23. März 1945
Den Beginn der alliierten Offensive mit Rheinüberquerung schildert ein
deutscher Offizier in seinem Tagebuch: „Wir saßen bei einer Flasche
Cognac, dem einzigen Mittel, um die zum Reißen gespannten Nerven etwas
in Ordnung zu bringen. Da brach mit einem Schlag die Hölle los, und ohne
Worte wusste jeder - es ist so weit!“
Der Angriff wird bei Rees eröffnet. Schottische Einheiten, rund 2.000
Soldaten in über 60 Amphibienpanzern, beginnen um 21 Uhr mit dem
Übersetzen. Gleichzeitig nimmt ihre Artillerie das Ostufer unter Feuer.
Nach sieben Minuten ist der Strom überwunden.
Brennendes Rees.
Bei Wesel überqueren gegen 22 Uhr die ersten Briten - 450 Soldaten in
Amphibienpanzern - den Fluss. Aufgeteilt in kleine Spezialkommandos,
rücken sie bis auf tausend Meter an Wesel heran. Hier warten sie, bis
ihre Bomber anfliegen und die Ruinenstadt mit über tausend Bomben, so
lautet der Befehl, „neutralisieren“. Die Detonationen lösen Druckwellen
von unglaublicher Wucht aus. Häuser, Bäume, ganze Landschaften „lösen
sich einfach von der Erde“, schreibt ein britischer
Kriegsberichterstatter.
Unmittelbar nach dem Luftangriff tasten sich fast 2.000 britische
Soldaten mit Kompasshilfe durch die Dunkelheit. Weiße Bänder zeigen den
Nachfolgenden den Weg. Möglichst unbemerkt wollen die Alliierten in
Wesel einsickern. Als deutsche Artillerie die Grav-Insel unter Beschuss
nimmt, wissen sie, dass sie erwartet werden. Zur gleichen Zeit jagen in
Höhe Perrich zwischen Xanten und Wesel Sturmboote über den Rhein und
bringen 450 Mann ans Ostufer.
Die Fronttruppen werden von einem Hauptmateriallager versorgt, das bei
Goch eingerichtet ist und von dessen Existenz die Deutschen nichts
wissen. Ihre Artillerie hätte es erreichen und vernichten können.
Weseler Rheinbrücke.
24. März 1945
Eine Stunde nach Mitternacht beginnt die amerikanische Artillerie mit
Trommelfeuer zwischen Büderich und Orsoy. 600 Geschütze schießen
gleichzeitig. Die US-Soldaten haben keine Amphibienpanzer, sie müssen in
Sturmbooten übersetzen, die im Schutz der Deiche herangekarrt worden
sind. Um 2 Uhr werden die Sperrholzboote ins Wasser geschoben, neun Mann
passen in jedes Boot. Die Außenbordmotoren werden angeworfen. Gedeckt
durch massiven Artilleriebeschuss, jagen die Boote über den Rhein. Auch
bei Orsoy und Walsum setzen Amerikaner über. Fast alle schaffen es. Zwei
Boote und ihre Besatzungen werden von den Deutschen getroffen. Die
US-Einheiten greifen nicht in die Kämpfe um Wesel ein, sondern schwenken
in Richtung Dinslaken ab.
Um 2.34 Uhr werden in Südostengland die Soldaten der britischen
Luftlandedivision geweckt. Sie sollen ab 6 Uhr starten. Um 7 Uhr sind
alle Flugzeuge mit 440 britischen Lastenseglern in der Luft. Um 7.25 Uhr
steigen in Frankreich amerikanische Maschinen mit Fallschirmjägern auf.
Ihr gemeinsames Ziel ist eine Zone am Nordrand des Diersfordter Waldes
zwischen Bergerfuhrt und Mehrhoog.
