Logo für Blattus Martini

Titelbutton
logo INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 17

26. März 1945

Am Morgen des 26. März werden in Rees die letzten deutschen Soldaten aus einem Keller geholt und gefangen genommen. Befreit atmen niederländische Sklavenarbeiter auf, die im Umkreis von Rees interniert gewesen sind. Allein dort haben fast 250 von ihnen Misshandlungen, Krankheiten und Unterernährung nicht überlebt.

Gefallene Soldaten
Raum Wesel: Britische Soldaten rücken vor, getötete Soldaten am Wegrand. Foto aus: Helmuth Euler, Entscheidung an Rhein und Ruhr, Stuttgart 1995, S. 80

Die Front zieht weiter in Richtung Ruhrgebiet. Die ersten Zivilisten, die aus Orten des heutigen Kreises Kleve von den Alliierten zum Schutz der Rheinoffensive nach Bedburg-Hau und in andere Lager evakuiert worden sind, dürfen zurückkehren.

Churchill und Montgomery fahren im Jeep von Walbeck aus über Xanten und Bislich erneut zum Rhein. Sie besichtigen die Schwimmbrücken ihrer Pioniere. „Auf dem Weg zum Ufer sahen wir einen Haufen von kürzlich gefangenen deutschen Soldaten, ein armseliges Los“, notiert ein Begleiter. Am frühen Nachmittag wird der Premierminister nach Venlo gebracht, wo Churchills Flugzeug startet. Am folgenden Tag fliegen sie ihm bis London nach - die letzten V2-Geschosse der Deutschen, die letzten von insgesamt 1.050 Stück.

Die vorrückende Front treibt immer mehr deutsche Soldaten und Kriegsgefangene im Ruhrgebiet zusammen. Ihre Versorgung wird zunehmend schwieriger. In Dortmund wird aus der Gauleitung der Befehl gegeben, sämtliche Ausländer im Zuständigkeitsbereich „unschädlich“ zu machen - ein verordneter Massenmord: 23.000 Sklavenarbeiter und 7.000 Kriegsgefangene sollen umgebracht werden.

Es werden Bedenken vorgebracht: Eine so große Anzahl von Menschen zu töten, übersteige die technischen Möglichkeiten. Deshalb wird in Dortmund geplant, die 30.000 Menschen in die Bergwerksstollen der Zechen „Adolf von Hansemann“ und „Gottessegen“ zu treiben und die Entwässerungspumpen abzuschalten. Das einsickernde Wasser werde die entscheidende Arbeit übernehmen.

Der Kampf um das Ruhrgebiet vereitelt den Plan des Massenmords, und vereitelt wird auch, dass die Verantwortlichen nach dem Krieg angemessen zur Rechenschaft gezogen werden. Vor dem Nürnberger Tribunal angeklagt, kann dem Gauleiter eine unmittelbare Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht nachgewiesen werden. Mangels Beweises wird er freigesprochen. Für seine Mittäterschaft als Gauleiter bekommt er weniger als fünf Jahre, die er nur teilweise absitzen muss. Nach Begnadigung und Entlassung (1950) erwirtschaftet der Mann in Norddeutschland als Unternehmer ein beträchtliches Vermögen.

Am 26. März entzieht Hitler Rüstungsminister Speer die Verantwortung für die gesamte Luftrüstung und die Verfügungsgewalt über die Fachleute des Speer-Ministeriums. Damit ist, so scheint es zumindest, das besondere Verhältnis zwischen Hitler und Speer zerbrochen. Was den Diktator und den deutlich jüngeren Architekten auf so einzigartige Weise verbunden hat, erklärt der Hitler- und Speer-Biograf Joachim Fest nicht nur mit gemeinsamer Leidenschaft für die Baukunst, sondern auch mit (nie eingestandenen) homoerotischen Grundzügen ihrer Beziehung.

27. März 1945

Albert SpeerAm Abend des 27. März begibt sich Speer in sein Ministerium in Berlin. Er findet die Durchführungsbestimmungen zum Nero-Befehl vom 19. März vor: „Ziel ist Schaffen einer Verkehrswüste.“

Albert Speer. Foto: Bundesarchiv Bild 146II-277

An diesem Abend kommt es zu einer denkwürdigen Begegnung mit Hitler im Bunker der neuen Reichskanzlei. Hitler spricht, ohne ein Wort der Begrüßung, leise auf Speer ein. Er wisse, dass Speer zur Missachtung seines Zerstörungsbefehls offen aufgefordert habe. Wenn Speer nicht sein Architekt wäre, würde er an ihm die Konsequenzen vollziehen.

