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Kapitel 18

1. April 1945

Es ist Ostersonntag, und in Kevelaer feiern die Heimkehrer Christi Auferstehung. Die frohe Botschaft, die in den dunklen Jahren nicht verschüttet gewesen ist und vielen Gläubigen Halt gegeben hat, wird in einer Radiosendung bösartig gestört: „Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei!“ lautet die Proklamation an das deutsche Volk.

Mit diesem Aufruf tritt der Radiosender der Organisation „Werwolf“ zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Der „Zusammenschluss der nationalsozialistischen Freiheitskämpfer“, Werwolf genannt, wird vor allem von Goebbels mit Propagandareden versorgt. „Jedes Mittel ist recht, um dem Feind Schaden zuzufügen.“ Der „Werwolf“ habe seine „eigene Gerichtsbarkeit, die über Leben und Tod des Feindes, wie der Verräter an unserem Volke, entscheidet.“

Die Alliierten werden durch das Auftreten der Partisanengruppe alarmiert. Sie organisieren scharfe Abwehrmaßnahmen. Erst nach dem Zusammenbruch erfahren sie, dass der „Werwolf“ kaum mehr als ein propagandistisches Hirngespinst ist. Nur wenige Aktionen kann er durchführen wie wenige Tage zuvor die Ermordung des Oberbürgermeisters von Aachen.

Unterdessen stehen die Alliierten unmittelbar vor der Einnahme des Ruhrgebiets. Die 1. und 9. US-Armee vereinigen sich bei Lippstadt, nachdem sie von Remagen im Süden und von Wesel im Norden vorgestoßen sind. Die Amerikaner schließen 325.000 Soldaten der Heeresgruppe B im Ruhrkessel ein. Damit sind Feldmarschall Model und seine Truppen vom Reich abgeschnitten, aber auch fünf Millionen Zivilisten, Kriegsgefangene und Sklavenarbeiter.

Die Deutschen werden Stunde um Stunde immer dichter zusammengedrängt. Längst ist der Widerstand im Umland, vom Sauerland bis zum Teutoburger Wald, erloschen. Im Kern des Ruhrgebiets stehen die Deutschen vor einem aussichtslosen Kampf.

Kriegsgefangene
Zu Hunderttausenden gingen deutsche Soldaten im April 1945 in Kriegsgefangenschaft.

2. April 1945

Im größten Kriegsgefangenenlager der Region, Stukenbrock zwischen Paderborn und Bielefeld, übernehmen die Insassen das Kommando, nachdem ihre deutschen Bewacher vor den anrückenden Alliierten die Flucht ergriffen haben.

Die Nachricht vom Einschluss an der Ruhr ruft Berlin auf den Plan. Reichsleiter Martin Bormann, Chef der Parteikanzlei, lässt bekannt geben: „Wer nicht bis zum letzten Atemzuge kämpft, wird als Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt.“

Ausgerechnet Himmler, der Reichsführer-SS, trifft sich am selben Tag erneut mit dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, zu konspirativen Verhandlungen hinter dem Rücken seines „Führers“. Himmler, so äußert sich Bernadotte in einem Bericht, habe eingesehen, dass der Krieg verloren sei. Auf seinen, Bernadottes, Hinweis, die Kapitulation sei nun der „beste Weg“, habe Himmler geantwortet, Hitler sei dagegen, und er, Himmler, fühle sich an seinen Eid auf den „Führer“ gebunden.

Bei dieser Begegnung will Himmler, den die Alliierten als Massenmörder ganz vorne auf der Kriegsverbrecherliste führen, erneut seine Rolle kleinreden. Er werde im Ausland zu Unrecht als brutaler Mensch gesehen. In Wirklichkeit verabscheue er Grausamkeiten. Bernadotte, der ihm kein Wort glaubt, sucht nach Möglichkeiten, den Krieg zu beenden, und wartet die folgenden Tage ab, ob sich Himmler, wie von ihm sehr vage angedeutet, tatsächlich dazu entschließt, die Macht an sich zu reißen und dem Hitler-Regime ein Ende zu bereiten. Himmlers doppeltes Spiel wird schon am folgenden Tag durchsichtig.