Kurz vor 10 Uhr bricht das Artilleriefeuer ab. Gleichmäßiges Brummen
erfüllt die Luft. Am Himmel erscheint, von Westen kommend, ein schier
unendlicher Strom von Flugzeugen. Aber statt in großer Höhe wie
Bomberflotten auf dem Weg ins Ruhrgebiet fliegen sie niedrig, und
unschwer sind sie als Trans-portflugzeuge zu erkennen. Der blaue
Morgenhimmel über dem Diersfordter Wald verwandelt sich in ein bunt
geschecktes Gewölbe, das von weißen, blauen und olivgrünen Fallschirmen
gebildet wird. Die bunte Wolke schwebt zu Boden. Zwischen Wesel,
Mehrhoog und Hamminkeln beginnt in diesen Minuten die größte
zusammenhängende Luftlandung der Kriegsgeschichte. 1.500 Flugzeuge und
1.300 Lastensegler und Tausende Fallschirmjäger sind beteiligt.
Unterdessen toben vor Rees erbitterte Bodenkämpfe. Schottische Soldaten
kommen kaum vorwärts. Jede Bewegung löst sofortigen Beschuss durch die
Deutschen aus. Erst gegen 10 Uhr, als die Lastensegler am Himmel
erscheinen, können die Schotten den Kern von Rees angreifen. Die
Verteidiger kämpfen um jede Straße und jedes Haus. Zur Mittagszeit
verschanzen sie sich in der katholischen Kirche, in der
Straßenbahnstation und in einigen Fabrikgebäuden im nördlichen Teil von
Rees.
Zu diesem Zeitpunkt ist Wesel erobert. Bereits in der Nacht - gegen 3
Uhr - haben schottische Einheiten den Gefechtsstand des
Kampfkommandanten von Wesel, Deutsch, eingeschlossen und den General
erschossen.
Als gegen 7 Uhr die Bunkerbesatzung eine weiße Fahne zeigt, ist der
Kampf vorbei. Eine Stunde später richtet sich ein englischer Kommandeur
im Gefechtsstand von General Deutsch ein.
Die gewaltige Luftlandung fordert ungezählte Opfer.
Nach dem ersten Schock schießen die Deutschen mit allem, was sie noch
haben, auf die Flugzeuge, Lastensegler und ihre Besatzungen. In vielen
Fallschirmen hängen Tote. Fast 9.600 alliierte Sol-daten erreichen
lebend den Boden der Absprungzonen rund um den Diersfordter Wald. Und
immer noch schweben Lastensegler heran und suchen zwischen den Bäumen
auf Feldern nach Landemöglichkeiten. Jeder zweite Lastensegler, der
Ladung und Besatzung heil nach unten bringt, weist Einschüsse auf.
Zusammen mit den Bodentruppen stehen nun 21.000 Alliierte auf dem
Ostufer. 200 amerikanische und 340 britische Soldaten überleben diesen
Tag nicht. Noch mehr werden verwundet. Fast 70 Maschinen werden
abgeschossen. Zum Schluss kommen doch noch die zunächst vermuteten
Bomber - 240 amerikanische Maschinen, die diesmal allerdings 600 Tonnen
Nachschubmaterial für die Bodentruppen abwerfen.
Im Lauf des 24. März entstehen die drei neuen Brückenköpfe Wesel,
Bislich und Rees. Hier, direkt am Rhein, ebbt der deutsche Widerstand
ab. Dafür ist er umso stärker, je weiter die Alliierten landeinwärts
rücken. Besondere Gefahr droht ihnen aus dem Diersfordter Wald, wo sie
von starken deutschen Truppen erwartet werden. Der Wald wird
systematisch abgeriegelt und eingeschlossen. Den Deutschen steht, falls
sie sich nicht ergeben, Vernichtung bevor.
Churchill, Eisenhower und Montgomery
(v.l.) am 25. März 1945 auf einem Balkon der "Wacht am Rhein" in
Büderich mit Blick auf den Fuss, den die Alliierten gerade überquert
haben.
Während US-General Eisenhower das Geschehen von Kamp-Lintfort aus
beobachtet, steht der britische Premier Churchill in Begleitung von
Feldmarschall Montgomery auf einem Aussichtsturm unweit von Xanten. Die
Oberbefehlshaber der Alliierten wissen, dass die Rheinoffensive nur der
Anfang ist. Ihre Bomber fliegen unterdessen gegen Städte des
Ruhrgebiets. Am 24. März kommen beim Fliegerangriff auf Hattingen 144
Menschen ums Leben. In Recklinghausen sterben 173 Einwohner.
25. März 1945
Es ist Palmsonntag. In der Walbecker Kirche besuchen Churchill und
Montgomery einen Gottesdienst. Anschließend treffen sie sich mit
Eisenhower in Rheinberg und Kamp-Lintfort, wo sie im Bergwerkskasino zu
Mittag essen.
Churchill lässt sich zurück zum Rhein fahren und - trotz Eisenhowers
Veto („Das ist zu gefährlich“) - übersetzen. Zusammen mit Montgomery
fährt der Premier am Rhein entlang Richtung Wesel. Als in hundert Meter
Entfernung Geschosse einschlagen, wird der Ausflug abgebrochen.