Hitler dringt auf Speer ein, er solle Urlaub nehmen, er sei überarbeitet. Als Speer scheinbar unbeeindruckt bleibt und sein Amt nicht aus freien Stücken aufgeben will, stellt ihm Hitler ein Ultimatum: Innerhalb von 24 Stunden müsse sich Speer ihm gegenüber erklären, „ob Sie hoffen, daß der Krieg noch gewonnen werden kann.“

Die nächsten Stunden sitzt Speer in seinem Ministerium am Schreibtisch und verfasst eine lange Denkschrift, die begründen soll, warum er den Zerstörungsbefehl nicht befolgen könne. Er lässt eine der Hitler-Sekretärinnen bitten, die Seiten abzutippen. Aber ihr wird verboten, das Schreiben entgegenzunehmen. Hitler will die Antwort mündlich haben, und zwar nicht mehr am folgenden Morgen, sondern sofort.

Speer wird nach Mitternacht in den Bunker gerufen. Und als er Hitler gegenübersteht, gibt Speer die falsche, aber in diesem Moment über Leben und Tod entscheidende, „richtige“ Antwort:

„Mein Führer, ich stehe bedingungslos hinter Ihnen.“

Selbst der Historiker Joachim Fest, der mit Speer in den Jahren von 1966 bis 1981 viele Gespräche geführt hat, muss Fragen, die sich nun aufdrängen, unbeantwortet lassen. Speer wollte sich nicht näher erläutern.

Seine „leere Treueformel“ (Speer) in der Nacht zum 28. März hat enorme Wirkung: Hitlers Augen „füllten sich mit Wasser“, Speer fühlt sich als „Gewinner“ und erwirkt, dass er die Verantwortung für die Zerstörungsmaßnahmen zurückerhält. Er verspricht Hitler ein Verzeichnis der wichtigsten Objekte, die zerstört werden sollen, und weiß, dass er die Liste nicht vorlegen wird.

Die „leere Treueformel“ - eine von Speer strategisch eingesetzte Heuchelei? Ein plötzliches Einknicken vor dem mächtigen Mann, dem Speer alles zu verdanken hat? Eine ehrliche Loyalitätsbekundung bei gleichzeitiger Ablehnung des Zerstörungsbefehls?

Wahrscheinlich verweigerte Speer später deswegen weitere Erklärungen, weil nachvollziehbare Regungen wie Speers Dankbarkeit wie auch die Tränen in Hitlers Augen eine geradezu monströse Bedeutung für das deutsche Volk in seiner Schicksalsstunde haben: Von dieser nächtlichen Gefühlsaufwallung im Führerbunker hängt die Entscheidung zwischen Zerstörung und Erhalt der Lebensgrundlagen der Deutschen ab. Speers Floskel und Hitlers Rührung werden in ihren tatsächlichen Auswirkungen für Millionen Menschen so abstrus erhöht, dass es einem bei dem Gedanken, wer und was die Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung in den letzten Tagen bis zur Kapitulation steuert, kalt über den Rücken läuft.

Gegen zwei Uhr, es ist bereits der 28. März, verlässt Speer die Reichskanzlei und begibt sich - mit Hitlers Autorität wieder ausgestattet - sofort an die Arbeit, möglichst wenig zerstören zu lassen.

Während sich in Hitlers Bunker die denkwürdige Begegnung Speers mit Hitler anbahnt, geht der Krieg an Rhein, Ruhr und Lippe unvermindert weiter. Dorsten und Kirchhellen sind besetzt, Hamborn, Ruhrort und Meiderich, zudem Haltern und Dülmen werden am folgenden Tag genommen. Dann folgt Borken, und über Bocholt rückt die Front auf Stadtlohn zu.

Am 27. März legen Bomber die historische Altstadt von Paderborn in Schutt und Asche. „Viele Tote“, heißt es in Berichten.

Es ist der Tag, an dem Argentinien Deutschland den Krieg erklärt. In Europa sind nur noch Schweden, Irland, Portugal, Spanien und die Schweiz neutral.