3. April 1945

Der Reichsführer-SS befiehlt am 3. April die Erschießung aller männlichen Bewohner der Häuser, an denen weiße Kapitulationsflaggen gehisst werden. Sein „Flaggenbefehl“ steht im krassen Widerspruch zu seinen Versuchen, sich bei dem schwedischen Rot-Kreuz-Repräsentanten einzuschleimen, um seine eigene Haut zu retten. „Im jetzigen Zeitpunkt des Krieges“, heißt es in Himmlers Befehl, „kommt es einzig und allein auf den sturen unnachgiebigen Willen an zum Durchhalten.“

Die Alliierten bombardieren weitere Revierstädte. Nach einem Fliegerangriff auf Holzminden am 3. April ist unter den Toten auch Jakob Willems (* 1912) aus Kevelaer, Sohn von Heinrich und Hendrina Willems, der ins väterliche Baugeschäft einsteigen wollte. Nach Einsätzen an der Ostfront kam er 1942 schwer verwundet zurück und wurde 1943 als dienstunfähig aus der Wehrmacht entlassen. Der schwerbeschädigte Jakob Willems setzte sein Studium an der Staatsbauschule Holzminden fort. Er steht jetzt kurz vor dem Examen und ist die Hoffnung seiner Eltern, die bereits zwei Söhne im Krieg verloren haben. Jakob Willems wird in Holzminden zum Friedhof getragen, begleitet von einem Priester und Kommilitonen. Seine Eltern können an der Beerdigung nicht teilnehmen.

4. April 1945

Olpe wird bombardiert. Feldmarschall Model muss seinen Gefechtsstand nach Rhode verlegen.

Bielefeld wird von den West-Alliierten eingenommen.

Am selben Tag ist ganz Ungarn in der Hand der Roten Armee.

5. April 1945

Josef HelmusAus dem KZ Dachau wird Häftling Nr. 41.408 entlassen. Es ist Josef Helmus, Sohn eines Schuhmachers in Wetten, 1911 zum Priester geweiht und bis zur Entlassung Häftling wie Karl Leisner im Pfarrerblock des Konzentrationslagers Dachau.

Josef Helmus aus Wetten.

Er war Pfarrer in Walsum und stand schon 1935 im Visier der Gestapo, weil er Hirtenbriefe des Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, nicht nur verlas, sondern auch als Anklage gegen das Regime interpretierte. Seine späteren Predigten in St. Joseph Gladbeck waren in der schweren Zeit für viele eine Stütze.

1942 wurde der Geistliche wegen „Aufrufs zur Arbeitssabotage“ und „Kritik an Maßnahmen der Regierung zur Ernährung des Volkes“ angeklagt und ins KZ Dachau eingeliefert. Hier unterlief Josef Helmus die Lagerordnung und half damit den Schwachen. Der gebürtige Wettener überstand die KZ-Zeit relativ unbeschadet und kehrte später nach St. Joseph in Gladbeck zurück. Er starb 1966.

Am 5. April, als die Deutschen Josef Helmus aus dem KZ entlassen - auf die Befreiung durch die Amerikaner müssen die Dachauer Lagerinsassen noch drei Wochen warten -, schicken die Alliierten die internierten Zivilisten aus dem Lager von Bedburg-Hau in ihre Heimatdörfer zurück. Auch die zwangsevakuierten Bewohner von Kervenheim dürfen heimkehren. Pfarrer Nellis notiert: „Die Kirche ist inzwischen ganz aufgeräumt und der Gottesdienst ist wieder regelmäßig an den Sonntagen und Werktagen.“ Der Wiederaufbau gehe nur „sehr langsam voran“. Überall fehle es an Material. „Förderung war von der Besatzung nicht zu erhalten, vielmehr wurde immer der Hemmschuh angelegt.“

6. April 1945

Alle Fronten brechen zusammen. Nach Aufgabe von Sarajewo zieht sich die deutsche Heeresgruppe E aus Kroatien bis zur Südgrenze Österreichs zurück.

Der kurze Kampf um Dortmund wird von Castrop-Rauxel aus begonnen. Am Bahnhof in Mengede tauchen die ersten alliierten Panzer auf. Artillerie nimmt den Nordwesten Dortmunds, den Hafen und Teile der Innenstadt unter Beschuss.

7. April 1945

Die ersten US-Truppen dringen auf Dortmunder Stadtgebiet vor. Volkssturm-Einheiten leisten nur schwachen Widerstand. In wenigen Tagen ist die gesamte Innenstadt besetzt.