An diesem Tag kann die überschätzte, aber in kleinen Einheiten
vorhandene Untergrundgruppe „Werwolf“, die auf Goebbels‘ und Himmlers
Befehl in den besetzten Gebieten Furcht und Schrecken verbreiten soll,
einen spektakulären „Erfolg“ landen. Der im Oktober 1944 von den
Alliierten im befreiten Aachen eingesetzte Oberbürgermeister Franz
Oppenhoff wird auf persönlichen Befehl des Reichsführers-SS von dem
Kommando eines SS-Obergruppenführers ermordet.
Zu diesem Zeitpunkt nähert sich der Kampf um Wesel
seinem Ende. 400 deutsche Soldaten besetzen den Hauptverbandsplatz in
der Stadt und wollen hier unter dem Deckmantel des Roten Kreuzes eine
Verteidigungsstellung aufbauen. Weitere Menschen sterben sinnlos. Als
Wesel eingenommen ist, sind Hunderte von deutschen Soldaten getötet,
fast tausend gehen in Gefangenschaft. Während sie einer ungewissen
Zukunft entgegensehen, bauen die Amerikaner bei Wesel ihre ersten
Schwimmbrücken.
Auch Rees wird an diesem Tag erobert. Einige der überlebenden deutschen
Fallschirmjäger setzen sich Richtung Haldern ab. Andere, die keine
Fluchtmöglichkeit mehr haben, eröffnen ihr letztes Gefecht. In Haus
Aspel bei Rees verschanzt sich der Rest einer deutschen Einheit. Deshalb
schießen die Briten einen Teil der Gebäude in Brand. Am Abend ist es in
Rees, wie Kriegsberichterstatter notieren, „ruhig“.
Die Bevölkerung am rechten Niederrhein ist in heller
Aufregung. Die Alliierten sind da oder stehen unmittelbar vor den Toren.
Und nun kommt auch noch ein Evakuierungsbefehl des Essener Gauleiters
Schleßmann, der auf Plakaten, datiert vom 25. März und überall
ausgehängt, verkünden lässt:
► „An die Bevölkerung der Kreise
Duisburg, Oberhausen, Dinslaken und Rees! Der Feind hat auf dem rechten
Ufer des Niederrheins Brückenköpfe errichtet. Es muss damit gerechnet
werden, dass er unter Einsatz seiner schweren Bomber und schwerster
Artilleriewaffen, wenn auch nur vorübergehend, weiter vorrückt und in
unsere Großstädte eindringt. (...) Der Feind wird mit brutalster Härte
wieder herausgehauen werden. Kein Mittel wird gescheut, unsere
niederrheinische Heimat, unsere Städte an Ruhr und Niederrhein, wieder
freizukämpfen. (...) In diesem Kampfgebiet dürfen Frauen und Kinder
nicht mehr sein. Verpflegung, Wohnung, Brot, Milch, Wasser, Licht usw.
werden ausfallen. Lebensmöglichkeiten wird es nicht mehr geben. Die
totale Räumung ist daher zwingendes Gebot!“
Es ist die Ausführung von Hitlers „Nero-Befehl“: Alle Zivilisten
fortschaffen, jede Infrastruktur zerstören, dem Feind „verbrannte Erde“
hinterlassen.
Während die Rheinfront bricht, stößt an diesem Tag die Rote Armee in
Ungarn durch die deutschen Linien und erobert in wenigen Tagen ganz
Ungarn.
Um diesen 25. April herum wird in einer Nacht- und
Nebelaktion Pfarrer
Wilhelm
Holtmann zurückgeholt. Ein Kevelaerer schleust den Wallfahrtsrektor
von Haldern nach Kevelaer - aus der noch nicht besetzten Gemeinde in den
Gnadenort, der seit dem 3. März von den Briten kontrolliert wird. Die
Gestapo hatte Holtmann mit der Auflage, linksrheinisches Gebiet nicht zu
betreten, aus der Haft entlassen. In Kevelaer bekommt der Pfarrer im
Krankenhaus eine kleine Wohnung.
Am 25. März geschehen weitere bemerkenswerte Dinge: Im befreiten
Amsterdam hat an diesem Tag eine Holländerin ihre erste von zahlreichen
Visionen. Ida Peerdeman berichtet, ihr sei die Gottesmutter erschienen,
die sich „Die Frau aller Völker“ genannt habe. Die Visionen, die bis in
die 1950er-Jahre anhalten, finden keine kirchliche Anerkennung.
Am selben Tag, da mit Holtmanns Rückkehr ein weiteres Stück „Normalität“
in Kevelaer einzieht, stirbt im Zuchthaus Lüttringhausen
Franz Stappers.
Ihn kennen die Winnekendonker aus seiner Kaplanszeit.
Franz Stappers, der zu den Märtyrern, den „Zeugen für Christus“, gezählt
wird, erliegt den Folgen der unmenschlichen Haft.