28. März 1945

Speer lässt in seinem Ministerium noch in der Nacht zum 28. März Durchführungsbestimmungen drucken, mit denen er Hitlers Zerstörungsbefehle außer Kraft setzt, Verschonung von Industrie- und Versorgungsanlagen verfügt und Sprengungen beispielsweise von Brücken oder Schleusen verbietet.

Speer jagt mit seinem BMW-Sportwagen nach Oldenburg, wo er sich mit dem Reichskommissar für die Niederlande, Dr. Arthur Seyß-Inquart, darauf verständigt, die von Hitler angeordneten Überschwemmungen in den Niederlanden nicht auszuführen. Holland sollte durch Deichsprengungen weitflächig unter Wasser gesetzt werden.
Die Anordnungen, befohlene Zerstörungen nicht auszuführen, lässt Speer unverzüglich auch in die besetzten Gebiete in Ost- und Südeuropa übermitteln.

Die Bevölkerung des befreiten unteren Niederrheins kann sich kein Bild davon machen, was sich in den noch umkämpften Städten und Landstrichen ihres Landes und im Führerbunker in Berlin tut. Für die Kevelaerer ist im übrigen etwas anderes am 28. März wichtig: „Erstmalig wieder Wasser. Und der erste Zug fährt wieder“, zitiert Maria von Gisteren (Alte Weezer Str. 35) aus dem Notizbuch einer verstorbenen Freundin.

Und auch die Pfarrchronik, die Pastor Franz Nellis für Kervenheim führt, hält Erfreuliches für diesen Tag fest: Das Innere der Pfarrkirche, von außen erheblich in Mitleidenschaft gezogen, „ist kaum beschädigt.“ Altäre, Kommunionbank, Kanzel und Beichtstühle seien intakt. „Monstranz, Kelche, Paramente, alles erhalten: Deo gratias! In der Woche wird die Kirche an der Epistelseite aufgeräumt, so daß sonntags am Herz-Jesu-Altar die hl. Messe gefeiert werden kann.“

29. März 1945

Bei Wesel beginnen amerikanische Pioniere mit dem Bau der ersten festen Militärbrücke. Die einspurige Eisenbahnbrücke überspannt, auf 30 Pfeilern aus Holz und Stahl ruhend, den Rhein und zugleich die hier einmündende Lippe. Die Arbeiten dauern bis zum 9. April, dann rollt der erste Zug.

30. März 1945

Die Stadt Ahlen wird kampflos den Amerikanern übergeben. Ahlen verdankt seine Verschonung einem deutschen Sanitätsoffizier. Er will der mit verletzten Menschen überfüllten Stadt weitere Kampfhandlungen ersparen. Der Oberst - sein Name ist Dr. Paul Rosenbaum - wird nach dem Krieg für seine Entscheidung hoch geehrt.

Am selben Tag wird die Stadt Danzig von der Roten Armee erobert.

Anton Kalscheur findet in Twisteden ein verwüstetes Pfarrhaus vor, als er am 30. März in seine Pfarrei zurückkehrt. Die Briten haben es zwar freigegeben, aber das Haus ist nicht bewohnbar. Kalscheur kommt bei Landwirt Erben und später bei Maurermeister Heinrich Jansen unter.

In Kevelaer steht vor einem Büro der Orgelbaufirma Seifert eine Menschenschlange. Hier gibt es etwas Besonderes: Die ersten Lebensmittelkarten werden ausgegeben.

31. März 1945

Weniger als einen Monat nach Einstellung der Kampfhandlungen im Kreis Geldern sind bei der wieder arbeitenden Kreisverwaltung in Geldern 520 Unternehmungen registriert, davon 400 Handwerksbetriebe.

In Emmerich marschieren am 31. März britisch-kanadische Truppen ein. Erst jetzt ist auch für die Emmericher der Krieg vorbei. Zuletzt sind deutsche Artilleriestellungen auf dem Eltenberg ausgeschaltet worden.

Unverzüglich werden bei Emmerich Pontonbrücken über den Rhein gelegt.

Immer schneller schreitet die Besetzung Deutschlands voran. An diesem 31. März stoppt der amerikanische Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower den Vormarsch der westalliierten Truppen auf Berlin.

Eisenhower will die Eroberung der deutschen Hauptstadt der Roten Armee überlassen.

Kapitel 17

linie

logo INHALTSVERZEICHNIS

linie

© Martin Willing 2012, 2013