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Kapitel 16

23. März 1945

Den Beginn der alliierten Offensive mit Rheinüberquerung schildert ein deutscher Offizier in seinem Tagebuch: „Wir saßen bei einer Flasche Cognac, dem einzigen Mittel, um die zum Reißen gespannten Nerven etwas in Ordnung zu bringen. Da brach mit einem Schlag die Hölle los, und ohne Worte wusste jeder - es ist so weit!“

Der Angriff wird bei Rees eröffnet. Schottische Einheiten, rund 2.000 Soldaten in über 60 Amphibienpanzern, beginnen um 21 Uhr mit dem Übersetzen. Gleichzeitig nimmt ihre Artillerie das Ostufer unter Feuer. Nach sieben Minuten ist der Strom überwunden.

Brennendes Rees
Brennendes Rees.

Bei Wesel überqueren gegen 22 Uhr die ersten Briten - 450 Soldaten in Amphibienpanzern - den Fluss. Aufgeteilt in kleine Spezialkommandos, rücken sie bis auf tausend Meter an Wesel heran. Hier warten sie, bis ihre Bomber anfliegen und die Ruinenstadt mit über tausend Bomben, so lautet der Befehl, „neutralisieren“. Die Detonationen lösen Druckwellen von unglaublicher Wucht aus. Häuser, Bäume, ganze Landschaften „lösen sich einfach von der Erde“, schreibt ein britischer Kriegsberichterstatter.

Unmittelbar nach dem Luftangriff tasten sich fast 2.000 britische Soldaten mit Kompasshilfe durch die Dunkelheit. Weiße Bänder zeigen den Nachfolgenden den Weg. Möglichst unbemerkt wollen die Alliierten in Wesel einsickern. Als deutsche Artillerie die Grav-Insel unter Beschuss nimmt, wissen sie, dass sie erwartet werden. Zur gleichen Zeit jagen in Höhe Perrich zwischen Xanten und Wesel Sturmboote über den Rhein und bringen 450 Mann ans Ostufer.

Die Fronttruppen werden von einem Hauptmateriallager versorgt, das bei Goch eingerichtet ist und von dessen Existenz die Deutschen nichts wissen. Ihre Artillerie hätte es erreichen und vernichten können.

Weseler Rheinbrücke
Weseler Rheinbrücke.

24. März 1945

Eine Stunde nach Mitternacht beginnt die amerikanische Artillerie mit Trommelfeuer zwischen Büderich und Orsoy. 600 Geschütze schießen gleichzeitig. Die US-Soldaten haben keine Amphibienpanzer, sie müssen in Sturmbooten übersetzen, die im Schutz der Deiche herangekarrt worden sind. Um 2 Uhr werden die Sperrholzboote ins Wasser geschoben, neun Mann passen in jedes Boot. Die Außenbordmotoren werden angeworfen. Gedeckt durch massiven Artilleriebeschuss, jagen die Boote über den Rhein. Auch bei Orsoy und Walsum setzen Amerikaner über. Fast alle schaffen es. Zwei Boote und ihre Besatzungen werden von den Deutschen getroffen. Die US-Einheiten greifen nicht in die Kämpfe um Wesel ein, sondern schwenken in Richtung Dinslaken ab.

Um 2.34 Uhr werden in Südostengland die Soldaten der britischen Luftlandedivision geweckt. Sie sollen ab 6 Uhr starten. Um 7 Uhr sind alle Flugzeuge mit 440 britischen Lastenseglern in der Luft. Um 7.25 Uhr steigen in Frankreich amerikanische Maschinen mit Fallschirmjägern auf. Ihr gemeinsames Ziel ist eine Zone am Nordrand des Diersfordter Waldes zwischen Bergerfuhrt und Mehrhoog.

Kurz vor 10 Uhr bricht das Artilleriefeuer ab. Gleichmäßiges Brummen erfüllt die Luft. Am Himmel erscheint, von Westen kommend, ein schier unendlicher Strom von Flugzeugen. Aber statt in großer Höhe wie Bomberflotten auf dem Weg ins Ruhrgebiet fliegen sie niedrig, und unschwer sind sie als Trans-portflugzeuge zu erkennen. Der blaue Morgenhimmel über dem Diersfordter Wald verwandelt sich in ein bunt geschecktes Gewölbe, das von weißen, blauen und olivgrünen Fallschirmen gebildet wird. Die bunte Wolke schwebt zu Boden. Zwischen Wesel, Mehrhoog und Hamminkeln beginnt in diesen Minuten die größte zusammenhängende Luftlandung der Kriegsgeschichte. 1.500 Flugzeuge und 1.300 Lastensegler und Tausende Fallschirmjäger sind beteiligt.

