1. April 1945
Es ist Ostersonntag, und in Kevelaer feiern die Heimkehrer Christi
Auferstehung. Die frohe Botschaft, die in den dunklen Jahren nicht
verschüttet gewesen ist und vielen Gläubigen Halt gegeben hat, wird in
einer Radiosendung bösartig gestört: „Hass ist unser Gebet und Rache
unser Feldgeschrei!“ lautet die Proklamation an das deutsche Volk.
Mit diesem Aufruf tritt der Radiosender der Organisation „Werwolf“ zum
ersten Mal an die Öffentlichkeit. Der „Zusammenschluss der
nationalsozialistischen Freiheitskämpfer“,
Werwolf genannt,
wird vor allem von Goebbels mit Propagandareden versorgt. „Jedes Mittel
ist recht, um dem Feind Schaden zuzufügen.“ Der „Werwolf“ habe seine
„eigene Gerichtsbarkeit, die über Leben und Tod des Feindes, wie der
Verräter an unserem Volke, entscheidet.“
Die Alliierten werden durch das Auftreten der Partisanengruppe
alarmiert. Sie organisieren scharfe Abwehrmaßnahmen. Erst nach dem
Zusammenbruch erfahren sie, dass der „Werwolf“ kaum mehr als ein
propagandistisches Hirngespinst ist. Nur wenige Aktionen kann er
durchführen wie wenige Tage zuvor die Ermordung des Oberbürgermeisters
von Aachen.
Unterdessen stehen die Alliierten unmittelbar vor der Einnahme des
Ruhrgebiets. Die 1. und 9. US-Armee vereinigen sich bei Lippstadt,
nachdem sie von Remagen im Süden und von Wesel im Norden vorgestoßen
sind. Die Amerikaner schließen 325.000 Soldaten der Heeresgruppe B im
Ruhrkessel ein. Damit sind Feldmarschall Model und seine Truppen vom
Reich abgeschnitten, aber auch fünf Millionen Zivilisten,
Kriegsgefangene und Sklavenarbeiter.
Die Deutschen werden Stunde um Stunde immer dichter zusammengedrängt.
Längst ist der Widerstand im Umland, vom Sauerland bis zum Teutoburger
Wald, erloschen. Im Kern des Ruhrgebiets stehen die Deutschen vor einem
aussichtslosen Kampf.
Zu Hunderttausenden gingen
deutsche Soldaten im April 1945 in Kriegsgefangenschaft.
2. April 1945
Im größten Kriegsgefangenenlager der Region, Stukenbrock zwischen
Paderborn und Bielefeld, übernehmen die Insassen das Kommando, nachdem
ihre deutschen Bewacher vor den anrückenden Alliierten die Flucht
ergriffen haben.
Die Nachricht vom Einschluss an der Ruhr ruft Berlin auf den Plan.
Reichsleiter Martin Bormann, Chef der Parteikanzlei, lässt bekannt
geben: „Wer nicht bis zum letzten Atemzuge kämpft, wird als
Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt.“
Ausgerechnet Himmler, der Reichsführer-SS, trifft sich am selben Tag
erneut mit dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf
Folke Bernadotte, zu konspirativen Verhandlungen hinter dem Rücken
seines „Führers“. Himmler, so äußert sich Bernadotte in einem Bericht,
habe eingesehen, dass der Krieg verloren sei. Auf seinen, Bernadottes,
Hinweis, die Kapitulation sei nun der „beste Weg“, habe Himmler
geantwortet, Hitler sei dagegen, und er, Himmler, fühle sich an seinen
Eid auf den „Führer“ gebunden.
Bei dieser Begegnung will Himmler, den die Alliierten als Massenmörder
ganz vorne auf der Kriegsverbrecherliste führen, erneut seine Rolle
kleinreden. Er werde im Ausland zu Unrecht als brutaler Mensch gesehen.
In Wirklichkeit verabscheue er Grausamkeiten. Bernadotte, der ihm kein
Wort glaubt, sucht nach Möglichkeiten, den Krieg zu beenden, und wartet
die folgenden Tage ab, ob sich Himmler, wie von ihm sehr vage
angedeutet, tatsächlich dazu entschließt, die Macht an sich zu reißen
und dem Hitler-Regime ein Ende zu bereiten. Himmlers doppeltes Spiel
wird schon am folgenden Tag durchsichtig.
