedelten Deutschen - es handelt sich um seinen früheren Leibarzt Felix Kersten - dem schwedischen Außenminister als „Zeichen des guten Willens“ die Nachricht für die Westalliierten zukommen, dass die Konzentrationslager beim Anrücken der Alliierten nicht gesprengt und weitere Häftlinge nicht getötet, sondern den Alliierten übergeben werden sollen. Außerdem werde er, Himmler, zehntausend jüdische Gefangene nach Schweden oder in die Schweiz entlassen, so wie er es bereits im Februar dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, insgeheim signalisiert habe.

Bei einem konspirativen Treffen von Himmler und Bernadotte kann der Schwede immer größere Zugeständnisse des Reichsführers-SS erreichen, und Himmler spielt seine vorgeblich humanitäre Vermittlerrolle in dem letzten Schmierentheater dieses Massenmörders fast perfekt.

Himmler gibt den Alliierten seine „Friedensbereitschaft“ schriftlich: Er habe sich in den Jahren 1936 bis 1940 „zusammen mit jüdischen amerikanischen Vereinigungen“ intensiv darum bemüht, die deutschen Juden auswandern zu lassen. Die letzten Juden nun nach Schweden oder in die Schweiz ausreisen zu lassen, knüpfe an das früher schon eingeschlagene „segensreiche Verfahren“ an. Wenn auf allen Seiten „Weisheit und Logik“ einkehre, dann könnten sich auch „das menschliche Herz und das Wollen zum Helfen“ durchsetzen.

Die atemberaubende Verlogenheit des Reichsführers-SS, der die Ermordung von Millionen Juden als befehlender Täter zu verantworten hat, wird nur noch übertroffen von der Feigheit, mit der er seine Haut retten will, und von seiner Dummheit anzunehmen, die Alliierten könnten nach der bereits erfolgten Befreiung der KZ Majdanek und Auschwitz und im Licht der immer grauenvolleren Enthüllungen über die Verbrechen im deutschen Namen auf ein solches Manöver hereinfallen.
Winston Churchill, dem das geheime Angebot Himmlers zur Kenntnis gebracht wird, lehnt brüsk ab: „No link with Himmler“ (Keine Verbindung mit Himmler) steht in Churchills Handschrift auf dem Dokument.

Himmler weiß noch nichts von der Ablehnung durch die Alliierten und wartet in erregter Spannung auf eine Antwort. Anderthalb Monate später wird Hitler aus dem britischen Rundfunk von den Geheimverhandlungen und dem „Friedensangebot“ seines „treuen Heinrichs“, der zum Verräter geworden ist, erfahren.

Lager Rheinberg17. März 1945

Die Alliierten werden der Massen an deutschen Kriegsgefangenen kaum Herr. Große Flächen der Rheinwiesen werden mit Stacheldraht eingezäunt - und fertig sind die Kriegsgefangenenlager, in denen die deutschen Soldaten unter freiem Himmel und ohne den Hauch einer Infrastruktur vegetieren müssen. Am 17. März wird das Kriegsgefangenenlager in Rheinberg „eingerichtet“. Allein hier werden bis zum Herbst rund 120.000 Gefangene interniert.

Gefangenenlager in Rheinberg: Ohne irgendeine Infrastruktur.

18. März 1945

Es ist Passionssonntag, und zum ersten Mal in der gerade begonnenen „Nachkriegszeit“ wird in der Kerzenkapelle zu Kevelaer eine festliche Messe für die Einwohner gefeiert. Das Gotteshaus ist überfüllt. Auch in der Beichtkapelle versammeln sich an diesem Sonntag Gläubige zur Eucharistiefeier. In Winnekendonk, wo nach der Zerstörung der St.-Urbanus-Kirche kein Gotteshaus zur Verfügung steht, benutzen Priester und Gläubige eine Baracke auf dem Friedhof für die Sonntagsmesse.

Während die Gläubigen befreit und andächtig feiern, üben einige Kilometer entfernt - auf der Maas in Holland - alliierte Truppen den geplanten Rheinübergang und damit die Vorstufe zur Eroberung des Ruhrgebiets. Zur selben Zeit spitzt sich in Berlin ein dramatisches Geschehen zu:

Rüstungsminister Albert Speer kämpft nun mit offenem Visier gegen die Befehle Hitlers, dem vorrückenden Feind nur „verbrannte Erde“ zu überlassen. Am Sonntag überreicht er Hitler eine Denkschrift, dass nunmehr die zivilen Bedürfnisse den Vorrang vor den militärischen Notwendigkeiten haben müssten. Den Menschen dürfe nicht die künftige Lebensbasis genommen werden, indem alles - von Fabriken über Straßen bis zu Kirchen und Denkmälern - vor dem Rückzug in die Luft gesprengt werde. Und: „Keiner darf den Standpunkt einnehmen, daß an sein persönliches Schicksal auch das Schicksal des deutschen Volkes gebunden ist.“ Damit greift Speer den „Führer“ und dessen Befehle direkt an.

Speer weiß, dass es nun für ihn um Leben oder Tod geht, bereitet seine Flucht nach Königsberg vor, setzt sich aber nicht ab, sondern begibt sich erneut in den Bunker der von ihm gebauten Reichskanzlei und begegnet Hitler, der inzwischen die Denkschrift gelesen hat. Zu ihr sagt Hitler kein Wort. Erst beim Abschied ruft er Speer zu: „Diesmal bekommen Sie auf Ihre Denkschrift eine schriftliche Antwort!“

Noch in derselben Nacht rast Speer mit Vollgas über die Autobahn von Berlin nach Bad Nauheim, wo er von Oberbefehlshaber West, Kesseling, in dessen Hauptquartier erreichen will, dass die Wehrmacht in diesen letzten Tagen des längst verlorenen Kriegs Menschen und Betriebe schone. Kesseling zieht sich auf die Führerbefehle und seine Gehorsamspflicht zurück. Feldmarschall Model, den Speer anschließend im Westerwald aufspürt, sagt immerhin zu, dass die Verkehrsanlagen des Ruhrgebiets bei einem Rückzug nicht zerstört werden sollen.

Aber diese Zusage gilt schon im nächsten Augenblick nicht mehr. Noch während des Gesprächs von Speer und Model trifft ein Fernschreiben aus Berlin ein, das die befohlenen Zerstörungen sogar ausweitet - bis zur Wüstenlandschaft.

Es ist Hitlers schriftliche Antwort auf Speers Denkschrift: der auf den folgenden Tag datierte Befehl, der als Nero-Befehl in die Geschichte eingehen wird.

Kapitel 14

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© Martin Willing 2012, 2013