Unterdessen toben vor Rees erbitterte Bodenkämpfe. Schottische Soldaten kommen kaum vorwärts. Jede Bewegung löst sofortigen Beschuss durch die Deutschen aus. Erst gegen 10 Uhr, als die Lastensegler am Himmel erscheinen, können die Schotten den Kern von Rees angreifen. Die Verteidiger kämpfen um jede Straße und jedes Haus. Zur Mittagszeit verschanzen sie sich in der katholischen Kirche, in der Straßenbahnstation und in einigen Fabrikgebäuden im nördlichen Teil von Rees.

Zu diesem Zeitpunkt ist Wesel erobert. Bereits in der Nacht - gegen 3 Uhr - haben schottische Einheiten den Gefechtsstand des Kampfkommandanten von Wesel, Deutsch, eingeschlossen und den General erschossen.

Als gegen 7 Uhr die Bunkerbesatzung eine weiße Fahne zeigt, ist der Kampf vorbei. Eine Stunde später richtet sich ein englischer Kommandeur im Gefechtsstand von General Deutsch ein.

Die gewaltige Luftlandung fordert ungezählte Opfer. Nach dem ersten Schock schießen die Deutschen mit allem, was sie noch haben, auf die Flugzeuge, Lastensegler und ihre Besatzungen. In vielen Fallschirmen hängen Tote. Fast 9.600 alliierte Sol-daten erreichen lebend den Boden der Absprungzonen rund um den Diersfordter Wald. Und immer noch schweben Lastensegler heran und suchen zwischen den Bäumen auf Feldern nach Landemöglichkeiten. Jeder zweite Lastensegler, der Ladung und Besatzung heil nach unten bringt, weist Einschüsse auf.

Zusammen mit den Bodentruppen stehen nun 21.000 Alliierte auf dem Ostufer. 200 amerikanische und 340 britische Soldaten überleben diesen Tag nicht. Noch mehr werden verwundet. Fast 70 Maschinen werden abgeschossen. Zum Schluss kommen doch noch die zunächst vermuteten Bomber - 240 amerikanische Maschinen, die diesmal allerdings 600 Tonnen Nachschubmaterial für die Bodentruppen abwerfen.

Im Lauf des 24. März entstehen die drei neuen Brückenköpfe Wesel, Bislich und Rees. Hier, direkt am Rhein, ebbt der deutsche Widerstand ab. Dafür ist er umso stärker, je weiter die Alliierten landeinwärts rücken. Besondere Gefahr droht ihnen aus dem Diersfordter Wald, wo sie von starken deutschen Truppen erwartet werden. Der Wald wird systematisch abgeriegelt und eingeschlossen. Den Deutschen steht, falls sie sich nicht ergeben, Vernichtung bevor.

Churchill, Eisenhower
Churchill, Eisenhower und Montgomery (v.l.) am 25. März 1945 auf einem Balkon der "Wacht am Rhein" in Büderich mit Blick auf den Fuss, den die Alliierten gerade überquert haben.

Während US-General Eisenhower das Geschehen von Kamp-Lintfort aus beobachtet, steht der britische Premier Churchill in Begleitung von Feldmarschall Montgomery auf einem Aussichtsturm unweit von Xanten. Die Oberbefehlshaber der Alliierten wissen, dass die Rheinoffensive nur der Anfang ist. Ihre Bomber fliegen unterdessen gegen Städte des Ruhrgebiets. Am 24. März kommen beim Fliegerangriff auf Hattingen 144 Menschen ums Leben. In Recklinghausen sterben 173 Einwohner.

25. März 1945

Es ist Palmsonntag. In der Walbecker Kirche besuchen Churchill und Montgomery einen Gottesdienst. Anschließend treffen sie sich mit Eisenhower in Rheinberg und Kamp-Lintfort, wo sie im Bergwerkskasino zu Mittag essen.

Churchill lässt sich zurück zum Rhein fahren und - trotz Eisenhowers Veto („Das ist zu gefährlich“) - übersetzen. Zusammen mit Montgomery fährt der Premier am Rhein entlang Richtung Wesel. Als in hundert Meter Entfernung Geschosse einschlagen, wird der Ausflug abgebrochen.

