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Kapitel 15

19. März 1945

In der Nacht zum 19. März fährt Rüstungsminister Speer vom Westerwald, wo er mit Feldmarschall Model über die Schonung des Ruhrgebiets verhandelt hat und von Hitlers „Nero-Befehl“ überrascht worden ist, zurück nach Berlin. Gegen fünf Uhr trifft er in seiner Wohnung ein. Speer, der wie kein anderer aus dem engsten Kreis auch emotional mit dem „Führer“ verbunden ist, sagt zu einem Mitbewohner: „Hitler ist ein Verbrecher.“ Speer fällt in eine tiefe Depression.

Ganz anders beginnt der Tag in Kevelaer: Die Schwestern von der Göttlichen Vorsehung, die zusammen mit einigen Klarissenschwestern in Sonsbeck evakuiert gewesen sind, kehren in die Wallfahrtsstadt zurück. Ihr Marienheim, schwer beschädigt, ist zwar mit alliierten Soldaten belegt, weshalb sich die Nonnen tagsüber im „Haus zur guten Quelle“, nachts in einem leer stehenden Gebäude an der Neustraße einquartieren müssen; aber sie sind hoffnungsfroh und wollen im „Heidelberger Faß“ einen provisorischen Kindergarten einrichten.

In der Marienstadt, wo Zuversicht aufkeimt, weiß man nichts von Hitlers barbarischem Befehl, der das Land der Deutschen und sie selbst in den Abgrund stürzen soll. Die Geschichte kennt kein Beispiel für solche Selbstvergötzung: Ein einzelner Mensch setzt sein Ende gleich mit dem Ende des Volkes. Zugleich ist der „Nero-Befehl“ eine beispiellose Bestrafungsaktion: Zweck dieser „nunmehr gegen Deutschland gerichteten Massenmordaktion Hitlers“ ist, „die Deutschen dafür zu bestrafen, daß sie sich für einen heroischen Endkampf nicht mehr willig genug hingegeben, also der ihnen von Hitler bestimmten Rolle zuletzt entzogen hatten. Das war in Hitlers Augen ein todeswürdiges Verbrechen“ (Sebastian Haffner). Hitlers Befehl lautet:

(...) Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.
(...) gez. Adolf Hitler

20. März 1945

Es war, wie Speer in seinen „Erinnerungen“ schreibt, „das Todesurteil für das deutsche Volk, das Prinzip der ‚Verbrannten Erde‘ in der denkbar schärfsten Form. (...) Die Folgen wären unvorstellbar gewesen: auf unabsehbare Zeit kein Strom, kein Gas, kein sauberes Wasser; keine Kohle, kein Verkehr. Alle Bahnanlagen, Kanäle, Schleusen, Docks, Schiffe, Lokomotiven zerstört. Selbst wo die Industrie nicht zerstört worden wäre, hätte sie aus Mangel an Strom, Gas und Wasser nicht produzieren können; keine Vorratshäuser, kein Telefonverkehr - kurz - ein ins Mittelalter zurückversetztes Land.“
Himmler weitet, während er sich insgeheim den Westalliierten für einen „Teilfrieden“ andient, seinen Terror gegen die deutsche Zivilbevölkerung aus. Der Reichsführer-SS gestattet jedem Waffenträger, „Plünderer“ auf der Stelle zu erschießen. Vielerorts werden nach Luftan-griffen „Verdächtige“ umgebracht. Massenhaft werden in diesen Tagen Gefängnisinsassen und „Zwangsarbeiter“ ermordet, damit sie nicht von den Alliierten befreit werden können.

Unterdessen rechnen die deutschen Generäle jeden Moment mit einem Großangriff an der Rheinfront. Am 20. März erhöht General Blaskowitz die Alarmbereitschaft für die Heeresgruppe „H“. Die Alliierten täuschen die Deutschen mit geschickten Manövern darüber, wo die Offensive einsetzen soll. Sie verteilen ihr massenhaftes Waffenarsenal entlang des gesamten unteren Niederrheins und bewegen Attrappen hin und her. Weil die 1. kanadische Armee gegenüber von Emmerich in Bereitstellung liegt, wird von den Deutschen Emmerich als Zentrum der Offensive vermutet. Deshalb stationiert General Blaskowitz seine Reservearmee - rund 30.000 Mann mit schwacher Bewaffnung - nördlich von Bocholt. Durch diese Fehlentscheidung kann die Reservearmee nicht mehr in die Entscheidungsschlacht zwischen Rees und Wesel eingreifen.