3. April 1945
Der Reichsführer-SS befiehlt am 3. April die Erschießung aller
männlichen Bewohner der Häuser, an denen weiße Kapitulationsflaggen
gehisst werden. Sein „Flaggenbefehl“ steht im krassen Widerspruch zu
seinen Versuchen, sich bei dem schwedischen Rot-Kreuz-Repräsentanten
einzuschleimen, um seine eigene Haut zu retten. „Im jetzigen Zeitpunkt
des Krieges“, heißt es in Himmlers Befehl, „kommt es einzig und allein
auf den sturen unnachgiebigen Willen an zum Durchhalten.“
Die Alliierten bombardieren weitere Revierstädte. Nach einem
Fliegerangriff auf Holzminden am 3. April ist unter den Toten auch Jakob
Willems (* 1912) aus Kevelaer, Sohn von Heinrich und Hendrina Willems,
der ins väterliche Baugeschäft einsteigen wollte. Nach Einsätzen an der
Ostfront kam er 1942 schwer verwundet zurück und wurde 1943 als
dienstunfähig aus der Wehrmacht entlassen. Der schwerbeschädigte Jakob
Willems setzte sein Studium an der Staatsbauschule Holzminden fort. Er
steht jetzt kurz vor dem Examen und ist die Hoffnung seiner Eltern, die
bereits zwei Söhne im Krieg verloren haben. Jakob Willems wird in
Holzminden zum Friedhof getragen, begleitet von einem Priester und
Kommilitonen. Seine Eltern können an der Beerdigung nicht teilnehmen.
4. April 1945
Olpe wird bombardiert. Feldmarschall Model muss seinen Gefechtsstand
nach Rhode verlegen.
Bielefeld wird von den West-Alliierten eingenommen.
Am selben Tag ist ganz Ungarn in der Hand der Roten Armee.
5. April 1945
Aus dem KZ Dachau wird Häftling Nr. 41.408 entlassen. Es ist
Josef Helmus,
Sohn eines Schuhmachers in Wetten, 1911 zum Priester geweiht und bis zur
Entlassung Häftling wie Karl Leisner im Pfarrerblock des
Konzentrationslagers Dachau.
Josef Helmus aus Wetten.
Er war Pfarrer in Walsum und stand schon
1935 im Visier der Gestapo, weil er Hirtenbriefe des Bischofs von
Münster, Clemens August von Galen, nicht nur verlas, sondern auch als
Anklage gegen das Regime interpretierte. Seine späteren Predigten in St.
Joseph Gladbeck waren in der schweren Zeit für viele eine Stütze.
1942 wurde der Geistliche wegen „Aufrufs zur Arbeitssabotage“ und
„Kritik an Maßnahmen der Regierung zur Ernährung des Volkes“ angeklagt
und ins KZ Dachau eingeliefert. Hier unterlief Josef Helmus die
Lagerordnung und half damit den Schwachen. Der gebürtige Wettener
überstand die KZ-Zeit relativ unbeschadet und kehrte später nach St.
Joseph in Gladbeck zurück. Er starb 1966.
Am 5. April, als die Deutschen Josef Helmus aus dem KZ entlassen - auf
die Befreiung durch die Amerikaner müssen die Dachauer Lagerinsassen
noch drei Wochen warten -, schicken die Alliierten die internierten
Zivilisten aus dem Lager von Bedburg-Hau in ihre Heimatdörfer zurück.
Auch die zwangsevakuierten Bewohner von Kervenheim dürfen heimkehren.
Pfarrer
Nellis
notiert: „Die Kirche ist inzwischen ganz aufgeräumt und der Gottesdienst
ist wieder regelmäßig an den Sonntagen und Werktagen.“ Der Wiederaufbau
gehe nur „sehr langsam voran“. Überall fehle es an Material. „Förderung
war von der Besatzung nicht zu erhalten, vielmehr wurde immer der
Hemmschuh angelegt.“
6. April 1945
Alle Fronten brechen zusammen. Nach Aufgabe von Sarajewo zieht sich die
deutsche Heeresgruppe E aus Kroatien bis zur Südgrenze Österreichs
zurück.
Der kurze Kampf um Dortmund wird von Castrop-Rauxel aus begonnen. Am
Bahnhof in Mengede tauchen die ersten alliierten Panzer auf. Artillerie
nimmt den Nordwesten Dortmunds, den Hafen und Teile der Innenstadt unter
Beschuss.
7. April 1945
Die ersten US-Truppen dringen auf Dortmunder Stadtgebiet vor.