Duisburg steht vor der Einnahme durch die Amerikaner. Der Stadtkommandant verdrückt sich am 7. April und überlässt die Stadt ohne deutsche Befehlsstelle sich selbst.

Nach dem Luftangriff auf Hagen (15.3.): 400 Menschen starben in diesem Bunker.
Foto aus: Helmut Euler, Entscheidung an Rhein und Ruhr, S. 137


Walter Model, Kommandant der im Ruhrgebiet eingeschlossenen Heeresgruppe B, gibt am selben Tag einen schrecklichen Befehl. Er ordnet an, alle gefangenen politischen Häftlinge in seinem Einflussbereich „sicherheitspolizeilich“ zu überprüfen.

Das ist nichts anderes als der Befehl zur Ermordung vieler Menschen, unmittelbar bevor sie befreit werden könnten.

In Krefeld, das bereits unter Militärverwaltung der Amerikaner steht, werden erste Richtlinien veröffentlicht, wie mit „nationalsozialistisch belasteten“ Mitarbeitern der Rathäuser zu verfahren ist. Wer „belastet“ ist, wird aus dem Amt entfernt und gegebenenfalls vor Gericht gestellt.

9. April 1945

Den Deutschen droht auch in Italien die Niederlage, als am 9. April die alliierte Offensive beginnt.

In Königsberg kapituliert die Wehrmacht vor der Roten Armee, die seit dem 12. Januar die deutschen Truppen vor sich hertreibt. Sie sind ohne Chance gegen die sowjetische Übermacht, weil Hitler alle Reserven aus dem Osten für die sinnlose und verlorene Schlacht in den Ardennen abgezogen hat.

Die Entblößung der Ostfront hat dort den Zusammenbruch der deutschen Verteidigung so rasant beschleunigt, dass viele Flüchtlingstrecks von der Roten Armee überrollt worden sind. Nachdem die Sowjets das Frische Haff bei Elbing erreicht haben, ist Ostpreußen abgeschnürt. Die 4. Armee der Wehrmacht ist seit dem 29. März restlos aufgerieben. Das bereits im Januar eingeschlossene Königsberg muss nun endgültig aufgegeben werden.

Unter größtem Zeitdruck versucht die deutsche Kriegsmarine unterdessen, so viele Menschen wie möglich über die Ostsee in den Westen zu bringen. Für Millionen kommt die Hilfe zu spät. Niemand kennt genauere Zahlen, wie viele der Opfer verschleppt, vergewaltigt oder getötet worden sind. Der Terror, den die Deutschen, auch Soldaten der Wehrmacht und vor allem Angehörige der SS, ins Land gebracht haben, schlägt nun mit aller Härte zurück.

Am 9. April wird in einer Jagdhütte bei Hirschberg in Westfalen Franz von Papen (65) verhaftet. Damit fällt den Alliierten der erste hochrangige „Nazi-Deutsche“ in die Hände. Der Vizekanzler unter Hitler und selbst Reichskanzler vor dem Diktator, wird später vor dem Nürnberger Tribunal freigesprochen.

Am Tag der Verhaftung des Vizekanzlers töten die Nazis die letzten Widerständler, die in KZs auf das Ende gewartet haben. Johann Georg Elser, der Attentäter von 1939, wird im KZ Dachau ermordet, im KZ Flossenbürg werden Admiral Wilhelm Franz Canaris, General Hans Paul Oster und der Jurist Karl Sack umgebracht, außerdem Dietrich Bonhoeffer, der lutherische Theologe und eine der Lichtgestalten der Bekennenden Kirche. Die Bekennende Kirche hat mit Bonhoeffer ein Gesicht bekommen. Erbärmlich ist dagegen das Versagen der „offiziellen“ protestantischen Kirche Deutschlands in der NS-Zeit.

Dass auch die katholische Kirche, besonders gegenüber der Judenheit, beschämend versagt hat, indem ihre einflussreichen Vertreter den zur Ausrottung bestimmten Mitmenschen nicht offen zur Seite gestanden haben, ist leider wahr. Allzu viele, die ihre Stimme hätten erheben können, haben kein Gottvertrauen gehabt und sich stattdessen hinter taktischen Überlegungen („Um Schlimmeres zu verhindern“) versteckt.

Kapitel 18

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© Martin Willing 2012, 2013