Während die deutschen Truppen in erhöhter Alarmbereitschaft auf den Angriff warten, beenden am 20. März die am Unternehmen „Varsity“ beteiligten Piloten der Alliierten ihr Trainingsprogramm. In 50.000 Flugstunden sind sie von französischen Flugplätzen aus auf die Luftlandeoperation vorbereitet worden.

In Kevelaer wird unterdessen das Rathaus an der Busmannstraße von der britischen Militärbehörde beschlagnahmt. Die provisorische Gemeindeverwaltung siedelt mit ihrem Wirtschaftsamt und anderen Ämtern in die obere Etage der Orgelfabrik Seifert und in den Kölner Hof an der Hauptstraße um.

Das am 20. März in Kevelaer eröffnete DP-Camp befindet sich in dem Geländedreieck zwischen Wettener Straße, Buchbinderei Derricks und Umgehungsstraße. Es muss in den folgenden Wochen ständig um Zelte für je acht oder 16 Personen erweitert werden. Jeder Ankömmling - ob deutscher Zivilist oder befreiter Ausländer - wird entlaust und desinfiziert. Die Offiziere des Lagers wohnen in beschlagnahmten Häusern an der Jägerstraße. Bis Pfingsten werden es bereits rund 3000 Menschen sein, die hier auf dem Weg in ihre Länder und Heimatorte durchgeschleust sein werden.

Am Tag, als in Kevelaer das Lager für displaced persons (DP) in Betrieb genommen wird, eröffnen jugoslawische Partisanen unter ihrem legendären Führer Josip Broz, genannt Tito, ihre Offensive gegen die deutschen Besatzer. Jugoslawien wird das einzige Land sein, das sich aus eigener Kraft vom Hitler-Regime befreien kann.

21. März 1945

Möglichst geräuschlos bereiten alliierte Pioniere am linken Rheinufer im Schutz des künstlichen Nebels Behelfsbrücken vor. Schneisen werden in hohe Deiche des Vorlands gebrochen, damit schwere Amphibienfahrzeuge auf provisorischen Straßen leicht zum Ufer geführt werden können. Batteriebetriebene Leuchten, die zum Ostufer hin abgeschirmt sind, kennzeichnen die Fahrwege. Aus Sorge vor Spionen und Kundschaftern werden deutsche Soldaten, Überläufer und Deserteure, die in diesen Tagen immer wieder aufgegriffen werden, arrestiert. In jeder Nacht setzen alliierte Patrouillen heimlich über den Strom, um Informationen über das Gelände zu gewinnen. Immer bringen sie Gefangene mit - durchschnittlich vier in jeder Nacht.

In Winnekendonk beginnt am 21. März die Gemeindeverwaltung mit dem Neuaufbau. Bürgermeister Verhasselt bekommt von den Militärs sieben Polizisten zur Seite gestellt.

Am selben Tag endet Himmlers kurze Karriere als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel. Sein Traum, ein Feldherr werden zu können, endet nach einer Serie von Misserfolgen ruhmlos: Hitler löst ihn kurzerhand ab. Damit ist Himmler allerdings nicht kaltgestellt. Nach wie vor ist er militärischer Kommandeur des Volkssturms, Befehlshaber des Ersatzheeres und Chef der Deutschen Polizei, und diese Macht nutzt der Reichsführer-SS für Durchhalte- und Terrorbefehle, denen Tausende in der Schlussphase des Kriegs zum Opfer fallen.

Obwohl er selbst über Schweden Kontakt mit den Alliierten aufgenommen hat, befiehlt er noch im März: „Gegen das Heraushängen weißer Tüchter, das Öffnen bereits geschlossener Panzersperren, das Nichtantreten zum Volkssturm und ähnliche Erscheinungen ist mit härtesten Mitteln durchzugreifen (...) Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen. Es darf bei diesen Maßnahmen keinen Augenblick gezögert werden.“

22. März 1945

Der zur Untätigkeit verdammte Rüstungsminister Speer, dem Hitler die Zuständigkeit für die befohlenen Zerstörungen entzogen hat, hält es nicht länger in Berlin aus. Er hat von dem bevorstehenden Vorstoß der Alliierten auf das Ruhrgebiet gehört und weiß, dass die drei Gauleiter des Reviers Hitlers Zerstörungsbefehle bedenkenlos ausführen wollen. Und er bekommt die Information, dass schon am folgenden Tag die längst vorbereiteten Sprengungen beginnen sollen.