Volkssturm-Einheiten leisten nur schwachen Widerstand. In wenigen Tagen
ist die gesamte Innenstadt besetzt.
Duisburg
steht vor der Einnahme durch die Amerikaner. Der Stadtkommandant
verdrückt sich am 7. April und überlässt die Stadt ohne deutsche
Befehlsstelle sich selbst.
Nach dem Luftangriff auf
Hagen (15.3.): 400 Menschen starben in diesem Bunker.
Foto aus: Helmut Euler, Entscheidung an Rhein und Ruhr, S. 137
Walter Model, Kommandant der im Ruhrgebiet eingeschlossenen Heeresgruppe
B, gibt am selben Tag einen schrecklichen Befehl. Er ordnet an, alle
gefangenen politischen Häftlinge in seinem Einflussbereich
„sicherheitspolizeilich“ zu überprüfen.
Das ist nichts anderes als der Befehl zur Ermordung vieler Menschen,
unmittelbar bevor sie befreit werden könnten.
In Krefeld, das bereits unter Militärverwaltung der Amerikaner steht,
werden erste Richtlinien veröffentlicht, wie mit „nationalsozialistisch
belasteten“ Mitarbeitern der Rathäuser zu verfahren ist. Wer „belastet“
ist, wird aus dem Amt entfernt und gegebenenfalls vor Gericht gestellt.
9. April 1945
Den Deutschen droht auch in Italien die Niederlage, als am 9. April die
alliierte Offensive beginnt.
In Königsberg kapituliert die Wehrmacht vor der Roten Armee, die seit
dem 12. Januar die deutschen Truppen vor sich hertreibt. Sie sind ohne
Chance gegen die sowjetische Übermacht, weil Hitler alle Reserven aus
dem Osten für die sinnlose und verlorene Schlacht in den Ardennen
abgezogen hat.
Die Entblößung der Ostfront hat dort den Zusammenbruch der deutschen
Verteidigung so rasant beschleunigt, dass viele Flüchtlingstrecks von
der Roten Armee überrollt worden sind. Nachdem die Sowjets das Frische
Haff bei Elbing erreicht haben, ist Ostpreußen abgeschnürt. Die 4. Armee
der Wehrmacht ist seit dem 29. März restlos aufgerieben. Das bereits im
Januar eingeschlossene Königsberg muss nun endgültig aufgegeben werden.
Unter größtem Zeitdruck versucht die deutsche Kriegsmarine unterdessen,
so viele Menschen wie möglich über die Ostsee in den Westen zu bringen.
Für Millionen kommt die Hilfe zu spät. Niemand kennt genauere Zahlen,
wie viele der Opfer verschleppt, vergewaltigt oder getötet worden sind.
Der Terror, den die Deutschen, auch Soldaten der Wehrmacht und vor allem
Angehörige der SS, ins Land gebracht haben, schlägt nun mit aller Härte
zurück.
Am 9. April wird in einer Jagdhütte bei Hirschberg in Westfalen Franz
von Papen (65) verhaftet. Damit fällt den Alliierten der erste
hochrangige „Nazi-Deutsche“ in die Hände. Der Vizekanzler unter Hitler
und selbst Reichskanzler vor dem Diktator, wird später vor dem
Nürnberger Tribunal freigesprochen.
Am Tag der Verhaftung des Vizekanzlers töten die Nazis die letzten
Widerständler, die in KZs auf das Ende gewartet haben.
Johann Georg
Elser, der Attentäter von 1939, wird im KZ Dachau ermordet, im KZ
Flossenbürg werden Admiral Wilhelm Franz Canaris, General Hans Paul
Oster und der Jurist Karl Sack umgebracht, außerdem Dietrich Bonhoeffer,
der lutherische Theologe und eine der Lichtgestalten der Bekennenden
Kirche. Die Bekennende Kirche hat mit Bonhoeffer ein Gesicht bekommen.
Erbärmlich ist dagegen das Versagen der „offiziellen“ protestantischen
Kirche Deutschlands in der NS-Zeit.
Dass auch die katholische Kirche, besonders gegenüber der Judenheit,
beschämend versagt hat, indem ihre einflussreichen Vertreter den zur
Ausrottung bestimmten Mitmenschen nicht offen zur Seite gestanden haben,
ist leider wahr. Allzu viele, die ihre Stimme hätten erheben können,
haben kein Gottvertrauen gehabt und sich stattdessen hinter taktischen
Überlegungen („Um Schlimmeres zu verhindern“) versteckt.