An diesem Tag kann die überschätzte, aber in kleinen Einheiten vorhandene Untergrundgruppe „Werwolf“, die auf Goebbels‘ und Himmlers Befehl in den besetzten Gebieten Furcht und Schrecken verbreiten soll, einen spektakulären „Erfolg“ landen. Der im Oktober 1944 von den Alliierten im befreiten Aachen eingesetzte Oberbürgermeister Franz Oppenhoff wird auf persönlichen Befehl des Reichsführers-SS von dem Kommando eines SS-Obergruppenführers ermordet.

Zu diesem Zeitpunkt nähert sich der Kampf um Wesel seinem Ende. 400 deutsche Soldaten besetzen den Hauptverbandsplatz in der Stadt und wollen hier unter dem Deckmantel des Roten Kreuzes eine Verteidigungsstellung aufbauen. Weitere Menschen sterben sinnlos. Als Wesel eingenommen ist, sind Hunderte von deutschen Soldaten getötet, fast tausend gehen in Gefangenschaft. Während sie einer ungewissen Zukunft entgegensehen, bauen die Amerikaner bei Wesel ihre ersten Schwimmbrücken.

Auch Rees wird an diesem Tag erobert. Einige der überlebenden deutschen Fallschirmjäger setzen sich Richtung Haldern ab. Andere, die keine Fluchtmöglichkeit mehr haben, eröffnen ihr letztes Gefecht. In Haus Aspel bei Rees verschanzt sich der Rest einer deutschen Einheit. Deshalb schießen die Briten einen Teil der Gebäude in Brand. Am Abend ist es in Rees, wie Kriegsberichterstatter notieren, „ruhig“.

Die Bevölkerung am rechten Niederrhein ist in heller Aufregung. Die Alliierten sind da oder stehen unmittelbar vor den Toren. Und nun kommt auch noch ein Evakuierungsbefehl des Essener Gauleiters Schleßmann, der auf Plakaten, datiert vom 25. März und überall ausgehängt, verkünden lässt:

„An die Bevölkerung der Kreise Duisburg, Oberhausen, Dinslaken und Rees! Der Feind hat auf dem rechten Ufer des Niederrheins Brückenköpfe errichtet. Es muss damit gerechnet werden, dass er unter Einsatz seiner schweren Bomber und schwerster Artilleriewaffen, wenn auch nur vorübergehend, weiter vorrückt und in unsere Großstädte eindringt. (...) Der Feind wird mit brutalster Härte wieder herausgehauen werden. Kein Mittel wird gescheut, unsere niederrheinische Heimat, unsere Städte an Ruhr und Niederrhein, wieder freizukämpfen. (...) In diesem Kampfgebiet dürfen Frauen und Kinder nicht mehr sein. Verpflegung, Wohnung, Brot, Milch, Wasser, Licht usw. werden ausfallen. Lebensmöglichkeiten wird es nicht mehr geben. Die totale Räumung ist daher zwingendes Gebot!“

Es ist die Ausführung von Hitlers „Nero-Befehl“: Alle Zivilisten fortschaffen, jede Infrastruktur zerstören, dem Feind „verbrannte Erde“ hinterlassen.

Während die Rheinfront bricht, stößt an diesem Tag die Rote Armee in Ungarn durch die deutschen Linien und erobert in wenigen Tagen ganz Ungarn.

Um diesen 25. April herum wird in einer Nacht- und Nebelaktion Pfarrer Wilhelm Holtmann zurückgeholt. Ein Kevelaerer schleust den Wallfahrtsrektor von Haldern nach Kevelaer - aus der noch nicht besetzten Gemeinde in den Gnadenort, der seit dem 3. März von den Briten kontrolliert wird. Die Gestapo hatte Holtmann mit der Auflage, linksrheinisches Gebiet nicht zu betreten, aus der Haft entlassen. In Kevelaer bekommt der Pfarrer im Krankenhaus eine kleine Wohnung.

Am 25. März geschehen weitere bemerkenswerte Dinge: Im befreiten Amsterdam hat an diesem Tag eine Holländerin ihre erste von zahlreichen Visionen. Ida Peerdeman berichtet, ihr sei die Gottesmutter erschienen, die sich „Die Frau aller Völker“ genannt habe. Die Visionen, die bis in die 1950er-Jahre anhalten, finden keine kirchliche Anerkennung.

Am selben Tag, da mit Holtmanns Rückkehr ein weiteres Stück „Normalität“ in Kevelaer einzieht, stirbt im Zuchthaus Lüttringhausen Franz Stappers. Ihn kennen die Winnekendonker aus seiner Kaplanszeit. Franz Stappers, der zu den Märtyrern, den „Zeugen für Christus“, gezählt wird, erliegt den Folgen der unmenschlichen Haft.

Kapitel 16

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© Martin Willing 2012, 2013