Speer begibt sich unverzüglich ins Ruhrgebiet, ruft etwa 20 Bergwerksdirektoren, denen er vertrauen kann, zusammen und fordert sie auf, alle Sprengmittel einziehen zu lassen. Er beschafft 50 Maschinenpistolen aus Restvorräten einer Waffenfabrik und lässt sie an Vertrauenspersonen ausgeben, damit die Zerstörungen notfalls mit Gewalt verhindert werden. - Auf Einsicht der Gauleiter kann Speer nicht hoffen. In Düsseldorf schwärmt geradezu der dortige Parteichef von dem Bild, wie aus der Großstadt ein Flammenmeer entstehen und der Feind nur verbrannte Erde vorfinden soll.

Unterdessen werden zahlreiche Städte im weiteren Umfeld des Niederrheins bombardiert - untrügliche Vorzeichen für den Großangriff, mit dem nun jede Stunde gerechnet werden muss. Verkehrszentren werden zerstört, um den deutschen Nachschub zu unterbinden, außerdem gezielt Kasernen und Depots. Tausende von alliierten Bombern fliegen zur Mittagszeit an.

Zu den Zielen zählen Dorsten, Gladbeck, Barmingholten, Bottrop, Westerholt, Mülheim, Hinsbeck, Hattingen und Düsseldorf-Gerresheim. Allein auf Dorsten fallen in wenigen Minuten 5.600 Bomben.

Auch Bocholt wird heimgesucht, wo 190 Menschen bei einem nur fünf Minuten dauernden Bombardement getötet werden. Bei diesem Luftangriff werden Klarissenschwestern, die bereits ihr Kloster in Kevelaer verloren haben, erneut ausgebombt. Sie flüchten nun zum Gut Geuting in Spork.

Ab dem frühen Abend feuert die alliierte Artillerie weit ins Land. Ein Volltreffer zerstört das Hauptquartier von General Schlemm, während er und seine Offiziere über Abwehrmaßnahmen beratschlagen. Mit einem Schädelbruch wird der General ins Lazarett eingeliefert. Für ihn ist der Krieg zu Ende.

Am selben Tag landet der britische Premier Winston Churchill in Venlo. Feldmarschall Montgomery holt ihn ab und bringt ihn in sein Hauptquartier in Walbeck. Churchill will mit eigenen Augen sehen, wie die Alliierten den Rhein überqueren.

Churchill
Winston Churchill betritt am 25. März 1945 die linke Rheinseite. Foto aus: Helmuth Euler, Entscheidung an Rhein und Ruhr, Stuttgart 1995, s. 57

23. März 1945

Schermbeck wird bombardiert. Und für Dinslaken ist es der schlimmste Tag des Kriegs: Am Morgen, um 8.30 Uhr, beginnt ein fürchterlicher Luftangriff, der bis zum Abend anhält. In zehnminütigen Abständen kommen immer neue Bomberformationen. 749 Menschen werden getötet.

Auf einem Flugplatz südlich von Paris schreiben die britischen Soldaten, die für die Luftlandeoperation am folgenden Tag eingesetzt sind, ihre Abschiedsbriefe: Piloten, Kopiloten, Bordfunker und Lastenseglerpiloten. Erst jetzt erfahren sie ihr Ziel und erhalten Kartenmaterial. Die meisten nehmen am Abend noch an einem Gottesdienst im Freien teil. Sie wissen, dass nicht alle heimkehren werden.

Im gesamten linksrheinischen Gebiet herrscht am 23. März strengste Ausgangssperre für Zivilisten. Etwas Großes, so ahnen viele, liegt in der Luft.

Um 15.30 Uhr gibt Montgomery von Walbeck aus den Befehl zum Angriff zwischen Rees und Rheinberg. Die Operation mit dem Codenamen „Two if by sea“ läuft an.

Die Deutschen auf dem Ostufer sehen es zuerst: Die Nebel verschwinden. Die Generatoren sind abgeschaltet.

Ab 17 Uhr feuert die Artillerie aus allen Rohren. Um 21 Uhr gehen die alliierten Truppen zum Angriff über.
Kapitel 15

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© Martin Willing 2012, 2013